Wie umgehen mit Chemnitz und Deutschland?

von Karl Müller (zeit-fragen)

Ist Chemnitz ein Menetekel? Dafür, dass in Deutschland (zumindest in Ostdeutschland) der Faschismus droht? Oder dafür, dass eine Faschismusgefahr inszeniert werden soll? Oder dafür, dass von den tatsächlichen Problemen immer wieder abgelenkt werden soll? …
Man kann viele Fragen anschliessen … und derzeit empfiehlt es sich wohl auch, mehr Fragen zu stellen als Antworten zu geben. Selbst Offizielle wie die Bundeskanzlerin und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben gegensätzlich Stellung genommen.
Das Tötungsdelikt in Chemnitz liegt zwei Wochen zurück, es hat zwei Verhaftungen gegeben, ein dritter Tatverdächtiger wird gesucht. Es hat Demonstrationen und Gegendemonstrationen gegeben. Viele Menschen wurden mobilisiert. Jeden Tag nehmen zahlreiche Personen mit Rang und Namen Stellung, das Thema füllt die Schlagzeilen. Die Gemengelage ist komplex.
Chemnitz ist kein Einzelfall. Schon mehrfach hat es Demonstrationen und Kundgebungen gegeben, nachdem ein Mensch durch Täter mit Migrationshintergrund, durch Asylbewerber getötet worden war – in Ost- und in Westdeutschland. Seit dem Sommer 2015 ist die Stimmung in ganz Deutschland sehr angespannt. Nun wird behauptet, die neuerlichen Proteste seien rechtsextrem gesteuert worden.

Was die Menschen vermissen

Was hingegen viele Menschen vermissen: angemessene Schritte und Beiträge aus Politik und Medien zur Befriedung des Landes und zu Lösung der realen Probleme. Die ersten öffentlichen Reaktionen nach den Ereignissen in Chemnitz haben die Sache nicht besser gemacht. Behauptet wurde, Tausende Rechtsextremisten aus ganz Deutschland seien in Chemnitz aufgetreten, Chemnitz und Sachsen seien ein Hort des deutschen Rechtsextremismus, die sächsische Polizei habe erneut versagt und so weiter und so fort. Dass ein Mensch getötet wurde und zwei Menschen verletzt wurden, schien fast kein Thema mehr zu sein. Öffentliche Worte des Mitgefühls und der Anteilnahme mit den Opfern und ihren Angehörigen waren kaum zu hören oder zu lesen.
Seitdem hat es Differenzierungen gegeben. Das war gut so.
Aber warum hat es erneut kaum einer zum Thema gemacht, dass sehr vieles nicht in Ordnung ist in Deutschland, verstärkt seit dem Sommer 2015. Auch das war nur eine Etappe auf einem viel umfassenderen deutschen Weg hinein in eine fragwürdige Entwicklung, die jetzt schon fast 30 Jahre andauert.

Was ist aus dem Rechtsstaat geworden?

Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass die Äusserungen und Taten der verantwortlichen Politiker, die Berichte und Kommentare vieler Medien nur wenig mit ihren persönlichen Erlebnissen zu tun haben. Einige werden auch Bücher gelesen haben: zur Frage des Rechtsstaates zum Beispiel das der Polizistin Tania Kambouri («Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin») oder das des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa («Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm») oder das erst vor ein paar Wochen erschienene Buch des ehemaligen Polizisten Stefan Schubert («Die Destabilisierung Deutschlands. Der Verlust der inneren und äusseren Sicherheit»). Deutschland und die deutsche Politik haben sich in wichtigen Bereichen von dem entfernt, was man in Schule und Studium über einen Rechtsstaat gelernt hat, aber auch entfernt von einer freiheitlichen Demokratie. Damit umzugehen ist gar nicht so einfach. Den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Lösung. Unrecht nicht mit Unrecht zu bekämpfen, konsequent für den Rechtsstaat einzustehen, freiheitlich und demokratisch zu bleiben, Recht und Gesetz zu achten – aber auch davon sollte niemand abrücken.

Weitere Aushöhlung der Souveränität …

Warum Politik und Medien immer wieder so unangemessen reagieren, darüber muss man nachdenken. Sind es vorschnelle Reaktionen, «aus der Hüfte» geschossen? Ist es ideologische Verblendung? Ist es konsequente Ignoranz gegenüber den Tatsachen? Oder sind politische Pläne damit verbunden? Es wird unterschiedlich sein, auch Mischungen wird es geben. Zu lesen ist, dass Vorgänge wie in Chemnitz dazu dienen sollen, den Einsatz der Bundeswehr und damit der Nato im Inneren Deutschlands vorzubereiten.1 Das würde nicht nur zu einer weiteren Schwächung föderaler Strukturen und Handlungsmöglichkeiten, sondern auch zu einer weiteren Schwächung staatlicher Souveränität führen.
Aber so wird sich Deutschland nicht befrieden lassen.

