Die Freigeld-Zinstheorie nach Silvio Gesell – Teil 1

Liebe Leser,

vor über 90 Jahren (1920) erschien das wohl bekannteste Werk, „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, von Silvio Gesell. Er war der Meinung, dass Vermögen, welches nicht in den Wirtschaftskreislauf fließt, negativ (-5% per anno) verzinst werden sollte, um Arbeit und Wohlstand für alle zu erreichen. Den Urzins betrachtete er als „eine Abgabe, eine Steuer, ein Raub“. Zu Reichtum und Armut schrieb er folgendes: „Reichtum und Armut sind gleichmäßig verkehrte Zustände. Sie gehören nicht in einen geordneten Staat. Sie sind mit dem Bürger- und Völkerfrieden unvereinbar. … Armut ist eine Kette und Reichtum ist eine Kette. Und der Anblick von Ketten muss jedem Freien ein Gräuel sein. Wo er sie sieht, muss er sie brechen.“ (Band 11, S. 226)

Seine Freigeld- und Zinstheorie hat inzwischen viele Anhänger und Befürworter gefunden. Wen wundert’s, denn unser heutiges Zinsgeldsystem dient nur den Vermögenden, die Jahr für Jahr leistungsloses Geld mittels Zinsen beziehen, für das letztendlich der Verbraucher/Bürger aufkommen muss.

Ich möchte Ihnen hier die Freigeld-Zinstheorie von Silvio Gesell etwas näher bringen, in dem ich einige Auszüge aus dem Kapitel, 5. Vervollständigung der Freigeld-Zinstheorie, peu a peu darstellen werde.

Hier nun Teil 1:

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5. Vervollständigung der Freigeld-Zinstheorie

Seite 348

Man sagt, daß, wenn das Realkapital keinen Zins mehr einbringt, niemand mehr

ein Mietshaus, eine Fabrik, einen Ziegelofen usw. bauen wird. Man werde die Ersparnisse

lieber in Vergnügungsreisen verausgaben als Mietshäuser zu bauen, nur damit

andere darin mietefrei in Saus und Braus leben können.

Aber hier wird mehr behauptet, als das Wort zinsfrei sagt. Die Miete eines Hauses

besteht nur zum Teil aus Zins. Die Miete enthält neben dem Zins des Gebäudekapitals

auch die Grundrente, die Ausbesserungen, Abschreibungen, Steuern, Versicherung,

die Ausgaben für Reinigen, Heizen, Beaufsichtigen, Ausstattung usw.. Oft

mag der Zins 70 oder 80 % der Miete ausmachen, oft im Innern der Großstadt auch

nur 20 oder 30 %. Wenn also der Zins ganz aus der Miete ausscheidet, so bleibt immer

noch ein genügender Rückstand an Ausgaben, um zu verhüten, daß jeder einen

Palast für sich beansprucht.

Ebenso verhält es sich mit den übrigen Realkapitalien. Der sie Benutzende muß

neben dem Zins noch erhebliche Ausgaben für Instandhaltung, Abschreibungen,

Versicherungen, Grundrenten, Steuern usw. gewärtigen, Ausgaben, die meistens

den Zins des Kapitals erreichen und übersteigen. Das Häuserkapital steht in dieser

Beziehung noch am günstigsten. Von 2 653 deutschen Aktiengesellschaften mit

9 201 313 000 Mark Kapital wurden 1911 439 900 475 Mark abgeschrieben, also

etwa 5 % im Durchschnitt. Ohne die jährlichen Erneuerungen (neben den Ausbesserungen)

bliebe von obigem Kapital nach 20 Jahren nichts übrig.

Aber auch sonst ist der Einwand nicht richtig, namentlich auch nicht den bisher

von ihren Renten lebenden Personen gegenüber.

Denn, werden diese Personen schon durch den Rückgang des Kapitalzinses zu

größerer Sparsamkeit gezwungen, so werden sie, wenn der Zins ganz verschwindet,

um so mehr darauf bedacht sein, das, was sie haben (und was jetzt

kein Kapital mehr ist), möglichst langsam zu verzehren. Und das erreichen sie

eben damit, daß sie von den jährlichen Abschreibungen ihres Kapitals nur

einen Teil für eigenen Bedarf ausgeben, den Rest aber wieder für den Bau

neuer Häuser, Schiffe usw. bestimmen, die ihnen keinen Zins, wohl aber Sicherheit

gegen unmittelbaren Verlust bieten. Wenn sie das Geld (Freigeld) behielten,

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Seite 349

so würden sie nicht nur keinen Zins, sondern noch einen Verlust haben. Durch den

Bau neuer Häuser vermeiden sie diesen Verlust.

