Der Aufschrei bleibt aus

Georg Rammer (ossietzky)

Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf vier Tage, ein staatliches Investitionsprogramm von 100 Milliarden Euro, Rente ab 60, Grundeinkommen für junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren, Mindestlohn von 1326 Euro netto, Erhöhung der Einkommensteuer für hohe Einkommen …: Nein, das sind nicht die Konsequenzen der Bundesregierung aus ihrem Armuts- und Reichtumsbericht vom März, sondern das waren einige Punkte aus dem Programm des französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon.

Ginge es der Bundesregierung wirklich um den wirksamen Abbau der Armut und der Ungleichheit, hätte sie viele Jahre dafür Zeit gehabt. Nein, der Fünfte Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung ist eine lästige Pflichtübung, die die Öffentlichkeit nicht aufregen soll: Seine Ergebnisse werden schnell verschwinden. Ohnehin behandelt er nicht die politischen und strukturellen Ursachen der verfestigten Armut und der anwachsenden Ungleichheit in Deutschland, allenfalls individuelle Auslöser für Notlagen. Insofern ist es müßig, in dem 700-seitigen Wälzer nach Lösungsvorschlägen für den gesellschaftlichen Skandal der Armut in einem reichen Land zu suchen.

Dabei stellt sogar die Europäische Kommission schwere Versäumnisse bei der deutschen Armutsbekämpfung fest: »Im Zeitraum 2008 bis 2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen.« (https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/2017-european-semester-country-report-germany-de_1.pdf, S. 7). Bedarfsabhängige Leistungen seien »real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken«. Und selbst Bundesministerin Nahles (SPD) muss angesichts der eigenen Daten zugeben, dass die »unteren« 40 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2015 real weniger verdient haben als Mitte der 1990er Jahre.

Die eklatante Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen widerspricht nicht nur den elementaren Staatszielen des sozialen Rechtsstaates; sie unterhöhlt zusätzlich Grundsätze einer repräsentativen Demokratie. Diese Schlussfolgerung haben die WissenschaftlerInnen um Professor Armin Schäfer in ihrer Studie, die sie im Auftrag der Bundesregierung für den Bericht erstellten, klar herausgestellt. Sie weisen eine ähnliche Schieflage in der »politischen Responsivität« zulasten der sozial Benachteiligten wie in den USA nach: »Für den Zeitraum von 1998 bis 2013 finden wir einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Mehrheitsmeinung höherer Einkommensgruppen und den danach getroffenen politischen Entscheidungen, aber keinen oder sogar einen negativen Zusammenhang für die Armen.« Dieses schwerwiegende Ergebnis wollte die Regierung der Bevölkerung nicht zumuten, es fiel der Zensur zum Opfer.

Dabei belegen die Entscheidungen der wirtschaftlich-politischen Elite eindeutig die Ergebnisse der WissenschaftlerInnen: Augenscheinlich denkt die Koalition nicht daran, Armut und Ungleichheit zu bekämpfen oder gar zu beseitigen. Denn dafür müsste sie etwa solche Maßnahmen ergreifen, wie die anfangs zitierten von Mélenchon. Die würden aber den neoliberalen Glaubenssätzen und Handlungsmaximen der Regierungspolitik zuwider laufen; sie würden die ärmere Hälfte der Bevölkerung zu Lasten großer Konzerne und der reichsten ein Prozent begünstigen. Genau das soll in Deutschland und in der EU um jeden Preis verhindert werden, auch um den des Brexit und des Aufstiegs rechtsextremer Bewegungen. Deshalb ist der Regierungsbericht reich an »Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuchen« und deshalb wurden zentrale Aussagen gestrichen (vgl. Christoph Butterwegge, Ossietzky 9/2017).

Schon 2011 hatte das zuständige Bundesministerium der damaligen CDU-FDP-Koalition in einer Stellungnahme zu einer Petition von Attac Karlsruhe (für Maßnahmen gegen Armut und Benachteiligung von Kindern) lapidar festgestellt: Die Ungleichheit in Deutschland »entzieht sich weitgehend politischer Steuerung«. Als die richtige Strategie bezeichnete das Ministerium die »erwerbsanreiz-orientierte Ausgestaltung des Transfersystems sowie eine gute Infrastruktur zur Stärkung der Erwerbsmöglichkeiten …« (BMFSFJ, 5.4.2011). Die absichtsvoll verschwurbelte Aussage bedeutet, dass die als Faulenzer in der sozialen Hängematte verstandenen Menschen durch möglichst niedrige Transferleistungen zur Aufnahme jeder Arbeit gezwungen werden müssen.  Und: Es genüge vollauf, die Rahmenbedingungen für Kapitalakkumulation und hohe Profite in der Wirtschaft zu fördern, um die Armut zu bekämpfen. Im April 2013 behauptete der Petitionsausschuss in seiner Ablehnung der Petition, durch die Schaffung von Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum sei das Ziel erreicht worden, »auch sozial Benachteiligten und somit auch deren Kindern eine Perspektive für den Weg in die soziale Mitte der Gesellschaft« zu ebnen. Neoliberale Wirtschaftspolitik folgt offenkundig dieser »Pferdeäpfel-Theorie«: Gib den Pferden viel zu fressen, dann fällt hinten für die Spatzen auch was ab. Daran hat sich auch in der CDU-SPD-Koalition nichts geändert.

