Das Virus, die Wirtschaft, die Demokratie und die Menschenrechte

von Leo Mayer (isw)

Das Coronavirus beherrscht Politik und Medien, beeinflusst die Wirtschaft und das tägliche Leben. Das öffentliche Leben ist weitgehend lahmgelegt. Der Krieg in Syrien, Klimakrise, das Flüchtlingselend an der türkisch-griechischen Grenze und in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln, die humanitäre Krise der Europäischen Union im Umgang mit Flüchtenden sind durch das Virus aus den Nachrichten verdrängt.

HIV, ein Virus, das immer noch 770.000 Todesfälle pro Jahr verursacht, derzeit über 37 Millionen Menschen betrifft und jährlich um 1,5 Millionen zunimmt, war schon länger keine Schlagzeile mehr wert, als klar wurde, dass es vor allem die Menschen in der kapitalistischen Peripherie angreift. Gleiches gilt für Tuberkulose, an der jährlich fast 9 Millionen Menschen erkranken und etwa 1,4 Millionen Menschen sterben, meist aufgrund einer unzureichenden Behandlung. Oder Malaria. Oder …, oder … – alles Krankheiten, die marginalisierte und verletzliche Bevölkerungsgruppen oder die Slums der Armen im »globalen Süden« heimsuchen und die die globale Wirtschaft und die Einnahmequellen der »Elite« nicht bedrohen.Anders Corona. Ein Virus, das blitzschnell in die kapitalistischen Zentren übergesprungen ist und die Grundlagen der globalen Wirtschaftsströme bedroht. Dementsprechend sind die Reaktionen. Ein Virus, das die Schlagadern des globalen Kapitalismus bedroht, ist eben doch etwas anderes als ein Virus, das nur in den Slums der Armen wütet.

Ausbreitung bremsen

Noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Pandemie ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Zahl der Neuinfizierten und Toten steigt täglich. Es ist kein Impfstoff in Sicht, und niemand scheint einen vernünftigen Plan zur Überwindung der Situation zu haben. Eine zentrale Unsicherheit in der Risikoabschätzung der weiteren Entwicklung bleibt die zu erwartende sogenannte Letalität, der Anteil der Todesfälle an allen Infizierten.

Die Gesundheitssysteme in den am schlimmsten betroffenen Ländern befinden sich an der Belastungsgrenze.

In Italien zeigen sich die grausamen Folgen, wenn das Coronavirus auf ein kaputtgespartes, gewinnorientiertes Gesundheitswesen trifft – 1975 gab es in Italien 10,6 Krankenhausbetten pro 1.000 Bürger*innen, jetzt sind es 2,6. Im Zeitraum von 2009-2017 wurden 46.500 Arbeitsplätze im Gesundheitswesen abgebaut.

In Krankenhäusern sind wir wie im Krieg. Es wird je nach Alter und Gesundheitszustand entschieden.
Christian Salaroli, Anästhesist in Bergamo

Jetzt können Ärzt*innen und Pflegekräfte nicht mehr allen Erkrankten helfen, sondern müssen abwägen, wer behandelt wird. Die Kapazitäten genügen nicht und lebensrettende Beatmungsgeräte fehlen, um alte oder schwerkranke Menschen zu behandeln.

„Diese Personen haben statistisch gesehen keine Chancen, das kritische Stadium der Infektion zu überleben“, sagt Christian Salaroli, Anästhesist und medizinischer Leiter im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII im norditalienischen Bergamo, der Zeitung Corriere della Serra. Die Ärtz*innen mussten die sogenannte „Triage“ einführen:

Es wird nach Alter und Zustand entschieden. Wie in allen Kriegssituationen. Das sage nicht ich, sondern die Handbücher, aus denen wir gelernt haben. … Es kommt immer ein Zeitpunkt, an dem man eine Entscheidung treffen muss. … Da es leider ein Missverhältnis zwischen den Krankenhausressourcen, den Intensivbetten und den Schwerkranken gibt, wird nicht jeder intubiert. … Wenn eine Person im Alter zwischen 80 und 95 Jahren an schwerem Atemversagen leidet, ist es unwahrscheinlich, dass man weitermacht. Das war’s dann.

