Staatsverschuldung und Demokratie: Zum Urteil des Bundesverfassungsgericht über das „Neuner-Gremium“

Von Thomas Apolte am 2. März 2012

Gern wird hier und da die Demokratie als eine wesentliche Ursache ausufernder Staatsverschuldung gesehen. Wenn man sich indes die Geschichte von Staatsverschuldung und Staatsbankrotten ansieht, wird man dies zumindest etwas voreilig finden. Denn Staatsverschuldung und Staatsbankrott sind seit jeher treue Begleiter des Staates in allen denkbaren Erscheinungsformen gewesen. Umgekehrt aber könnte ein Schuh daraus werden, dass nämlich die ewige Neigung der Regierenden zum Schuldenmachen eines Tages der Demokratie den Garaus macht – zumindest der Demokratie in ihrer parlamentarischen Form.

Das Recht zur (Mit)Bestimmung über den staatlichen Haushalt darf historisch gesehen als einer der Grundbausteine betrachtet werden, auf denen das Gebäude von Demokratie und Gewaltenteilung heute ruht. Dieses Recht wurde den ehemals absolutistischen Herrschern in Europa von den Vorläufern allgemein-repräsentativer Parlamente Schritt für Schritt abgetrotzt. Nachdem dieser Prozess vor allem in England weit gereift war, schwappte er über zu den nordamerikanischen Kolonien, wo er schließlich in dem Slogan „Keine Steuern ohne Repräsentation“ der (echten) Boston-Tea-Party-Bewegung kulminierte und sodann die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung legitimierte. Auf diese Weise etablierte sich in Nord-Amerika und in Westeuropa ein bislang unumstößlicher Eckpfeiler demokratischer Systeme: Der strikte Parlamentsvorbehalt über jeden Cent, den eine Regierung einnehmen oder ausgeben darf.

Im Jahre 1967 wurde dieser Parlamentsvorbehalt mit dem Gesetz über die Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) für die Bundesrepublik Deutschland erstmals infrage gestellt, wenn auch nur in sehr begrenztem Umfang. Dieses Gesetz erlaubt es – bis heute – dem Finanzminister und damit der Exekutivgewalt, ohne Parlamentsbeschluss die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze um bis zu 10 % nach oben oder unten zu verändern. Dies hat seinerzeit schärfste Kritik provoziert, und manche bemühten gar den Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, welches der Nazi-Regierung das Recht zum Erlass von Gesetzen am Parlament vorbei erlaubte. Am Ende ist die Ermächtigung von 1967 allerdings praktisch weitgehend ohne Folgen geblieben.

Im Gegensatz dazu vollzieht sich in der Folge der europäischen Verschuldungskrise eine formal eher harmlose, in ihrer praktischen Wirkung aber unvergleichlich gefährlichere Entwicklung. Die durch die Staatsverschuldung in Europa verursachte Verunsicherung der Finanzmärkte erzeugt die Gefahr von Ansteckungseffekten, vor deren Hintergrund sich die fiskalischen und monetären Autoritäten in Europa innerhalb der vergangenen rund zwei Jahre offenbar gezwungen sahen, so ziemlich alle Grundsätze dessen über Bord zu werfen, was den bis dato (vermeintlich?) existierenden stabilitätspolitischen Konsens in Euroland ausmachte. Hierzu gehören: die Beschränkung der Zentralbankziele auf die Sicherung einer inflationsfreien Währung, das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Zentralbank, das Gebot höchster Anforderungen an Sicherheiten für Zentralbankkredite, die strikte Weisungsunabhängigkeit der Zentralbank, die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten des Euroraums und damit die No-bail-out-Klausel des Maastrichter Vertrags sowie nicht zuletzt auch das Veto-Recht aller Mitgliedstaaten in Fragen der Fiskalpolitik.

Das alles findet im Wesentlichen auf der europäischen Ebene statt und höhlt dort schon deshalb den Parlamentsvorbehalt aus, weil die EU fiskalisch nach wie vor vorwiegend auf dem intergouvernementalen Prinzip der Repräsentation seiner Mitgliedstaaten über deren Exekutive stattfindet – daran ändert auch die jüngste Kraftmeierei des neuen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz nichts. Spätestens mit der Einführung von Eurobonds und dem damit verbundenen Verschuldungsrecht sowie vielleicht auch noch einmal mit der Einführung einer europäischen Steuer werden wir alle klassischen fiskalpolitischen Kompetenzen auf der europäischen Ebene vorfinden, ohne dies durch eine klassische parlamentarische Repräsentation verbunden zu sehen, die ihren Namen verdient – der Schuldenkrise sei Dank.

Damit aber nicht genug. Denn noch müssen die europäischen Schuldenmanager sich für jede Aufstockung von Fazilitäten und für alle Kreditzuteilungen die Zustimmung der Mitgliedstaaten und damit deren Parlamente holen. Das geht ihnen freilich bei weitem nicht schnell genug, denn in Zeiten „verrücktspielender“ Finanzmärkte scheint die Politik beweisen zu müssen, wer hier die Hosen anhat, demokratisch gewählte Politiker oder „die Finanzmärkte“, die ohne jede demokratische Legitimation ganze Staaten ins Unheil stürzen. Da das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach – zuletzt im Herbst 2011 – den Parlamentsvorbehalt fiskalischer Entscheidungen auch in Zeiten „verrücktspielender“ Finanzmärkte unterstrichen hat, weicht man nun umso mehr auf Ausschüsse sowie auf Ausschuss-Ausschüsse wie die „Neuner-Gruppe“ des Bundestages aus, welche mehr oder weniger willkürlich zusammengesetzt im Namen des ganzen Parlaments über fiskalische Risiken des Steuerzahlers in Größenordnungen von hunderten von Milliarden Euro entscheiden sollen.

