Die Freigeld-Zinstheorie nach Silvio Gesell – Teil 2

Und hier nun die zweite Leseprobe zur Freigeld-Zinstheorie von Silvio Gesell

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In der Natur wird übrigens das Sparen ganz allgemein ohne Aussicht auf Zins

geübt. Die Bienen und Hamster sparen, obschon ihnen der gesammelte Vorrat keinen

Zins, wohl aber viele Feinde verschafft. Bei den Naturvölkern wird auch gespart,

obschon dort von Zins keine Rede ist.* Warum soll nun der Kulturmensch anders geartet

sein? Man spart, um sich ein Haus zu bauen, man spart für die Hochzeit, fürs

Alter, für Krankheitsfälle, und in Deutschland sparen manche sogar für ihre Totenmesse

und für die Begräbniskasse. Und das Begräbnis wirft dem Toten doch keinen

Zins ab. Und übrigens, seit wann spart denn der Proletarier für die Sparkasse?

Brachte das in den Matratzen verborgene Geld früher Zins ein? Und solche Sparanlagen

waren doch noch bis vor 30 Jahren allgemein Sitte. Auch die Wintervorräte

bringen keinen Zins ein, dagegen viel Verdruß.**

Sparen heißt, mehr Ware erzeugen als verbrauchen. Aber was macht der Sparer,

macht das Volk mit diesen Überschüssen an Waren? Wer verwahrt diese Waren auf,

und wer bezahlt die Kosten des Aufbewahrens? Wenn wir hier antworten: der Sparer

verkauft seine Erzeugungsüberschüsse, so verlegen wir die Frage vom Verkäufer auf

den Käufer, und auf ein Volk als Ganzes ist diese Antwort überhaupt nicht anwendbar.

Wenn nun jemand Ersparnisse macht, d. h. mehr Waren erzeugt als verbraucht,

und findet einen, dem er den Überschuß unter der Bedingung verleihen kann, daß

ihm seine Ersparnisse ohne Zins, aber auch ohne Verluste, nach Jahr und Tag erstattet

werden, so ist das für den Sparer ein außerordentlich vorteilhafter Handel.

Spart er doch die Unterhaltungskosten seiner Ersparnisse. Er gibt 100 Tonnen frischen

Weizen in seiner Jugend, und im Alter erhält er 100 Tonnen frischen Weizen gleicher

Güte zurück. (Siehe die Robinsongeschichte Seite 319 ff.)

Die einfache, zinsfreie Rückerstattung des ausgeliehenen Spargutes enthält also,

sobald wir nur das Geld aus dem Spiele lassen, eine recht bedeutende Leistung von

seiten des Schuldners oder Borgers, nämlich die Kosten der Aufbewahrung des geliehenen

Spargutes. Diese Kosten müßte der Sparer selbst tragen, wenn er niemand

fände, der ihm die Ersparnisse abnimmt. Freilich verursachen die geliehenen Güter

dem Borger keine Aufbewahrungskosten, weil er diese (z. B. entliehenen Saatweizen)

in der Wirtschaft verbraucht, aber diesen Vorteil, der eigentlich ihm selbst gehört,

überträgt der Borger im zinsfreien Darlehen ohne Gegenleistung auf den Verleiher.

Wären die Verleiher zahlreicher als die Borger, so würden sich die Borger genannten

Vorteil in der Form eines Abzuges am Darlehn (negativen Zinses) bezahlen lassen.

Also von welcher Seite man auch das zinsfreie Darlehen betrachtet, Hindernisse

natürlicher Ordnung stehen ihm nicht im Wege. Im Gegenteil. Je mehr der Zins

fällt, um so eifriger wird an der Vermehrung der Häuser, Fabriken, Schiffe, Kanäle,

**) Kein Neger, kein Hottentott, kein Mohikaner hat jemals Zins von seinen Ersparnissen erhoben.

Trotzdem wird keiner von ihnen seine Ersparnisse (Vorräte) gegen die Ersparnisse unserer Proletarier

(Sparkassenbuch) hergeben wollen.

**) Daß das Zinsverbot der Päpste im Mittelalter keine Geldwirtschaft aufkommen ließ (auch der

Mangel an Geldmetall trug dazu bei), zeugt dafür, daß die Sparer auch ohne Zinsgenuß ihrem Spartrieb

folgten; sie verschatzten das Geld.