Dem Gesundheitssystem droht der Kollaps

Auch in Deutschland hat der neoliberale Umbau des Gesundheitswesens in ein kommerzielles System, die Finanzierung nach den sog. »Fallpauschalen« und der Abbau angeblicher »Überkapazitäten« zu einer Unterversorgung schon im »Normalzustand« geführt. In den Krankenhäusern fehlen Ärzt*innen und Pflegepersonal.

Wenn die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus nicht gebremst wird, dann drohen Zustände wie in italienischen Krankenhäusern. Die aktuelle Hauptgefahr besteht nicht darin, dass es sich beim Coronavirus um ein höchst aggressives Virus wie Ebola handeln würde, sondern dass ein exponentieller Anstieg der Krankheitsfälle das Gesundheitssystem zum Kollaps bringen würde.

Nur wenn die Ausbreitung des Virus gebremst werden kann, haben auch alle Schwachen in unserer Gesellschaft – ältere, gesundheitlich angeschlagene, arme Menschen – eine Chance auf eine Behandlung, die Leben rettet.





Recht auf Gesundheit versus andere Menschen- und Bürger*innenrechte

Aus diesem Grund dürfen die Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden, nicht reflexartig auf das übliche Paradigma von Überwachung und Kontrolle reduziert werden.

Und dennoch: Fast beunruhigender als die aktuelle Entwicklung des Coronavirus erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der die massiven Einschränkungen von wesentlichen Grundrechten von Millionen Bürger*innen als notwendig und gerechtfertigt angesehen und hingenommen werden, wenn es um den vermeintlichen Schutz vor gefährlichen Keimen geht. Und wie schnell die Kritik am Ausbau des »Überwachungsstaates« und die Forderung danach, dass die Bürger*innen den Staat kontrollieren sollten – und nicht umgekehrt – verstummt ist.

Italien: „historisch in einer westlichen Demokratie ohne Vorbild“

Die italienische Regierung hat sich von China inspirieren lassen: Ganze Regionen wurden unter Quarantäne gestellt, die Zugänge von Militär und Polizei abgeriegelt. Mit mehreren Dekreten wurde das öffentliche Leben völlig zum Stillstand gebracht und ein Maßnahmenbündel erlassen, „das historisch in einer westlichen Demokratie ohne Vorbild ist„.

Die Regierung in Rom hat die Schließung aller Restaurants und Bars sowie aller Geschäfte mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Apotheken verfügt. Der Schul- und Universitätsbetrieb, das gesamte kulturelle Leben wurde eingestellt. Die Wohnung darf nur noch aus wenigen Gründen verlassen werden: aus gesundheitlichen Gründen, zum Lebensmitteleinkauf oder weil man auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn man das Haus verlässt, ist auf einen Abstand von mindestens 1,5 Metern zum nächsten Menschen zu achten, Menschenansammlungen und Streiks sind verboten. Und wer sich unbefugt im Land bewegt, dem droht eine hohe Geldstrafe oder sogar Haft.

Für Profit keine Quarantäne

Zwar fordert die Regierung die Beschäftigten auf, von Zuhause aus zu arbeiten oder bezahlten Urlaub zu nehmen und empfiehlt die Schließung „nicht wesentlicher“ Produktionsanlagen. Doch das Dekret hat die vollständige Schließung der Produktion nicht angeordnet, sondern überließ diese Entscheidung den Unternehmen.

