Was fällt ihnen ein

Alte und neue Rechtfertigungsversuche für die US-EU-Hegemonie

von Karl Müller (zeit-fragen)

In einem 1999 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch des US-amerikanischen Publizisten und Kolumnisten der «New York Times», Thomas L. Friedman («Globalisierung verstehen. Zwischen Marktplatz und Weltmarkt»), gibt es ein Kapitel mit der Überschrift «Die Geopolitik der Globalisierung». Dort ist zu lesen, «wie wichtig die USA in dieser Ära der Globalisierung für die Welt sind». Der «grösste Teil der Welt» habe «begriffen, dass die Welt ohne starke Vereinigte Staaten sehr viel weniger stabil wäre». Eine «nachhaltige Globalisierung» erfordere eine «stabile Machtstruktur», und kein Land spiele dabei «eine wichtigere Rolle als die USA». Diese «Stabilität» beruhe auch «auf der Macht der USA und ihrer Bereitschaft, sie gegen jene einzusetzen, die das globalisierte System bedrohen – vom Irak bis Nordkorea»: «Die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, dass die Technologie des Silicon Valley blüht, besteht aus dem Heer, der Luftwaffe, der Marine und den Marineinfanteristen der Vereinigten Staaten.» Und: «Ohne eine aktive Aussen- und Verteidigungspolitik der USA kann das globalisierte System nicht aufrechterhalten werden.»

Von Friedman über Snowdens Entsetzen …

Im 2016 gedrehten Film von Oliver Stone über Edward Snowden gibt es eine bezeichnende Szene. Snowden war zu einem Treffen mit hochrangigen US-amerikanischen Geheimdienstmitarbeitern eingeladen. Er trägt einem dieser Geheimdienstleute die Frage vor, warum überall auf der Welt Abermillionen von Menschen ausspioniert würden und all dies verdeckt getan werde. Er erhält die Antwort, dies alles diene nur einem Zweck: die Welt sicherer zu machen und Kriege zu verhindern. Dafür benötige die Welt die USA und ihre Geheimdienste.

… bis hin zu Robert Kagan

Robert Kagan, neokonservativer Vordenker aus den USA, Ehemann von Victoria Nuland (mitverantwortlich für den Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014) und Mitglied des Council on Foreign Relations, hat im Aprilheft 2019 der vom Council herausgegebenen Zeitschrift Foreign Affairs einen Artikel über Deutschland, EU-Europa und die USA veröffentlicht. Der Titel: «The New German Question. What Happens When Europe Comes Apart?» («Die neue deutsche Frage. Was passiert, wenn Europa vom Weg abkommt?»). Die Argumentationslinie ist folgende: Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 habe in der Mitte Europas einen zu mächtigen Unruheherd entstehen lassen, der Europa und die Welt in zwei Weltkriege gestürzt habe. Nach 1945 sei es zwar gelungen, diesen Unruheherd ruhig zu stellen – dank der US-amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa und der US-amerikanischen Europapolitik, dank des US-geführten internationalen Freihandelssystems, dank einer von den USA ausgehenden demokratischen Welle in Europa und nicht zuletzt: dank der Bekämpfung des europäischen Nationalismus durch die USA, die EU und ihre Vorgängerorganisationen. Aber all dies sei heute nicht mehr gewährleistet und gebe zu grosser Sorge Anlass – auch beim Blick auf das künftige Deutschland.

Rechtfertigungsversuche für die US-Hegemonie …

Man könnte diesen drei sich über 20 Jahre erstreckenden Rechtfertigungsversuchen für die US-Hegemonie in der Welt sowie für die Machtausdehnung der EU und ihrer Vorgängerorganisationen in Europa viele weitere hinzufügen. Ihnen allen gemein ist, dass sie einer Überprüfung nicht standhalten – auch wenn sie bis heute aufrechterhalten werden.





… und für die EU

Vom 23. bis zum 26. Mai werden in den Staaten der Europäischen Union die Abgeordneten des EU-«Parlaments» für die kommenden 5 Jahre gewählt. Der Wahlkampf ist voll entbrannt. Argumente für diese Wahlen, für die Tätigkeit dieses EU-Organs – tatsächlich ist es kein Parlament, weil wesentliche Voraussetzungen dafür fehlen – und auch für die EU insgesamt sind offensichtlich sehr dünn. So flüchten sich die Wahlkämpfer in Schreckgespinste und Geschichtsklitterungen. Mit dabei sind die «Verbündeten» aus den USA, die seit 1945 ein handfestes Interesse an der Schwächung souveräner europäischer Nationalstaaten haben und das erzwingen wollen, was sie beschönigend «Globalisierung» nennen. Sie fürchten nicht den «Nationalismus» – auch der wird inszeniert und instrumentalisiert, wenn er «nützlich» erscheint –, sondern die freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Verfassungsgrundlagen souveräner Staaten – und ein «Europa der Vaterländer». Eine von oben nach unten regierende EU dünkt ihnen der bessere Vasall zu sein.