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Eisenbahnen, Theater, Krematorien, Straßenbahnen, Kalköfen, Eisenhütten usw. gearbeitet

werden, und den höchsten Grad erreicht die Arbeit, wenn jene Unternehmungen

gar keinen Zins mehr abwerfen werden.

Für v. Boehm-Bawerk ist es ganz selbstverständlich, daß ein gegenwärtiges Gut höher eingeschätzt

werden muß als ein künftiges, und auf diese Voraussetzung gründet er auch seine

neue Zinstheorie. Und warum wäre das selbstverständlich? Darauf gibt er selbst die etwas wunderliche

Antwort: weil man Wein kaufen kann, der im Keller jährlich besser und teurer wird.

[Vergl. hierüber die Fußnote Seite 326] Weil also der Wein (v. Boehm-Bawerk hat unter allen

Waren keine zweite gefunden, die diese wunderbare Eigenschaft besitzt) angeblich von selbst,

ohne Arbeit, ohne Kosten irgend welcher Art, also auch ohne Lagerkosten, im Keller jährlich

besser wird, darum werden wohl auch die übrigen Waren, Kartoffeln, Mehl, Pulver, Kalk, Häute,

Holz, Eisen, Seide, Wolle, Schwefelsäure, Modeartikel usw. jährlich auf Lager besser und teurer?

Wenn aber diese Begründung richtig ist, so ist ja die soziale Frage in vollkommenster Weise gelöst.

Man braucht nur genügend Ware anzuhäufen (wozu sich ja die unerschöpfliche Ergiebigkeit

der heutigen Gütererzeugung und das Heer von Arbeitslosen prächtig eignen), und dann kann

das ganze Volk von den Renten leben, die auf Lager immer besser und teurer (ein Unterschied

in der Güte läßt sich wirtschaftlich immer auf einen Unterschied in der Menge zurückführen)

werdenden Waren ohne Arbeit irgendwelcher Art abwerfen. Übrigens ist nicht einzusehen, warum

man dann auch nicht umgekehrt folgern könnte: weil alle Waren, mit Ausnahme des Geldes

und des Weines, in kurzer Zeit sich in Schutt und Moder verwandeln, darum verwandeln sich

auch Wein und Geld in Moder! Und v. Boehm-Bawerk war bis zu seinem Tode (1914) der angesehenste Zinslehrenforscher, dessen Werke in viele Sprachen übersetzt wurden!

Die Sorgen der Sparer gehen uns nun zwar nichts an, weil wir ja nur eine

Grundlehre des Zinses geben wollen, aber es trägt vielleicht zur Klärung dieser Lehre

bei, wenn wir uns diese Sorgen näher betrachten.

Nehmen wir also an, daß nach der Entfernung des Goldes aus der Umlaufsbahn

der Waren jemand sparen will, um im Alter sorglos ohne Arbeit leben zu können. So

ergibt sich gleich die Frage, welche Gestalt er seinen Ersparnissen geben wird. Anhäufung

seiner eigenen oder der Erzeugnisse anderer ist von vornherein ausgeschlossen,

auch an einen Schatz in Freigeld ist nicht zu denken. Da kämen zinsfreie Darlehn

an Unternehmer, Handwerker, Bauern und Kaufleute, die ihre Geschäfte erweitern wollen,

in erster Linie in Betracht; je länger das Ziel der Rückzahlung hierbei wäre, um

so besser. Freilich läuft dabei unser Sparer die Gefahr, daß seine Schuldner ihm das

Darlehen nicht zurückgeben werden. Aber diese Gefahr läßt er sich bezahlen im Gefahrbeitrag (Risikoprämie), um den sich übrigens auch heute der reine Zins jedes ähnlichen

Darlehens erhöht. Will aber unser Sparer sich gegen solche Verluste sichern, so

baut er mit seinen Ersparnissen ein Mietshaus, und der Mieter bezahlt ihm in den jährlichen

Abschreibungen, die auch heute immer im Mietzins enthalten sind, die Kosten

des Baues nach und nach zurück. Und die Bauart des Hauses richtet der Sparer nach

den Abschreibungen ein, wie er sie zu haben wünscht. Er baut ein steinernes Haus,

wenn er sich mit 2 % Abschreibungen jährlich begnügt; er legt seine Ersparnisse in