Solcherlei parlamentarischer Scheinlegitimität hat das Bundesverfassungsgericht nun mit seiner Entscheidung vom 28. Februar 2012 erneut Schranken zu setzen geglaubt, indem es das sogenannte Stabilisierungsmechanismusgesetz (StabMechG) für verfassungswidrig erklärte. Dieses Gesetz erlaubt es, in Fällen „besonderer Eilbedürftigkeit“ die Rechte des Parlaments von einem Ausschuss des Parlaments wahrnehmen zu lassen. Dies sieht das Gericht im Wesentlichen als verfassungsinkonform an, weil es damit die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt sieht. Überraschenderweise aber wendet das Verfassungsgericht diese Rüge gerade für ein Kernstück des beanstandeten § 3 Abs. 3 StabMechG nicht an, wonach nämlich „dem Sondergremium (dem Neuner-Gremium des Bundestages also, T.A.) Entscheidungskompetenzen für den Fall des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EFSF am sog. Sekundärmarkt“ verliehen werden.

Inwieweit das Verfassungsgericht der Aushöhlung des Parlaments angesichts dieser Einschränkung tatsächlich dauerhaft einen Riegel vorschiebt, steht in den Sternen. Zwar unterliegen die Obergrenzen des gesamten Interventionsrahmens der EFSF nach wie vor dem striktem Parlamentsvorbehalt. Aber auch das ist bekanntlich ein Dorn im Auge vieler Schuldenmanager und Euroretter. Wird diese Begrenzung auch noch ausgehöhlt, dann ist der Parlamentsvorbehalt des staatlichen Zugriffs auf die Einkommen der Bürger Geschichte. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das Verfassungsgericht einem wachsenden Druck in diese Richtung auch dann noch standhält, wenn der wahrgenommene oder tatsächliche Problemdruck in massiver Weise anderes nahelegt.

Alles das baut auf der Theorie vom „Verrücktspielen der Finanzmärkte“ auf. Auch das Verfassungsgericht, eigentlich allein der Normenkontrolle verpflichtet, scheint sich dieser Theorie und der daraus offenbar folgenden Realität zu beugen. Es sieht so aus, als befänden wir uns in einem neuen Zeitalter, in dem die fiskalpolitischen Entscheidungsträger ganz ähnlich wie die Notenbanker ganz grundsätzlich über schnelle, flexible und vor allem auch der Geheimhaltung zu unterliegende „schnelle Eingreiftruppen“ verfügen müssen, um der Unberechenbarkeit der Finanzmärkte Einhalt gebieten und sie daran hindern zu können, ihre zerstörerischen Flächenbrände auszulösen.

Nun will man ja gar nicht bestreiten, dass die Auswirkungen der derzeitig ziemlich verfahrenen fiskalpolitischen Lage in Europa (und anderswo) unter Einhaltung der üblichen Verfahren nicht Herr zu werden ist und man sich daher vorrübergehend zu geld- und fiskalpolitischem (erst Recht ordnungspolitischem) Schweinkram gezwungen sieht. Darüber geht allerdings leicht der Blick dafür verloren, was hier Ursache und was Wirkung ist. Keiner der auch nur halbwegs solide finanzierten Staaten in Euroland und anderswo hat sich je dem Angriff „verrücktspielender“ Finanzmärkte ausgesetzt gesehen. Und selbst Spanien und Irland, die bis zur Lehmann-Pleite fiskalpolitisch solide waren, haben mit der Verstaatlichung privatwirtschaftlicher (Banken-)Verschuldung ihre fiskalische Unschuld willentlich aufgegeben, deren Ursachen wiederum in massiven wirtschaftspolitischen Verfehlungen liegen, von denen die Verstaatlichung privatwirtschaftlicher Haftung eines ist.

Hier kommen wir zum Kern des Problems: Wenn sich alle Staaten an die Regeln solider Geld- und Fiskalpolitik gehalten hätten, dann hätte es keine Verschuldungskrise in Europa gegeben, die deshalb – man kann es nicht oft genug betonen – ursächlich auch eine Verschuldungs- und keine Finanzmarktkrise ist. Dann hätte es keiner EFSF und keines ESM bedurft, keiner fiskalischen Haftungsgemeinschaft, welche auf europäischer Ebene den Parlamentsvorbehalt aushöhlt, und keines „Neuner-Gremiums“, welches unter Ausschluss der Öffentlichkeit den Kauf von Schrottpapieren in Zig-Milliardenhöhe im Namen der „Marktpflege“ betreibt und darüber den Parlamentsvorbehalt auf nationaler Ebene aushöhlt. Würden wir uns bemühen, nach der Überwindung der Krise endlich zu den Regeln langfristig solider Geld- und Fiskalpolitik zurückzukehren, dann könnten wir alle diese Aushöhlungsmechanismen als vorübergehend betrachten, und wir könnten sie nach einmaligem Gebrauch schnell und etwas verschämt wieder beiseitelegen. Aber danach sieht es leider nicht aus, und darauf hat sich wohl auch das Verfassungsgericht eingestellt. So betrachtet ist es zwar – wie eingangs bemerkt – voreilig, den Parlamentarismus als Ursache der Staatsverschuldung zu sehen. Aber wenn wir nicht Acht geben, dann könnte umgekehrt die Staatsverschuldung eines gar nicht fernen Tages das Ende des Parlamentarismus einläuten.

Quelle: http://wirtschaftlichefreiheit.de

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