… statt Recht auf Heimat

Darf man nur ausserhalb Deutschlands schreiben, dass die Menschen, auch die Deutschen, ein Recht auf Heimat haben?
So wie die folgenden Zeilen aus dem Feuilleton einer grossen Schweizer Tageszeitung vom 3. September 2018:
«Die Ostdeutschen lernten erstaunt, dass westdeutsche Eliten gar nicht so liberal waren, wie sie zu sein vorgaben. Ihnen zeigte sich wieder das hässliche Gesicht des Klassenkampfes. Der Kritiker, der Andersdenkende war plötzlich der Klassenfeind. Dass eine realistische Problemanalyse mit einem apodiktischen ‹Wir schaffen das› obsolet gemacht wurde, dass eine Regierung angesichts der tiefgreifenden Veränderung keine Antworten bietet, wird in ganz Deutschland zu heftigen Auseinandersetzungen wie jüngst in Chemnitz führen. […] Die Probleme liegen tief, und sie müssten zum Gegenstand des demokratischen Diskurses werden, will man eine Radikalisierung vermeiden. Die Bürger spüren, dass sie das, was für sie Herkunft, Heimat, Identität ist, verlieren. Sie erkennen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen sie keiner gefragt hat, ob sie das wollen.»    •

1    So Willy Wimmer in «Droht wieder ein ‹sächsischer Oktober› und kommt nach der Reichswehr jetzt die Bundeswehr zum Einsatz?» vom 1. September 2018; https://www.world-economy.eu/pro-contra/details/article/droht-wieder-ein-saechsischer-oktober-und-kommt-nach-der-reichswehr-jetzt-die-bundeswehr-zum-einsa/

Ceterum censeo: Direkte Demokratie kann ein Land befrieden helfen

km. Deutschland leidet unter einer Entfremdung zwischen einem grossen Teil seiner Bevölkerung und den in einer repräsentativen Demokratie politisch Verantwortlichen in Parlament und Regierung. Selbst bei manchem Gerichtsurteil fragt sich der Bürger, ob dies wirklich Recht ist und «Im Namen des Volkes» erging.
Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist der berechtigte Eindruck, als Bürger nur wenig unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen zu haben. Obwohl Artikel 20, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes vorgibt, dass die Staatsgewalt des Volkes auch durch «Abstimmungen» ausgeübt wird, wurde dieses grundsätzliche demokratische Recht den Deutschen auf Bundesebene bislang verwehrt. Die Gründe, die hierfür bis heute genannt werden, können allesamt nicht überzeugen. Manche Argumente könnten gut bei der konkreten Gestaltung direktdemokratischer Rechte berücksichtigt werden, zum Beispiel die Verpflichtung der Medien und staatlicher Publikationen, beide Seiten einer Abstimmung ausreichend zu Wort kommen zu lassen. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, wenn Parteiorganisationen auf die Initiative für eine direktdemokratische Entscheidung verzichten.
Die Schweiz hat seit 1848, seit der Gründung des Bundesstaates, gezeigt, wie es gelingen kann, eine direkte Demokratie auf Bundesebene Schritt für Schritt zu verwirklichen und somit ganz wesentlich zum sozialen Frieden beizutragen. Denn jeder Schweizer weiss, dass er, wenn er mit einem Gesetz nicht einverstanden ist und dieses Gesetz verhindern will (Referendum) oder wenn er die Verfassung verändern möchte (Volksinitiative), Rechte hat, um dies in die Wege zu leiten.
Die Schweizer direkte Demokratie garantiert ihrem Volk nicht nur seine Volksrechte. Es wäre auch ein Irrtum zu glauben, dass sich diese Volksrechte gegen Parlament und Regierung richten. Im Gegenteil: Die direkte Demokratie der Schweiz hat zu einem intensiveren Kontakt und Austausch zwischen Volk und Politikern geführt und die Politiker in die Pflicht genommen, nicht über das Volk hinwegzugehen.
Initiativen zur Einführung von Gesetzes-Referenden und Verfassungsinitiativen, sogar auch zu Gesetzesinitiativen gibt es auch in Deutschland seit vielen Jahren. 2002 stand ein entsprechender Vorschlag im Deutschen Bundestag sogar zur Abstimmung und erreichte auch eine klare, aber leider nicht die notwendige verfassungsändernde Mehrheit. Seitdem werden ähnliche Initiativen von den Parteien blockiert, die die Mehrheit im Bundestag haben.
Am Sinn und an der Notwendigkeit direkter Demokratie auf Bundesebene hat sich aber nichts geändert. Gerade heute könnte sie ein wesentlicher Beitrag sein, Deutschland zu befrieden und dem Land zum Fortschritt zu verhelfen.

Was Angela Merkel und Hans-Georg Maassen wörtlich sagten

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in einer Pressekonferenz am 29.8.2018: «Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Strasse gab. Das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.»
Quelle: www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2018/08/2018-08-29-gewalt-in-chemnitz.html
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maassen in einem Interview mit «Bild» vom 6.9.2018: «Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz werden von mir geteilt. Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben […]. Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist. […] Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.»

Quelle: https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/verfassungsschutz-chef-maassen-keine-information-ueber-hetzjagden-57111216,jsRedirectFrom=conversionToLogin.bild.html

Maassen bekräftigt: Kein Beleg für Hetzjagden

Bei einem Treffen mit Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) und anderen Vertretern des Ministeriums am Samstag bekräftigte Maassen seine Position.
Maassen argumentierte, dass niemand die Authentizität des Videos bestätigen könne, berichtet die Bild am Sonntag. Seinen Worten zufolge hätten die sächsische Polizei, die Bundespolizei und der Verfassungsschutz allesamt keine Hinweise auf Hetzjagden.
Dabei bekräftigte der Verfassungsschutz-Chef laut Teilnehmern seine Zweifel, dass ein im Internet veröffentlichtes Video ein Beweis für die vielfach behauptete These sei, in Chemnitz habe es «Hetzjagden» gegeben. Seine Zweifel begründete Maassen unter anderem mit der unklaren Herkunft des Videos. So gebe es keinerlei Informationen über die Organisation «Antifa Zeckenbiss», die das Video mit dem Hinweis auf «Menschenjagd» veröffentlicht hatte.

Quelle: https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/maassen-bliebt-dabei-kein-beleg-fuer-hetzjagden-in-chemnitz-57146950.bild.html vom 9.9.2018

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