Schiffen an, wenn ihm mit 10 % Abschreibung gedient ist, oder er kauft eine Pulverfabrik,

die mit 30 % Abschreibungen rechnen muß. Kurz, er hat die Wahl. Ähnlich

wie der Kraftaufwand, den die Kinder Israels im Bau der Pyramiden anhäuften, heute

nach 4000 Jahren durch Herabschleudern der Bausteine ohne Verlust wieder lebendig

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gemacht werden kann, so würden die in einem zinsfreien Hause verbauten Ersparnisse

in der Miete in Form von Abschreibungen unverkürzt wieder erscheinen, ohne

Zinsen zwar, aber immer noch mit dem ganz unberechenbaren Vorteil, daß der Sparer

keine Überschüsse über die Zeit hinweg, wo er sie nicht benötigte, ohne Verlust

hinüberleitet in die Zeit, da er sie verbrauchen will.

Wer also eine Mietskaserne mit der Absicht baut, sie zinsfrei zu vermieten, der ist

ungefähr in der gleichen Lage, wie jemand, der sein Geld zinsfrei auf Abzahlung

gegen Pfand verleiht.

Gewöhnlich wird es aber wohl so kommen, daß Lebensversicherungsgesellschaften

den kleinen, weltfremden Sparern alle Sorgen abnehmen, indem sie mit den Geldern

der Sparer die Häuser, Schiffe, Fabriken bauen und dann aus den Abschreibungen

dieser Dinge den Sparern eine lebenslängliche Rente zahlen: kräftigen Männern 5 %

der Einlagen, kränklichen oder älteren Leute 10 oder 20 %. Unter solchen Verhältnissen

gäbe es allerdings keine Erbonkel mehr. Mit dem letzten Nagel des Vermögens

wird der Sarg zugeschlagen. Der Sparer zehrt von seinem Gute, sowie er zu arbeiten

aufhört, und mit dem Tode ist es aufgezehrt. Übrigens braucht auch unter solchen

Verhältnissen niemand seine Nachkommen mit einem Erbe auszustatten. Ausstattung

genug ist es für alle, wenn man die Arbeit von den Zinslasten befreit. Der von den

Zinslasten befreite Mann braucht nichts zu erben, wie auch der Jüngling zu Nain

keine Krücken mehr brauchte. Er schafft selber Hab und Gut und mit seinen Überschüssen

speist er die Kassen der gedachten Versicherungsgesellschaften, so daß die

Abschreibungen an den Häusern, Schiffen usw., die den Alten ausgezahlt werden, mit

den Ersparnissen der Jungen immer wieder durch Neubauten ausgefüllt werden. Die

Ausgaben für die Alten werden durch die Ersparnisse der Jungen gedeckt.

Ein Arbeiter mag heute an Wohnung, Arbeitsmitteln, Staatsschulden, Eisenbahnen,

Schiffen, Läden, Krankenhäusern, Leichenverbrennungshallen usw. ein Kapital

von 50 000 Mark verzinsen*, d. h. an Kapitalzins und Grundrente muß er, unmittelbar

in Lohnabzügen, mittelbar in den Warenpreisen, 2000 Mark jährlich aufbringen.

Ohne den Kapitalzins würde sein Arbeitsertrag sich verdoppeln. Wenn nun

ein solcher Arbeiter bei 1000 Mark Lohn heute jährlich 100 Mark spart, so wird er

lange Zeit brauchen, ehe er von seinen Renten leben kann. Dies um so mehr, als der

durch sein Sparen ja heute die regelmäßig wiederkehrenden Krisen hervorruft, die

ihn immer wieder zwingen, seine Ersparnisse anzugreifen, wenn er sie nicht gar

in der durch seine Sparsamkeit hervorgerufenen Krise und im Zusammenbruch

seiner Bank verliert, wie das ja manchmal vorkommen soll. Hat dagegen der Arbeiter

durch die Beseitigung des Zinses doppelte Einnahmen, so kann er in dem angenommenen

Fall nicht 100 Mark, sondern 1100 Mark jährlich sparen, und wenn

auch das Gesparte sich nicht mehr durch Zins „von selber“ vermehrt, so wird doch am

Ende der Sparjahre ein solcher Unterschied zwischen dem früher mit Zins und dem

*) Deutschland mit etwa 10 Millionen Arbeitern (d. h. allen, die vom Ertrag der Arbeit leben) verzinst

ein Kapital von etwa 500 Milliarden (einschließlich des Bodens). Somit verzinst der einzelne Arbeiter

durchschnittlich ein Kapital von 50 000 Mark.