Jetzt fordern die drei größten Gewerkschaften des Landes, Cgil, Cisl und Uil, die Schließung aller Fabriken bis zum 22. März, mit Ausnahme derer, die „wesentliche öffentliche Dienste“ und den Gesundheitssektor bereitstellen, um „alle Arbeitsstätten zu sanieren, zu sichern und umzustrukturieren“, und den Schutz aller exponierten Beschäftigten, wie z.B. der Beschäftigten in Supermärkten und der Lieferarbeiter*innen. Sollte diese Forderung nicht erfüllt werden, drohen die Gewerkschaften mit Streik.

„Fabrikarbeiter sind nicht 24 Stunden minus acht Stunden Bürger*innen. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie ihr tägliches Leben durch viele Regeln geschützt und garantiert sehen, aber sobald sie die Fabriktore passiert haben, befinden sie sich im Niemandsland“, sagte Francesca Re David von der Metallgewerkschaft Fiom-Cgil gegenüber der Tageszeitung La Repubblica.

Spanien: Ausgangssperre, mit Ausnahme des Wegs zur Arbeit

Die spanische Regierung schränkt die Bewegungfreiheit wegen der Coronakrise weitgehend ein, Bürger*innen dürfen nur noch für die Arbeit oder den Einkauf in Apotheken und Lebensmittelläden nach draußen.

Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez hat wegen der Corona-Pandemie den nationalen Notstand ausgerufen. Das Dekret tritt am Montag (16.3.) um 8 Uhr in Kraft und gilt vorerst für 15 Tage. Es gibt eine landesweite Ausgangssperre, die Menschen dürfen ihre Häuser und Wohnungen nur noch verlassen, um zur Arbeit zu gehen oder Nahrung einzukaufen. Alle Geschäfte mit Ausnahme von Lebensmittelläden und Apotheken werden geschlossen.

Österreich: Versammlungsfreiheit abgeschafft

In Österreich sind alle Restaurants geschlossen, Versammlungen sind gänzlich untersagt. Um die Versorgung des Landes langfristig zu sichern und die Einhaltung des Ausgangsverbotes zu kontrollieren, unterstützen Militär-Einheiten die Polizei.

Wie Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einem Interview am Samstag erklärte, gibt es nur noch drei Gründe, das Haus zu verlassen: Erstens, die Arbeit oder der unaufschiebbare Dienst. Zweitens, notwendige Besorgungen. Drittens, andere Menschen zu unterstützen, die sich nicht selbst helfen können. A1, das größte Telekomunternehmen des Landes, stellt der Regierung ohne Rechtsgrundlage die Bewegungsprofile aller Handynutzer österreichweit zur Verfügung. Die Weitergabe der Daten soll helfen, die „Pandemie einzudämmen“, erklärt A1.

Dänemark: Notfalls mit Militär. Zuvor nicht denkbare Notstandsregelungen

In Dänemark ist die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit mit einem Ausnahmegesetz bis zum 1. März 2021 faktisch abgeschafft. Die Gesundheitsbehörden können ab sofort Zwangstests, Zwangsimpfungen sowie Zwangsbehandlungen anordnen und für die Durchsetzung ihrer Anordnungen neben der Polizei auch Militär sowie private Wachdienste einsetzen.

Die Regierung wollte außerdem, dass die Behörden sich ohne gerichtliche Verfügung Zugang zu Wohnungen verschaffen können, um einem Corona-Verdacht nachgehen zu können. Dies wurde in letzter Minute aus der Gesetzesvorlage gestrichen. Im Gegenzug stimmte das Kopenhagener Parlament dem Gesetz einstimmig zu – islamophobe Rechte und auch die linke Einheitsliste trugen die Regelung mit. Der Sprecher der Einheitsliste, Peder Hvelplund, sagte: „Dies sind schon sehr weitgehende Einschränkungen der bürgerlichen Freiheit, die uns schwerfallen.“ Aber schließlich gehe es um schnelle und entschlossene Maßnahmen zum Schutz der am stärksten gefährdeten Gruppen in der Gesellschaft, der Alten und chronisch Kranken, so Peder Hvelplund.

