Martina Frei (infosperber)
Die Einkommen der Arbeiter blieben gleich tief, während Milliardäre um über 70 Prozent zulegten.
Die Gesellschaft befinde sich in einer Spirale des Niedergangs. Die Machtkonzentration der falsch handelnden Elite trage dazu bei. Zu diesem Befund kommt die Management-Professorin Michaéla Schippers von der Erasmus Universität Rotterdam. Zusammen mit dem Infektiologen und Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University und Matthias Luijks von der Philosophischen Fakultät der Universität Groningen weist sie in einem Artikel in «Frontiers in Sociology» auf die enormen Folgen der wachsenden sozialen Ungleichheit hin. «In der gegenwärtigen Gesellschaft hat eine Elite reichlich Zugang zu Ressourcen, während die Massen zunehmend Mühe haben, um zu überleben.»
Schippers erinnert daran, dass es kurz vor dem Niedergang des römischen Reichs keine Mittelklasse mehr gab. Die Schere zwischen Arm und Reich war weit aufgegangen: Reiche Römer besassen Liegenschaften, die schätzungsweise rund 200’000-mal soviel wert waren wie das bisschen, das der grossen Masse der Landlosen – vielleicht – noch verblieben war. Die Professorin für Verhaltensweisen und Management erkennt darin Parallelen mit der aktuellen Lage. Sie stützt sich nebst vielen anderen Quellen auch auf Auswertungen von «inequality.org».
Corona-Pandemie machte Reiche noch viel reicher
Diese zeigen, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich seit der Pandemie aufgegangen ist: Von März 2020 bis Oktober 2021 stieg das Vermögen von US-Milliardären um über 70 Prozent, von 2’947 Milliarden US-Dollar auf 5’019 Milliarden. Die wohlhabendsten fünf – Jeff Bezos, Bill Gates, Mark Zuckerberg, Larry Page, und Elon Musk – konnten ihren Reichtum in dieser kurzen Zeit mehr als verdoppeln.
Der durchschnittliche US-Arbeiter dagegen bekam im gleichen Zeitraum einen Zustupf von 0,19 Prozent und konnte sein Einkommen marginal steigern: von 30’416 auf 30’474 US-Dollar.
Falsche Entscheidungen, Kurzsichtigkeit, Gruppendenken
Schippers, Ioannidis und Luijks gehen davon aus, dass die wachsende Ungleichheit eine gesellschaftliche «Todesspirale» in Gang gesetzt habe: «Ein Teufelskreis von sich selbst verstärkendem, dysfunktionalem Verhalten, das durch ständige fehlerhafte Entscheidungen, kurzsichtige, einseitige Konzentration auf eine (Reihe von) Lösung(en), Verleugnung, Misstrauen, Mikromanagement, dogmatisches Denken und erlernte Hilflosigkeit gekennzeichnet ist.»
Die drei Autoren führen sinnbildlich die «Ameisenmühle» an. Bei diesen Insekten kommt es vor, dass sie gegenseitig ihren Spuren folgen und immer im Kreis laufen. Der im Kreis laufende Strudel wird immer grösser, und die Tiere sterben schliesslich an Erschöpfung, unfähig, diese Todesspirale zu verlassen.
Ein ähnliches Phänomen, befürchtet Schippers, habe auch westliche Gesellschaften erfasst. Gruppendenken, das Ausgrenzen und Zum-Schweigen-Bringen von Andersdenkenden sowie repetitiv falsche Entscheidungsmuster und Reaktionen auf Krisen begünstigten die Todesspirale der Gesellschaft.
«Überwachungskapitalismus», der auch die Medien beeinflusst
Ein wichtiges Problem, mit dem die USA zu kämpfen hätten, «ist nicht nur die Zunahme der enormen wirtschaftlichen Ungleichheiten, sondern auch die politische Spaltung der Gesellschaft, die militärische Übermacht und Finanzkrisen. Die Machtelite hat Positionen inne, die es ihr ermöglichen, Entscheidungen zu treffen, die weitreichende Folgen für die einfachen Menschen haben. Sie ist auch oft in einer Position, in der sie Politiker und Interessengruppen beeinflussen kann. Gleichzeitig sprechen einige Autoren von einer Netokratie, einer globalen Oberschicht mit einer Machtbasis, die sich aus technologischem Vorsprung und Netzwerkfähigkeiten ergibt. Die neue Unterschicht oder Masse wird als Konsumgesellschaft bezeichnet, deren Hauptaktivität der Konsum ist, der von den Machthabern reguliert wird.»
Schippers und ihre Kollegen schreiben vom «Überwachungskapitalismus», in dem grosse, datensammelnde Firmen Entscheidungen beeinflussen würden. «Besorgniserregend ist, dass strategische Akteure wie Grossunternehmen und Regierungen (also die Elite) die Medien ungleichmässig beeinflussen können.» Was als wahr oder falsch gelte, werde immer enger definiert, bis hin zur Behauptung, «dass nur von der Regierung oder anderen Eliten unterstützte Erzählungen die Wahrheit darstellen.» Machtkonzentration sei oft begleitet von autoritärem Verhalten und dem erzwungenen Einhalten neuer Regeln, Normen und Verhaltensmuster.
