Papiergeld ist periodisch zum Crashen verdammt (I)

Briefe eines Bankdirektors an seinen Sohn

 ERSTER BRIEF

Berlin, in der Silvesternacht 1920/21.

Mitternacht. Draußen, lieber James, läuten die Silvesterglocken wieder einmal ein tolles Jahr zu Grabe. Ein weihevoller Moment für die Menschen, die sich die Stunden ihrer inneren Erhebung vom Kalender vorschreiben lassen. Disraelis »two nations«, die beiden großen Völker, in die jeder sogenannte Kulturstaat sich spaltet, leben in diesem Augenblick ihr Dasein doppelt intensiv. Der Reichtum steigert sein Wohlleben in Wein, Tanz und Spiel bis zum Rausch; ich blicke ihm von meinem Arbeitszimmer aus in die festlich blitzenden Fenster.

Die Armut, die ich nicht sehe, weil sie sich in weit entfernten Stadtvierteln zwischen ihre kahlen vier Wände verkriecht, bringt dem neuen Jahr das schuldige Opfer, indem sie die Tränen des Alltags doppelt reichlich fließen lässt. Ich selbst habe, wie Du weißt, keinen Sinn für Feierlichkeit. Aber ganz kann ich mich der Magie der Silvesternacht dennoch nicht entziehen. Sie zwingt mich zur inneren Sammlung, zur geistigen Einkehr, und manche unklare Empfindung in mir nimmt feste, scharf umrissene Gestalt an.

Ich sehe mich gleichsam auf dem schmalen Grat stehen, der die beiden großen Völker in unserem Vaterlande trennt, die Tanzenden hier, die Weinenden dort. Und indem ich hinunterblicke in dieses zweigespaltene Leben und Treiben, ist es mir, als könnte ich deutlich alle Hebel und Räder des großen Mechanismus erkennen, der die sozialen Verhältnisse der Länder und Kontinente bestimmt und der dem profanen Auge meist verborgen bleibt.

Mein geschärfter Blick übersieht die wirtschaftlichen Gesetze, die Reichtum und Armut entstehen, anwachsen, stillstehen oder abnehmen lassen. Ich sehe, wie unter bestimmten Voraussetzungen die Scheidewand zwischen dem Volk der Besitzenden und dem der Besitzlosen sich hebt oder senkt. Und mit erschreckender Klarheit drängt es sich mir auf, wie verhängnisvoll jene ewigen Wirtschaftsgesetze gerade in dem eben abgelaufenen Jahre wirksam gewesen sind: Um ein ungeheures Stück hat sich die schroffe Scheidewand zwischen den beiden Völkern eines und desselben Landes erhöht. In verdreifachter Menge fließen diesseits die Tränen, jenseits der Wein. Und zugleich mit der Scheidewand wächst aus; dem uralten Groll der beiden Völker, die einander niemals verstehen werden, ein ungeheurer Hass empor, der eines Tages die Kulturwelt in Trümmer legen wird, wenn man seine Ursachen nicht noch rechtzeitig beseitigt.

In dieser klaren Erkenntnis, die ich aus dem Klange der Silvesterglocken schöpfe, setze ich mich an meinen Schreibtisch, um mich mit Dir, mein lieber James, wieder einmal auszusprechen. Ich habe in dieser Stunde den Entschluss gefasst, den Faden von neuem aufzunehmen, den ich vor Jahren habe fallen lassen; die instruktiven Briefe, die ich Dir vor dem Weltkriege gesandt habe, sollen ihre Fortsetzung finden. Docendo discimus: Wer andere belehrt, lernt selbst. Ich will mir über manche Dinge klar werden, indem ich mich zwinge, sie Dir klar zu machen. Und umgekehrt ist es meine väterliche Pflicht, das Wissen, das ich in jahrzehntelanger Berufstätigkeit gesammelt habe, so vollständig wie möglich auf Dich, den Sohn, zu übertragen. Es stände manches besser in der Welt, wenn jede Generation es mit dieser Pflicht ernst nehmen würde, und wenn es selbstverständlich wäre, dass die Summe der väterlichen Kenntnisse regelmäßig das Wissens-Fundament des Sohnes bildete, dem dieser dann ein neues Stockwerk für seine eigenen Nachkommen hinzuzufügen hätte. Auf diese Weise entsteht ein Erbbesitz von Kenntnissen, der gleich wertvoll für den Einzelnen wie für die Gesamtheit ist. Wohl dem Staate, der die Gewissheit hat, dass in jedem Angehörigen eines bestimmten Berufs sich die Summe der Erfahrungen seiner Vorfahren verkörpert! Er findet überall gefestigte Traditionen vor und weiß ohne weiteres, wo er seine Regenten, seine Diplomaten, seine Offiziere, seine Richter und seine Beamten zu suchen hat. Er braucht nicht zu experimentieren und die Klassen durcheinander zu schütteln.