Deutschland: „Bundeswehr stärker einbinden“

Deutschland schließt die Grenzen zu Frankreich, der Schweiz, Österreich und Dänemark. Ausnahmen gelten für den Warenverkehr zur Aufrechterhaltung der Lieferketten und für Pendler*innen. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hebt das Sonntagsfahrverbot für LKW auf und lockert die Lenk- und Ruhezeiten für LKW-Fahrer*innen, damit Supermärkte stetig beliefert werden können, so Scheuer.

„Wenn wir dann zu Engpässen kommen, kann die Bundeswehr die Versorgung auffangen“, kündigt Scheuer an. Auch sein Parteivorsitzender, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, fordert eine stärkere Einbindung der Bundeswehr in den Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie. „Wir sollten überlegen, die Bundeswehr stärker einzubinden“, sagt der CSU-Chef am Samstag. Diese teilt mit, dass sie „die zivilen Gesundheitsbehörden im Kampf gegen das Coronavirus im Rahmen von Amtshilfe“ bereits unterstützt.

Auf Grund der föderalen Struktur gibt es in Deutschland keine einheitlichen Maßnahmen. In Bayern werden Bars und Schwimmbäder weitgehend geschlossen, für Gastronomie und Geschäfte kommt es zu Einschränkungen, nicht aber für Supermärkte und Banken. Schulen und Kitas bleiben in Bayern von Montag (16.3.) bis zum 19. April geschlossen. Supermärkte, Lebensmittelgeschäfte, Drogerien, Apotheken, Banken und einige weitere Geschäfte dürfen werktags bis 22.00 Uhr öffnen und auch sonntags geöffnet haben, dann bis 18.00 Uhr. Was das mit der Eindämmung der Pandemie zu tun hat? Nicht ganz klar, aber der bayerische Ministerpräsident kommt damit dem seit langem geäußertem Wunsch des Einzelhandels nach längeren Ladenöffnungszeiten nach.

Zum Schutz der bayerischen Wirtschaft vor den Folgen der Coronakrise stellt der Freistaat Bayern bis zu zehn Milliarden Euro bereit. Dazu wird die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse außer Kraft gesetzt, zunächst auf ein Jahr begrenzt.

Auch Hamburg schränkt nun das öffentliche Leben weiter ein: Nach der Schließung von Kitas, Schulen und Hochschulen sowie den staatlichen Kultureinrichtungen trifft es nun auch Clubs und Bars. Sämtliche Veranstaltungen werden untersagt. Dies gelte für alle öffentlichen und nichtöffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen unabhängig von der Zahl der Teilnehmer*innen, teilte der Senat am Sonntag (15.3.) mit.

Bewegungsdaten zur Überwachung

Die Möglichkeiten technikgestützter Überwachung, die in China, Hongkong oder Südkorea praktiziert werden, führen auch in Deutschland zu Diskussionen. In Hongkong werden Einreisende aus China verpflichtet, ein Armbandgerät zu tragen, mit dem die Staatsmacht ihren Aufenthaltsort jederzeit feststellen kann. In Südkorea schicken die Behörden in Zusammenarbeit mit den örtlichen Telekommunikationsanbietern Warnbotschaften an die Handys von Anwohnern, die in unmittelbarer Nähe von Coronavirus-Hotspots registriert sind. Flächendeckend werden die Bewegungsabläufe von Infizierten online für alle einsichtlich veröffentlicht.

Davon inspiriert äußerte der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, das Auslesen von Mobilfunkdaten sei „eine gute Möglichkeit, um Kontaktpersonen von Infizierten aufzuspüren“. Das Robert-Koch-Institut und das Heinrich-Hertz-Institut der Fraunhofer Gesellschaft würden derzeit gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium prüfen, ob Standortdaten von mit dem Coronavirus infizierten Handynutzern verwendet werden könnten, um mögliche Kontaktpersonen zu ermitteln, teilte Wieler mit. „Die Frage ist, ob unsere Gesellschaft so etwas akzeptieren kann“, schränkte er ein und schlug vor, dass die Menschen freiwillig ihre Daten für den Gesundheitsgedanken „spenden“ sollten.