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jetzt ohne Zins Gespartem bestehen, daß er auf die Zinsen gern verzichten wird. Und

dieses Mehr wird nicht einfach sich verhalten wie 100 (+ Zins) zu 1100, sondern

bedeutend größer sein, weil der Arbeiter nicht mehr durch arbeitslose Zeiten gezwungen

sein wird, seine Ersparnisse anzugreifen.

Noch einen Einwand haben wir zu widerlegen, den man gegen die Möglichkeit

des Ausgleichs zwischen Nachfrage und Angebot auf dem Kapitalmarkt erhebt.

Man sagt, daß man mit mehr oder besseren Maschinen billiger arbeiten kann,

daß darum jeder Unternehmer ein Sinken des Zinses dazu benutzen wird, seine

Fabrik zu erweitern oder zu verbessern. Woraus man dann folgert, der Rückgang

des Zinses und besonders die völlige Zinsfreiheit würden eine solche Nachfrage auf

dem Kapitalmarkt von seiten der Unternehmer bewirken, daß das Angebot sie niemals

decken und deshalb der Zins überhaupt nicht auf Null fallen könnte.

So sagt z. B. Conrad Otto*: „Der Zins kann nie ganz verschwinden. Wenn z. B. ein Lastenaufzug

5 Arbeiter erspart mit einem Jahresverdienst von 4000 Kronen, so darf er bei einem

Zinsfuß von 5 % höchstens 80 000 Kronen kosten. Sinkt der Zinsfuß tiefer, z. B. auf 1/100 %, so

würde der Aufzug noch mit Vorteil aufgestellt werden können, wenn er selbst 40 000 000

Kronen kosten würde. Sinkt der Zinsfuß auf den Nullpunkt oder nahe an den Nullpunkt heran,

dann würde die Kapitalverwendung einen Grad erreichen, der alle Vorstellung übersteigt. Um

die einfachsten Handgriffe zu ersparen, könnten die kompliziertesten und kostspieligsten Maschinen

aufgestellt werden. Bei einem Zinsfuß gleich Null müßten unermeßliche, unbegrenzte

Kapitalanlagen vorhanden sein. Es bedarf nun wohl keines besonderen Nachweises, daß diese

Bedingung heute nicht erfüllt ist und wohl auch in Zukunft niemals erfüllt werden kann.“

Zu diesem Einwand gegen die Möglichkeit zinsfreier Darlehen ist folgendes zu

bemerken: Die Kapitalanlagen kosten nicht nur Zins, sondern auch Unterhaltungskosten,

und diese sind regelmäßig, namentlich bei industriellen Anlagen, sehr hoch.

So würde der Lastenaufzug von 40 Millionen allein für seine Instandhaltung und für

Abschreibungen sicherlich 4 – 5 Millionen kosten. Das wären aber dann nicht 5 Arbeiter,

wie Otto meint, sondern 4000 Arbeiter zu 800 Kronen, die der Aufzug ersparen

müßte – auch wenn dieser keinen Pfennig Zinsen beansprucht. Bei 5 % Unterhaltungskosten

und 5 % Abschreibung dürfte der Aufzug, der 5 Mann zu 800 Kronen

ersparen soll, nur 40 000 (statt 40 Millionen) zinsfreies Geld kosten. Übersteigen

die Baukosten diesen Betrag, so deckt er die Unterhaltungskosten nicht mehr; der Aufzug

wird nicht gebaut, er hält dann auch keine Nachfrage auf den Anleihenmarkt.

Dort, wo keine oder keine nenneswerten Abschreibungen nötig sind, wie bei

gewissen landwirtschaftlichen Geländeverbesserungen dauernder Art, sind es

wieder die Lohnforderungen der Arbeiter, die es verhindern würden, daß die

Nachfrage nach zinsfreiem Leihgeld ins Ungemessene wachsen könnte. Die Sache

geht auch hier in die Grundrentenfrage über. Übrigens wird auch kein

Privatmann Felsen sprengen und Wälder ausroden, wenn ihm diese Arbeit

keinen Vorteil bringt. Beim Bau einer Fabrik, einer Mietskaserne hat er den

Vorteil, daß ihm in den jährlichen Abschreibungen die Auslagen nach und nach

*) Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Jahrgang 1908 (Kapitalzins S. 325).

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