«Die Nato hätte mit dem Sowjetblock aufgelöst werden sollen»

Interview mit Gabriel Galice*, Ökonom und Politologe, Bern (zeit-fragen)

Die Nato, die zur Bekämpfung des Kommunismus gegründet wurde, hätte zur gleichen Zeit wie die UdSSR verschwinden sollen, sagt Gabriel Galice, Präsident des «Internationalen Friedensforschungsinstituts» (GIPRI) in Genf. Statt dessen, so bedauert er, sei die militärische Organisation zum bewaffneten Arm der USA geworden.

Echo Magazine: Ihrer Meinung nach hätte die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) schon längst aufgelöst werden müssen. Warum?

Gabriel Galice: Weil der Feind, gegen den sie kämpfen sollte, nicht mehr existiert.

Wie meinen Sie das?

Der Nordatlantikvertrag wurde 1949 unterzeichnet. Seine politisch-militärische Organisation, die Nato, wurde im folgenden Jahr von einem Dutzend Staaten gegründet, darunter die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Italien und Frankreich, um einen Angriff der Sowjetunion abwehren zu können. Diese Bedrohung verschwand jedoch mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs 1991.

Konkret: Wer war der Feind der Nato?

Der Warschauer Pakt. Dieses militärische Bündnis wurde 1955 als Reaktion auf die Erweiterung der Nato gegründet, die die Türkei, Griechenland und Westdeutschland als Mitglieder aufgenommen hatte. Er wurde unter der Leitung von Nikita Chruschtschow, damals Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, gegründet und brachte die UdSSR, die Volksrepubliken Osteuropas und die DDR zusammen. Er wurde sechs Monate vor dem tatsächlichen Zusammenbruch der UdSSR am 1. Juli 1991 aufgelöst.

Warum wurde die Nato damals nicht aufgelöst?

Es gab einen Moment der Unklarheit, wie es weitergehen soll. Dies kam durch die Aussage eines ehemaligen Nato-Admirals mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Wir haben versucht, die Nato durch etwas anderes zu ersetzen, aber wir haben nichts gefunden.» Russland hatte versucht, seinen Nachbarn näherzukommen, indem es unter anderem, noch vor dem Mauerfall 1989, das «Gemeinsame Haus Europa» vorschlug. Einige haben erwogen, das Bündnis durch die Einbeziehung der ehemaligen Sowjetmacht neu aufzubauen. Es wurde sogar ein Nato-Russland-Rat gegründet. Wie auch immer, man hat daran gebastelt. Bis die starken Trends wieder die Oberhand gewannen.

Was heisst das?

Damit meine ich den Druck von Erdöl-Lobbys und der Kriegsindustrie, den Kampf um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen usw. Ende der neunziger Jahre beschlossen die Führer des von der US-Regierung bedrängten Militärbündnisses, nach Osteuropa zu expandieren, um die atlantischen Truppen gefährlich nahe an die russische Grenze zu bringen. Der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow bezeichnete diese Entscheidung in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Buch als «den grössten strategischen Fehler des Westens».

Was ist so beunruhigend an der Erweiterung der Nato, wenn ihr Ziel die Sicherung von Frieden und Stabilität in der Welt ist?

Der Frieden wird den Diplomaten anvertraut, nicht den Soldaten! Ich bezweifle, dass die afghanische, irakische und serbische Bevölkerung die Nato als einen Faktor der Stabilität betrachtet. In allen Regionen, in denen ihre Truppen eingegriffen haben, sind Tausende von Menschen gestorben.
Und doch wächst die militärische Organisation weiter. Sie erstreckt sich auf die baltischen und östlichen Länder und zählt nun 29 Mitglieder …
Wenn wir die Nato, die gerade ihren 70. Jahrestag gefeiert hat, als Schutzschild gegen den Kommunismus betrachten, ist ihre ständige Erweiterung nach dem Fall des Sowjetreichs unverständlich. Andererseits, wenn wir diese militärische Supermacht als das betrachten, was sie geworden ist, ein Instrument der amerikanischen Hegemonie, wird alles klar.





Ein Instrument der amerikanischen Hegemonie?