Die Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, Marit Hansen, warnt vor der »Freiwilligkeit«. „Ich befürchte, dass aus der Idee einer freiwilligen Spende ein gar nicht mehr freiwilliger Gruppendruck entsteht – ganz nach der Parole: »Wer nicht mitmacht und alle seine Daten hergibt, gefährdet die Gesellschaft«“. Hansen warnte weiter: „Wer solche genauen Informationen aber sammelt und ja wohl auch mit anderen Daten zusammenführen will, hat damit Zugriff auf die vollständigen Bewegungen und Aufenthaltsorte im Leben der Betroffenen.“ Damit ließen sich „Muster und Veränderungen im Leben“ der Betroffenen feststellen. „Beispielsweise können Erkenntnisse zu politischen Meinungen – Besuch von Demonstrationen oder Partei-Veranstaltungen – sowie zu Freunden, Bekannten, Freizeitverhalten, Reisetätigkeiten und sogar zu Geschwindigkeitsüberschreitungen beim Autofahren abgeleitet werden“, gibt die Datenschützerin zu bedenken.





Unterstützung für die Wirtschaft: „nicht gekleckert, es wird geklotzt“

Ob nationale Regierung oder Europäische Union, sie machen Milliarden locker, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie einzudämmen. Es werde „nicht gekleckert, es wird geklotzt“, sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und kündigte prinzipiell unbegrenzten Kredithilfen für Unternehmen an. Eventuell werde man später im Jahr noch ein Konjunkturpaket schnüren, so der Finanzminister.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) verspricht der Wirtschaft 500 Mrd. Euro und schließt vorübergehende Verstaatlichungen nicht aus, wenn Unternehmen trotz Kurzarbeitergeld, Krediten und Steuerstundungen nicht durch die Corona-Krise kommen.

Die EU will europaweit Unternehmen, die vom Coronavirus betroffen sind, bei Liquiditätsengpässen unterstützen und dazu eine »Corona Response Initiative« mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro einrichten. Die Europäische Zentralbank EZB dehnt ihr Anleihekaufprogramm bis Jahresende um bis zu 120 Milliarden Euro aus. Dabei will sie stärker als bisher neben Staats- auch Unternehmensanleihen kaufen. Zudem erhalten Banken neue großzügige Liquiditätsspritzen.

Gerade prekär Beschäftigte, in »Minijobs« schuftende, aber auch die, die sich als »Freie« oft genug von einem Job zum nächsten hangeln, werden in Kürze vor großen Problemen stehen. Viele werden voraussichtlich bald ganz ohne Einkommen dastehen, z.B. in der Gastronomie, im Messebau oder der Veranstaltungstechnik. Auch die anderen, Befristete, Minijobber und Zweitjobberinnen oder hinzuverdienende Rentner und Rentnerinnen, werden in Not geraten. Bleiben sie zuhause, verlieren sie ihr Einkommen und vielleicht den Job, gehen sie weiter Pakete oder Pizza ausfahren, werden sie möglicherweise krank und infizieren danach andere. Dass sie – wie die Banken und Konzerne oder auch Teile des Mittelstands – unter einen »Rettungsschirm« der Politik geholt werden, ist zweifelhaft.

Das Virus trifft auf eine Weltwirtschaft mit „Vorerkrankungen“

An den Finanzmärkten hat die Corona-Pandemie eine Panik ausgelöst. Die Aktienmärkte sind innerhalb von Wochen um bis zu 30% eingebrochen. Das Virus trifft auf eine Weltwirtschaft mit „Vorerkrankungen“.