So wird z. B. ein Aktionär des Norddeutschen Lloyd, der, wie wir annehmen wollen,

keine Dividenden mehr zu erwarten hat, nicht verlangen, daß ihm der Betrag

der Abschreibungen, womit der Lloyd heute die neuen Schiffe baut, voll ausbezahlt

werde. Er wird sich mit einem Teil begnügen, um den Tag möglichst lange hinauszuschieben,

an dem ihm der Rest seines Vermögens ausbezahlt wird. So werden also

immer wieder neue Schiffe gebaut, trotzdem sie keinen Zins und nur Abschreibungen

abwerfen. Freilich würde aber dennoch mit der Zeit das letzte Schiff des Norddeutschen

Lloyd in Trümmer fallen, wenn nicht andere an die Stelle des von den

Abschreibungen zehrenden, gewesenen Rentners träten, wenn nicht die von den Zinslasten

befreiten Arbeiter das tun würden, was die gewesenen Rentner nicht mehr

tun können. Den Teil der Abschreibungen, den der gewesene Rentner verzehrt, werden

also die Sparer ersetzen, allerdings auch nur, um im Alter von den erwarteten

Abschreibungen leben und zehren zu können.

Es ist also nicht nötig, daß die Häuser, Fabriken, Schiffe usw. Zins abwerfen, um

die Mittel zu ihrer Herstellung von allen Seiten anzulocken. Diese Dinge erweisen

sich nach Einführung des Freigeldes für alle Sparer als das beste Aufbewahrungsmittel

für die Ersparnisse. Indem die Sparer die Überschüsse in Häusern, Schiffen,

Fabriken anlegen, die keinen Zins eintragen, wohl aber sich in Abschreibungen wieder

auflösen, sparen sie die Kosten der Wartung und Lagerung dieser Überschüsse,

und zwar vom Tage an, wo der Überschuß gemacht wurde, bis zum Tage, wo er

verzehrt werden soll; und da zwischen diesen beiden Tagen oft Jahrzehnte liegen

(ein Jüngling, der für sein Alter spart!), so sind es große Vorteile, die die genannten

Geldanlagen den Sparern bieten.

Der Zins ist ja sicher ein besonderer Reiz für den Sparer. Aber nötig ist dieser

besondere Reiz nicht. Der Spartrieb ist auch ohne diesen Reiz stark genug. Übrigens,

so kräftig der Zins als Sparreiz auch wirken mag, so ist er doch keinesfalls

stärker als das Hindernis, das der Zins dem Sparer errichtet. Infolge der Zinslasten

heißt Sparen heute für die Volksmassen – entsagen, entbehren, hungern, frieren und

nach Luft schnappen. Denn gerade durch den Zins, den der Arbeiter erst für andere

aufbringen muß, wird der Arbeitsertrag so stark beschnitten, daß in der Regel der

Arbeiter an Sparen überhaupt nicht denken kann. Ist also der Zins ein Sparreiz, so ist

er in noch stärkerem Grade ein Sparhindernis. Der Zins beschränkt die Sparmöglichkeit

auf ganz kleine Kreise, und die Sparfähigkeit auf die Wenigen aus diesen Kreisen,

die den nötigen Entsagungsmut dazu haben. Sinkt der Zins auf Null, so steigt

der Arbeitsertrag um den vollen Betrag der Zinslasten, und entsprechend erweitert

sich die Sparmöglichkeit und Sparfähigkeit. Und es ist doch sicher leichter, von 200

Mark als von 100 Mark 5 Mark zu sparen. Und wahrscheinlich wird derjenige, der durch

die Zinsaussichten mitbestimmt wurde, bei 100 Mark sich und seinen Kindern 10 Mark

am Munde abzusparen, bei 200 Mark ohne jenen Reiz, aus natürlichen Spartrieben,

wenn auch nicht 110 Mark, so doch erheblich mehr als 10 Mark sparen.

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