Das Hauptquartier der Nato befindet sich in Brüssel, richtig. Aber die Amerikaner finanzieren 70 % des Budgets dieser Armee von 3 Millionen Mann im aktiven Dienst. Dann kommen Grossbritannien (6,2 %), Frankreich (5 %), Italien (2,5 %), Kanada (2,1 %) … Es ist kein Geheimnis: Die Vereinigten Staaten kontrollieren diese Armee, die die mächtigste der Welt ist.
Aber was sagen die Vordenker der gröss­­­ten Weltmacht, wie zum Beispiel der einflussreiche amerikanische Analyst Thomas Friedman, ein Verfechter der Globalisierung? «Die unsichtbare Hand des Marktes funktioniert nicht ohne eine versteckte Faust, bestehend aus Armee, Luftstreitkräften, Seestreitkräften und Marines der USA.» Es ist klar: Die Globalisierung geht Hand in Hand mit einer militärischen Organisation zur Eroberung von Bevölkerungen und Territorien.

Dreissig Jahre nach dem Fall der Mauer wendet sich diese versteckte Faust wieder Richtung Russland …

Ja. Die Nato belagert nun Russland. Das ist nicht gut für den Frieden – wir haben es in Georgien, der Ukraine, auf der Krim, aber auch in Syrien gesehen. Die gemeinsame und geeinte Verteidigung (der freien Welt, der Demokratien) wurde durch das Konzept der Sicherheit ersetzt. Viel verschwommener, erlaubt dieses Konzept den amerikanischen Truppen, überall und jederzeit und weit über den Nordatlantik hinaus zu intervenieren. Die blosse Bedrohung einer Nachschubquelle eines Mitglieds der Allianz kann einen Angriff rechtfertigen. Wenn China in Nigeria Öl begehrt, kann dies Grund für eine Intervention sein. Dieses Bündnis, das nicht mehr defensiv, sondern offensiv ist, ist eine Bedrohung für den Frieden.

Hat die Nato heute ein Gegengewicht?

Ja. Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), die als Reaktion auf ihre Expansion gegründet wurde. Dieses 2001 zwischen Wladimir Putin und dem ehemaligen chinesischen Präsidenten Jiang Zemin unterzeichnete militärische und wirtschaftliche Bündnis umfasst auch vier zentralasiatische Länder (siehe Kasten). Mit dem Beitritt des indischen Riesen und seines pakistanischen Nachbarn im Jahr 2016 stieg die Zahl der Mitglieder auf zehn an. Das sind zwei weitere Atommächte, zu denen noch rund ein Dutzend Partner- und Beobachterstaaten hinzugekommen sind, darunter die Türkei (Nato-Mitglied!) und Iran. Über die SOZ stehen China und Russland den USA und der Nato entgegen.

Welchen Handlungsspielraum für Europa gibt es zwischen der SOZ und der Nato?

Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diesem Doppelgriff zu entkommen – um unsere Unabhängigkeit zu bewahren, aber auch, weil Chinesen und Amerikaner sich auf unsere Kosten einigen könnten. Wir müssen uns den Russen annähern, die uns immer wieder die Hand hinhalten und die sich als Europäer fühlen, auch wenn sie mit den Chinesen verbündet sind. Seien wir also vernünftig, nutzen wir die Gelegenheit, um uns Moskau anzunähern. Das wäre ein Vorteil für Europa und für das globale Gleichgewicht.    •

(Interview Cédric Reichenbach)

* Gabriel Galice ist Präsident des GIPRI und Autor von «Lettres helvètes 2010–2014».

Quelle: Echo Magazine, Nr. 45 vom 7.11.2019, www.echomagazine.ch

(Übersetzung aus dem Französischen Zeit-Fragen)

Nordatlantikpakt (Nato): USA, Kanada, Vereinigtes Königreich, Italien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Norwegen, Niederlande, Portugal, Luxemburg, Island (1949). Griechenland und Türkei (1952), Deutschland (1955), Spanien (1982), Tschechien, Ungarn und Polen (1999), Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien (2004), Albanien und Kroatien (2009), Montenegro (2017).
Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ): China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan (2001), Indien und Pakistan (2016) sowie rund zehn Partner- und Beobachterstaaten, darunter die Türkei und Iran.

 

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1 Kommentar

  1.  Als ob die kapitalistische Gier je ein Gegensatz zur kommunistischen Ausbeutung gewesen wäre … Es sind zwei Seiten der gleichen Medaille, will heißen, der gleichen Schöpfer. Und wenn es den kommunistischen Block auch nicht mehr geben mag, the show must go on! Es funktioniert ja auch (noch!).

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