«Notre-Dame» ist der neueste Hype …

Der neueste Hype in diesem absurden Wahlkampf ist der Missbrauch von Brand und Wiederaufbau der Kathedrale «Notre-Dame» in Paris. «Beherrschendes Thema in den heutigen Kommentarspalten ist der Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame.» So hiess es in der Presseschau des Deutschlandfunkes am 17. April. Dann folgen die Zitate.
In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» hiess es: «Die Feuersbrunst vom 15. April 2019 in Paris wird in die Geschichtsbücher eingehen. Der Brand hat das Wahrzeichen eines zerrissenen, zerstrittenen Landes getroffen. Seit vergangenem November hat die Gelbwesten-Bewegung mit ihren teils gewalttätigen Protesten die Staatsführung aus der Reserve gelockt. In einer urplötzlichen Wendung der Geschichte hat die Brandkatastrophe kurz vor dem Osterfest Frankreich innehalten lassen. Kurzzeitig hat das Entsetzen über die lichterloh brennende Kathedrale Notre-Dame jenen Zusammenhalt gestiftet, an dem es in den vergangenen Monaten so sehr mangelte.»
Die «Neue Osnabrücker Zeitung» schrieb: «Im gemeinsamen Entsetzen haben viele Menschen ihr verbindendes Grundverständnis von ideellem Wert, Zusammenhalt, ja, Schönheit neu entdeckt. Jetzt setzt die Brandkatastrophe von Paris ungeahnte Ener­gien frei. Mit einem Mal dominieren ideelle Werte sogar den scheinbar alles beherrschenden Markt. Die Milliardärsfamilien Pinault und Arnault wollen allein dreihundert Millionen Euro für den Wiederaufbau von Notre-Dame spenden. Das Geld verbeugt sich vor der Kultur. Das ist nicht die kleinste Botschaft, die von diesem Unglück ausgeht. Wichtiger als alles Geld ist die Tatsache, dass Europa mit dem Wiederaufbau eine gemeinsame Aufgabe gefunden hat. Das eint aufs Neue.»
Die «Stuttgarter Zeitung» formulierte: «‹Wir werden sie zusammen wiederaufbauen›, hat Präsident Macron angekündigt. Dass Notre-Dame eines Tages wieder in neuem Glanz erstrahlen wird, steht ausser Frage. Was in Reims und Rouen gelang, wo im Krieg zerstörte Kathedralen wunderbar restauriert wurden, wird auch in Paris gelingen. Aber Macrons Worte weisen über Finanzielles und Bautechnisches hinaus. Aus ihnen spricht die Hoffnung, dass dieser Schock ein heilsamer sein möge, dass die Nation wieder mehr zusammenrückt.»

… für ein US-«europäisches Wir-Gefühl»

Beim «Reutlinger General-Anzeiger» lauteten die Worte: «Vielleicht hat der fürchterliche Brand manchem bewusst gemacht, dass es doch so etwas gibt wie ein europäisches Bewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits nationaler Egoismen. Wenn viele zusammen helfen, kann die Rekonstruktion tatsächlich gelingen. Notre-Dame wird auch danach nie mehr die alte sein, aber sie könnte statt dessen zu einem Symbol europäischer Solidarität werden.»
Schliesslich werden noch die «Westfälischen Nachrichten» zitiert: «Weil Notre-Dame gemeinsames europäisches Erbe ist, ist der Wiederaufbau – wie einst bei der Frauenkirche in Dresden – eine Aufgabe aller Europäer. Es wäre der Lichtblick in dieser Katastrophe, wenn der gemeinsam erlebte Schmerz in ein französisches und ein europäisches Wir-Gefühl mündete.»
Wenn so geballt in dieselbe Richtung geschrieben wird, dann kann dies zweierlei Gründe haben: Entweder treffen alle denselben richtigen Punkt – oder es geht um etwas ganz anderes, zum Beispiel um eine medial gleichgeschaltete, politisch motivierte Kampagne.

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2 Kommentare

  1. Natürlich ist das eine medial gleichgeschaltete Kampagne. Hier wird für das "Wir Gefühl" getrommelt, das über die Grenzen hinweg ein vereintes einges Europa in die Köpfe hämmern soll. So nach dem Motto "Seht ihr, wir sind doch eins und brauchen keine Nationalstaaten. Laßt uns alles zusammen tun".

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