Ich weiß sehr wohl, mein Sohn, dass dies Deinen freiheitlichen Anschauungen nicht entspricht, und mache keinen Versuch, Dich zu bekehren. Die Bekehrung kommt von selbst, wenn Du erst in meinen Jahren bist. Dann wirst Du die tiefe Weisheit des altägyptischen und indischen Kastenprinzips ahnen, das jeden Menschen da belässt, wo er wurzelt, wo er die seiner Konstitution entsprechenden Daseinsbedingungen vorfindet und dem Ganzen mit seiner ausgeglichenen Person am besten nutzt. Du bist der Sohn eines Bankdirektors und selbst künftiger Bankenleiter. Es würde auf mich zurückfallen, wenn Du das Instrument, das ich Dir eines Tages anvertrauen werde, dieses volkswirtschaftlich so hochwichtige Instrument, stümperhaft handhaben solltest. Wer eine Bank leiten will, muss vor allen Dingen wissen, was eine Bank ist; muss wissen, welche Rolle das Bankwesen eines Landes innerhalb der nationalen Gesamtwirtschaft spielt muss sich bewusst sein, dass bestimmte Funktionen der Banken nicht nur ganz bestimmte ökonomische Wirkungen, sondern auch einschneidende soziale und politische Folgen haben. Das alles erkennt aber nur Derjenige, der die Gesetze des Kapitalmarkts beherrscht, der genau weiß, unter welchen Bedingungen die Produktivität eines Landes sich zu Kapital verdichtet, und wie die einzelnen Verwendungsarten des Kapitals auf die Produktivität des Landes zurückwirken. Hier hat der Mechanismus des arbeitenden Volksganzen seine eigentliche Triebfeder, hier entscheidet sich das wirtschaftliche Geschick des Staates, hier liegt der soziale Keim, der eine und dieselbe Nation in zwei feindliche Völker auseinandersprengt. Wie geschieht dies, warum geschieht dies alles? Es gibt nur einen Weg, mein Sohn, der zur vollen Klarheit hierüber führt, und am Ausgangspunkt dieses Weges steht das Geld. Wenn es heute so wenig Leute, auch unter meinen eigenen Kollegen, gibt, die das tiefinnerste Wesen und Wirken des Kapitalmarkts und der ihn dirigierenden Banken erfassen, so liegt das einzig und allein daran, dass es um die Kenntnis vom Gelde heute so bitterböse bestellt ist.

Bis vor ein paar Jahren hat sich außer den wenigen Fachgelehrten niemand mit dem Geldwesen beschäftigt, und diejenigen, die es getan haben, sind im rein Theoretischen und Abstrakten stecken geblieben. Ganz erklärlich: Es hat ja seit Jahrzehnten an einer zwingenden Veranlassung gefehlt, sich mit dem höchst konkreten Gelde, das lebendig durch alle Märkte pulsiert, eingehender zu beschäftigen. Wie die beste Frau diejenige ist, von der man am wenigsten spricht, so ist vor dem Kriege auch vom Gelde deshalb so selten gesprochen worden, weil es in allen Kulturländern brav und bieder seine Schuldigkeit tat. Das Geld war eine Selbstverständlichkeit, von der man nicht viel Worte zu machen brauchte. Sogar die Nationalökonomen, für die es eigentlich nichts Selbstverständliches gibt, ließen sich von der Hausfrauentugend des Geldes täuschen. Ihre neueren Schulen stellten Theorien auf, die man nur mit Kopfschütteln lesen konnte, wenn man sich der berühmten Assignaten aus der französischen Revolution und der sonstigen Jugendsünden erinnerte, die das brave Geld auf dem Gewissen hatte.