Schon vor der Pandemie verlangsamte sich die Wirtschaftstätigkeit in den meisten großen kapitalistischen Volkswirtschaften, sei es in der so genannten entwickelten Welt oder in den „Entwicklungsländern“ des „Globalen Südens“. Einige Volkswirtschaften schrumpften bereits in der nationalen Produktion und bei den Investitionen, viele andere standen kurz davor. Die Rentabilität des Kapitals sank schon lange, bevor die Pandemie ausbrach. Die Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Privaten hat rasant zugenommen. Der globale Handel und die Investitionen waren rückläufig, die Ölpreise sind zusammengebrochen. Jetzt lässt das Coronavirus die internationalen Produktions- und Lieferketten reißen.

Corona ist jetzt der Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist das „Minsky-Moment“ nach dem us-amerikanischen Keynesianer Hyman Minsky, der argumentierte, dass der Kapitalismus stabil zu sein scheint, bis er es nicht mehr ist, weil Stabilität in einer gewissen Phase Instabilität hervorbringt. Eine marxistische Argumentation würde sagen: Diese Instabilität hat sich aufgrund der zugrunde liegenden Widersprüche in der kapitalistischen Produktionsweise angesammelt. Das Virus ist nur der Auslöser, der alle zuvor angesammelten Widersprüche an die Oberfläche und zum Ausbruch bringt. Es spricht sehr viel dafür, dass die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise schlittert, tiefer als 2008/2009 – und Regierungen und Zentralbanken haben den größten Teil ihres Pulvers bereits verschossen.

Corona, ein Weckruf für die globale Menschenrechtsgemeinschaft

Ob autoritär-neoliberal orientierte oder rechtsnationalistische Regierungen, alle versuchen den Crash zu mildern und die Produktion aufrecht zu erhalten. Deshalb die Inkonsequenz in ihren Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie: Versammlungs- und Streikverbote, Einschränkung der individuelle Bewegungsfreiheit, aber Aufrechterhaltung der »Freizügigkeit« für den Weg zur Arbeit und zur Produktion, wo Hunderte, wenn nicht Tausende, zusammenkommen. Gleichzeitig nutzen sie die Sorge der Menschen um die Gesundheit, um den Überwachungsapparat auszubauen. Deshalb spielen Menschenrechte und Demokratie in ihren Überlegungen keine Rolle.

Der südafrikanische Menschrechts- und Gesundheitsaktivist Mark Heywood kritisiert, dass selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem »Situation Report25« vom 14. Februar 2020 sechs »strategische Ziele der WHO für die Reaktion« auf die Corona-Pandemie nennt, aber den Schutz der Menschenrechte nicht erwähnt. So werden das Recht auf Gesundheit gegen andere Menschen- und Bürger*innenrechte ausgespielt.

Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren. Entweder setzt sich die brutale Logik durch, nach der die Stärkeren überleben, die dann das gesellschaftliche Zusammenleben, noch stärker prägen wird, als es jetzt schon ist. Oder es setzt sich eine neue Art der Solidarität und der globalen Koordination und Zusammenarbeit durch.

Dass Donald Trump versucht, Zugriff auf die Tübinger Impfstoffhersteller CureVac zu bekommen, um sich die Rechte an einem Coronavirus-Impfstoff „exklusiv für die USA“ zu sichern, ist Ausdruck der einen Perspektive; dass chinesische und cubanische Ärzte jetzt in Italien eingetroffen sind, um im Kampf gegen die Pandemie zu helfen, ist Ausdruck der anderen.

In einer solchen Perspektive wären dann auch die Entscheidungen zur Einschränkung der Bewegung und zur sozialen Distanzierung in Zeiten von Epidemien oder zur Vermeidung individueller und kollektiver Praktiken, die der Umwelt schaden, das Ergebnis demokratisch diskutierter kollektiver Entscheidungen – und der bewussten Verantwortung in Bezug auf andere und letztendlich auf uns selbst.

„Wie auch immer es ausgehen mag: COVID-19 sollte ein Weckruf für die globale Menschenrechtsgemeinschaft sein“, schreibt Mark Heywood in oben erwähntem Artikel.

Dieser Artikel erschien zuerst bei kommunisten.de.

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