Warum sollte sie auch etwas ändern? Es erfolgt kein Aufschrei angesichts der Armutsdaten. Schreien müssen allenfalls neoliberal orientierte Mainstreamblätter und Interessenverbände, wenn etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband differenzierte Daten zur sozialen Lage veröffentlicht. Tenor der vehementen Angriffe: In Deutschland gibt es gar keine Armut, sie ist ein statistisches Fake (vgl. Beiträge in »Kampf um die Armut«, Hg. Ulrich Schneider, 2015). Zwar sind Menschen in Deutschland – laut einer Umfrage des Forsa-Instituts für den Lionsclub – zu 85 Prozent überzeugt, die Altersarmut werde in den nächsten zehn Jahren zunehmen; zwar halten vier von fünf Ostdeutschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt für gering, aber politisch drückt sich diese Sorge, dieses Gefühl von Bedrohung bei vielen Menschen »nur« in der Präferenz nationalistischer, rassistischer und fremdenfeindlicher Haltungen aus: Aus Ohnmacht wird Wut.

Diese Politik nimmt das materielle und seelische Elend einer großen Bevölkerungsgruppe billigend in Kauf; sie zeichnet sich durch Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen aus. Europaweit ist bei Führungspolitikern wie Juncker, Schulz, Macron, Merkel et cetera zu beobachten: Die Zutrittsvoraussetzung zur herrschenden Elite ist ein elitäres Klassenbewusstsein, das heißt die konsequente Vertretung der Interessen der Reichen und wirtschaftlich-politisch Mächtigen; taktische verbale Zugeständnisse dienen dazu, in der Bevölkerung die Illusion demokratischer Verhältnisse aufrechtzuerhalten (vgl. Rainer Mausfeld, »Die Angst der Machteliten vor dem Volk. Demokratie-Management durch Soft Power-Techniken«, Pdf-Datei). Diese ausgehöhlte Demokratie, frei von Empathie und Solidarität, wird mit großem bürokratischem Aufwand auch im sozialen Bereich praktiziert. Sogar das frühere Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, beschreibt »Hartz IV« als bürokratisches Monster mit bis zu 200-seitigen Bescheiden. Die Akte eines »Hartz IV«-Haushaltes umfasst im Durchschnitt 650 Seiten (SZ, 18.4.2017).

Objektiv herrschen in Deutschland Klassenverhältnisse, denen aber subjektiv kein Klassenbewusstsein entspricht. Die latenten und offenen Mechanismen dieses kapitalistischen Systems beschreibt Didier Eribon in dem von Tobias Haberkorn übersetzten Buch »Rückkehr nach Reims« ebenso differenziert wie sensibel: die abgehängten Banlieues französischer Städte als »Schauplätze eines verkappten Bürgerkriegs« (S. 112), die Abwertung von Kindern aus armen Verhältnissen, die Selektionsmechanismen eines Schulsystems zum Erhalt der Klassenherrschaft. Und er schildert seine Einsichten und Gefühle nach der Wiederbegegnung mit seiner Mutter mit ihrem geschundenen, schmerzenden Körper einer alten Arbeiterin – und ihn überwältigt die »konkrete physische Bedeutung des Wortes ›soziale Ungleichheit‹. Das Wort ›Ungleichheit‹ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun« (S. 78).

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Und die Scheuklappen-Wähler geben der Einheitspartei CDUCSUSPDLINKEFDPGRÜNE immer noch ihre Stimme und legitimieren damit den Volksverrätern den Raub ihres schwer verdienten Geldes! Menschen zu berauben ist ein Verbrechen. Statt diese Banditen zu wählen, sollte man sie in den Knast jagen.
Lieber aber läßt sich die Masse berauben, als sich auf ihre Grundrechte (GG Art. 20 (4) zu berufen.

GG Art. 20

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) 1Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 2Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

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