Die maßgebende Ansicht vor dem Kriege war, dass das Geld eine reine Zweckmäßigkeitseinrichtung des Staats sei, etwa wie die Polizei und das Paßwesen, nützlich, aber nicht unentbehrlich. Man könne mit Geld wirtschaften aber auch ohne Geld. Auf seine äußere Gestalt und seinen inneren Wert komme es absolut nicht an. Der Staat sei souveräner Herr über das Geld, das er aus jedem Stoff, den er für geeignet halte, und in jeder Menge, die er als erforderlich erachte, herstellen könne. Auch du, lieber James, hast damals das Geld für nichts anderes als ein Geschöpf der staatlichen Rechtsordnung, oder, was in diesem Falle dasselbe ist, der staatlichen Willkür gehalten. Ich habe Dich trotz aller Bemühungen keines Besseren belehren können. Du wolltest genau so wenig wie die Anderen einsehen, dass der Staat im Grunde gar nichts mit der Entstehung des Geldes zu schaffen hat, und dass er, wenn er sich dennoch schöpferisch betätigt, das Geld fast regelmäßig ruiniert.

Inzwischen hat sich in ganz Europa, und nicht zuletzt in Deutschland, die allgemeine Unkenntnis in Gelddingen furchtbar gerächt. Vom Gelde ausgehend haben soziale Umwälzungen stattgefunden, die sich eines Tages vielleicht noch folgenschwerer erweisen werden als die politischen Veränderungen, die der Weltkrieg hervorgerufen hat. Große Ursachen, kleine Wirkungen: Auch Dein Unglaube ist erschüttert worden. Das Samenkorn meiner Belehrung fällt heute auf empfänglicheren Boden als noch vor zwei Jahren. In einem Deiner letzten Briefe bittest Du mich selbst, ich möchte Dir ein Fensterchen öffnen, durch das Du einen Einblick in den verborgenen Mechanismus des Geldwesens gewinnen könntest. Nun, ich will versuchen, Dir das Fenster so weit aufzutun, dass Du das gewaltige Gebäude des Geldverkehrs vom Fundament bis zum Giebel übersehen kannst. Der Weg soll der altgewohnte sein: In einer Reihe von Briefen werde ich Dich etappenweise durch die Gebiete des Geldes, des Kredits, des Kapitals und des Bankwesens führen, bis Du die großen Zusammenhänge zwischen ihnen erkennst und damit den Ausgangspunkt gewinnst, von dem aus Du durch eigenes Nachdenken den Weg in das Innere der einzelnen Teilprobleme findest. Und zwar sollen die Briefe schnell aufeinanderfolgen, denn es eilt mir mit der Belehrung nicht minder wie Dir mit dem Lernen.

Warum? Weil ich müde bin, lieber James, weil ich bald abdanken will. Ich bin ein Mann der alten Schule und passe nicht in die neue Zeit. Arbeit, Pflichtbewusstsein und Disziplin – Du weißt, dass ich ohne diese drei Elemente nicht wirken kann. Kleine Konzessionen habe ich selbstverständlich oft machen müssen; lieber Himmel, ich bin ein Bankdirektor und kein Anachoret! Aber die Wirtschaft, an deren Fortentwicklung ich mitarbeiten soll, muss als solche einigermaßen gesund sein. Das große Weltgesetzbuch, das richtig verstanden und angewandt alle Spezialgesetze entbehrlich macht, – ich meine das Zweitafelgesetz vom Berge Sinai – muss auch im Wirtschaftsleben respektiert werden. Das ist heute nicht der Fall. Wir leben im Zeitalter des organisierten Diebstahls; eines so raffinierten Diebstahls, dass der Geschädigte kaum merkt, wie er bestohlen wird, und der Dieb seine Finger gar nicht zu beschmutzen braucht, um fremdes Gut an sich zu bringen. Der Vorgang, der das Eigentum vogelfrei macht, erscheint dem einfältigen Auge als eine elementare, dem menschlichen Einfluss entrückte Schicksalsprüfung, die man gottergeben hinzunehmen hat. Nur wenige ahnen, dass das vermeintliche Naturereignis in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein roher Willkürakt der Menschen, den man frevelhaft nennen müsste, wenn hier nicht  Christi Wort gälte: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Sie wissen es wirklich nicht, weil sie nicht wissen, was Geld ist. Es klingt wie eine Profanierung, aber es ist so. Die Unkenntnis vom Gelde wird hier tatsächlich zur epidemischen Unmoral.