Vergleich mit einer untergehenden Firma
Gehe es mit einer Firma bergab, würden die Verantwortlichen oft zu lange zögern, bis sie dies anerkennen und wirkungsvoll gegensteuern. Auf eine frühe Phase des Ignorierens von Warnzeichen, des Verleugnens und des Nicht-Handelns folge typischerweise eine Phase des Überreagierens mit drastischen Massnahmen. Diese Überreaktion würde das Problem jedoch noch verschärfen, anstatt die Gefahr abzuwenden.
«Wir glauben, dass auf der gesellschaftlichen Ebene ähnliche Prozesse ablaufen können», schreiben Michaéla Schippers und ihre Kollegen.
In Firmen, die im Niedergang begriffen seien, verändere sich das Klima: Die Manager misstrauten sich, gingen sich aus dem Weg, verheimlichten sich gegenseitig Informationen, beschuldigten sich gegenseitig. Die Mitarbeitenden würden nicht mehr zusammenarbeiten und zusammenhalten.
In «toxischen» Firmenkulturen würden immer mehr Regeln und Formalitäten von oben herab blind durchgesetzt, die Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sinke ebenso wie die Moral, und die Regeln würden auch unterlaufen. Es herrsche ein Mangel an Initiative, weil viele das Gefühl hätten, die Lage sowieso nicht ändern zu können. Anstatt gemeinsam darüber nachzudenken, wie sie die Situation verbessern könnten, klammere sich jeder und jede an die verbliebenen, immer knapper werdenden Ressourcen. Die Aggressivität gegen andere steige.
Keine Bereitschaft zum Aufarbeiten
Ähnliches stellen die drei Autoren auch in der heutigen Gesellschaft fest. Während Krisen würden Emotionen leichter hochkochen, was Überreaktionen begünstige. Regierungen könnten dann nach dem Motto «Hauptsache handeln» agieren und Massnahmen ergreifen, «unabhängig davon, ob sie notwendig sind oder nicht [… und ] obwohl sie wissen, dass die Massnahmen möglicherweise mehr schaden als nutzen». Wenn die Krise vorüber sei, erfolge kein sorgfältiges Abwägen des Dafür und Dawider, das den (Fehl-)Entscheidungen zugrunde lag.
Mit Blick auf die Corona-Pandemie schreiben die drei Autoren: Die Tendenz zu handeln, das falsche Festhalten an Dingen, in die schon viel investiert wurde, immer mehr Engagement, dazu die (im Nachhinein erkannte) Überschätzung der zu erwartenden Infektionssterblichkeit «führte zu einer katastrophalen Kette von sich selbst verstärkenden Entscheidungen». Anstatt zurückzurudern, wurden die Massnahmen verdoppelt und ein Narrativ verteidigt, das die politischen Entscheidungen unterstützte. «Das führte zu einer Todesspirale aus minderwertigen Entscheidungen und ernsten Folgen.»
In der letzten Phase der «Todesspirale», wenn die Ressourcen schwinden, wollten Einzelne und Gesellschaften ihren Besitz oder das Erreichte bewahren und würden in einen Verteidigungsmodus mit oft aggressivem oder irrationalem Verhalten verfallen.
Wege aus dem Schlamassel
Wolle man dieser Abwärtsbewegung entkommen, habe der Abbau von Ungleichheit «oberste Priorität». Ziel sei nicht völlige Gleichheit, weil dies den Innovationsgeist und Kreativität abwürgen könne, sondern ein vertretbares Mass an Einkommensunterschieden. Das Wohlergehen der Gesellschaft und des Einzelnen sollten massgebend sein bei Regierungsentscheiden.
Anstatt Sündenböcke zu suchen, brauche es einen offenen Geist, Reflektion und das Wiederherstellen von Vertrauen. Schippers und ihre Kollegen führen das Beispiel von Nelson Mandela an. Er habe keine Tribunale, sondern die Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt. Ein Problem sei jedoch, dass solche Führungspersonen von der herrschenden Elite als Feinde betrachtet werden können.
Anstelle einer Minderheit, die Entscheidungen treffe, sollten mehr Personen und die betroffene Bevölkerung in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Gegenseitiger Respekt, Zuhören, um die Perspektive des anderen zu begreifen, Mitgefühl und Humanität, das Anerkennen, dass andere leiden, seien wichtig, auch um der gesellschaftlichen Polarisierung etwas entgegen zu setzen.
Ziviler, intelligenter Ungehorsam, seine Stimme zu erheben und kollektives Handeln können Mittel sein, um Gegensteuer zu geben, wenn die politische Führung Massnahmen ergreife, die der Gesellschaft als Ganzes schaden würden. Friedlicher, kollektiver Widerstand habe sich dabei historisch als wirksamer erwiesen als Gewalt, um Demokratie (wieder-)herzustellen. Man solle es den Mächtigen nicht abkaufen, wenn sie das «neue Normal» als unvermeidlich darstellten.
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