Dass inmitten dieses Hexensabbats das Bankgewerbe unfreiwillig im Reigen der Profitierenden mittanzt, widert mich am meisten an. Es scheint zwar eine Art Naturgesetz zu sein, dass die großen sozialen Krisen, in denen das Proletariat sich aufbäumt, die fettesten Tage für das Kapital sind; niemals sind ja Riesenvermögen schneller entstanden, als in der großen französischen Revolution. Aber die Banken sind meiner Meinung nach dazu da, der rechtswidrigen Neuverteilung des Eigentums entgegenzuwirken, nicht dazu, Helferdienste bei ihr zu verrichten. Mit Schrecken sehe ich, wie heute die Banken die „neuen Reichen“ noch reicher machen, indem sie ihnen ihre Mittel zur Verfügung stellen, nach dem Wort: „Wer da hat, dem wird gegeben“; und wie sie die Verarmten völlig verelenden lassen, indem sie ihnen den letzten rettenden Strohhalm, den Kredit, entziehen. Ich sehe, wie die Banken in der Not der Zeit Fett ansetzen, gleich Aalen im leichenüberfüllten Sumpf. Ich sehe, wie viele meiner Kollegen, statt praktische Rettungsarbeit zu verrichten, einer widerwärtigen Art geschäftigen Müßiggangs frönen, indem sie sich an dem nutzlosen Geschwätz der Utopisten beteiligen, die da glauben, nach wohldurchdachten Plänen eine funkelnagelneue Wirtschaft aufbauen zu können, damit aber nur verraten, dass sie das wirtschaftliche ABC nicht kennen. Mag sein, dass alles das unvermeidliche Begleiterscheinungen unserer Zeit sind, und dass in diesem Punkte die Jahre nach den großen Kriegen und Revolutionen einander notwendig gleichen. Mich widert es jedenfalls an. Ich habe Sehnsucht nach jenen harmlosen Tagen, in denen es zu den größten Verbrechen zählte, wenn eine Bank einmal einen erlittenen Verlust in ihrer Bilanz verschwinden ließ oder die Beschlüsse einer Generalversammlung zu ihrem eigenen Nutzen beeinflusste. Quel bruit pour une omelette! Wie wichtig nahm man den Kleinkram! Heute vollziehen sich wirtschaftliche Verbrechen von unermesslicher Tragweite unerkannt und ungesühnt, begleitet von einem melodischen Redestrom einschläfernden Unsinns.

Also nicht lange mehr, und ich lege das Steuer in Deine Hand, lieber James. Deine Spezialkenntnis des Bankwesens im technischen Sinne ist zwar noch ziemlich klein, aber sie reicht nach Lage der Dinge für die Leitung einer Großbank aus. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Du wirst später sehen wie wahr das Wort ist. Dem Bankdirektor, der ja fast immer ein Gebender ist, öffnen sich bereitwillig alle Quellen des technischen, kaufmännischen und finanziellen Wissens. Jeder Industrielle, jeder Großhändler, jeder internationale Geschäftsvermittler, jeder Finanzminister eines geldbedürftigen Staats, kurz jeder, der das Geld Deiner Bank braucht, wird, ohne es zu wissen, Dein Lehrmeister. Die sechzig Aufsichtsratsstellen, die ich Dir nach und nach abtreten werde, bedeuten für Dich in geistiger Beziehung fast noch mehr als in materieller eine große Einnahmequelle. Und für die Detailkenntnisse sind Deine Beamten da.

Aber in einem Punkte bedarf unbedingt Dein intellektuelles Rüstzeug noch der Ergänzung: Du musst wissen, auf welchem Instrument Du spielst. Wer mit Millionen und Milliarden manipulieren will, muss wissen, was Geld ist. Wer eine Bank leitet, das heißt am Schaltbrett der nationalen Energien steht, muss den Strom kennen, den der Druck seiner Hand auslöst, muss wissen, wie dieser Strom sich über die Wirtschaft verteilt, und wie er innerhalb derselben wirkt. Man kann zwar das Schaltbrett auch mit äußerlicher Routine bedienen, ohne mehr als die unmittelbar sichtbaren Wirkungen zu übersehen. Aber wenn dies allgemein geschieht, wenn alle großen Banken von Männern mit Scheuklappen geleitet werden treibt die Wirtschaft in Katastrophen hinein.

Du sollst also, mein lieber Sohn, den Mechanismus begreifen, vor dem Du in nicht ferner Zeit stehen wirst. Ich kann Dir allerdings nur die Grundlage, sozusagen den logischen Knochenaufbau liefern, den Du mit dem Fleisch Deines eigenen Nachdenkens umkleiden musst; keine Eselsbrücke zur praktischen Auflösung der in Deinem künftigen Beruf vorkommenden Rechenexempel. Trotzdem wird diese geistige Erbschaft, die Du schon bei meinen Lebzeiten antrittst, vielleicht der wertvollste Teil meiner ganzen Hinterlassenschaft sein. Und das will bei einem Bankdirektor, der zwei fette Revolutionsjahre mitgemacht hat, immerhin etwas besagen.

In Liebe Dein alter Papa.

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