Stoppt die Zerstörung der griechischen Nation!

Eine Analyse aus Griechenland: Stoppt die Zerstörung der griechischen Nation!

Anläßlich des Europaparteitags der Bürgerrechtsbewegung Solidarität führte Dean Andromidas von Executive Intelligence Review das folgende Gespräch mit einem prominenten griechischen Sozialwissenschaftler über die soziale und politische Dynamik in Griechenland. Er bat darum, namentlich nicht genannt zu werden.

Können Sie zur Einleitung etwas zur Lage sagen?

Ich danke für die Gelegenheit, einige Resultate meiner Forschungen über die soziale Lage in Griechenland zu präsentieren. Diese Forschungen beruhen vor allem auf Berichten, die bereits international verbreitet wurden, aber auch auf Berichten in Zeitungen verschiedener politischer Ausrichtung.

Die Lage ist offenbar dramatisch, insbesondere aufgrund des drastischen Rückgangs der Beschäftigung. Nach Angaben des statistischen Dienstes sind etwa 1,35 Mio. Menschen arbeitslos, aber nach Angaben des Arbeitsministeriums – das ist eine weitere interessante Abweichung – sind es weit weniger, nur 800.000. Charakteristisch ist dabei, daß nur ein minimaler Teil dieser Menschen irgendwelche Leistungen erhält. Gewöhnlich erhält nur jeder achte Arbeitslosengeld.

Gleichzeitig ist die Bildung die Achillesferse des Systems. Warum? Wenn eine Wirtschaft umstrukturiert wird und Unternehmen aufgeben müssen und neue Unternehmen aufgebaut werden müssen, dann muß die Berufsausbildung dabei eine Schlüsselrolle spielen. Aber in Griechenland gibt es keine Spur davon, obwohl die Finanzierung von Ausbildungen angeblich Teil eines Sicherheitsnetzes ist. Aber obwohl im Arbeitsministerium vom „lebenslangen Lernen“ gesprochen wird, ist in der Realität davon nur sehr wenig zu sehen.

Tatsächlich wurde die Lücke zwischen der Beschäftigung und der Ausbildung niemals geschlossen oder überbrückt – das ist eines der Versäumnisse in den 30 Jahren der EU-Mitgliedschaft Griechenlands. Obwohl diese Mitgliedschaft voll und ganz anerkannt ist, wurde sie in der Realität im sozialen Bereich, insbesondere im Bereich des Arbeitsmarktes, niemals umgesetzt, so daß es jetzt eine Lücke zwischen der Beschäftigung und der Bildung und Berufsausbildung gibt.

Der völlige Zusammenbruch der Beschäftigungsstruktur – im Grunde ein totaler Zusammenbruch des Arbeitsmarktes in Griechenland – hat ein beispielloses soziales Chaos herbeigeführt. Derzeit leben 10% der Bevölkerung ohne irgendwelche soziale Unterstützung in absoluter Armut. Es gibt einen Bericht eines bekannten Ökonomen der Wirtschaftsuniversität Athen, dem zufolge diese 10% der Bevölkerung nicht nur keine Arbeit haben, sondern auch keinerlei politische oder soziale Unterstützung, weder von der lokalen Verwaltung noch von der Zentralregierung.

Das ist eine neue Entwicklung. Gleichzeitig ist die Beschäftigung dramatisch zurückgegangen: Innerhalb kurzer Zeit haben mehr als eine Million Menschen ihre Arbeit verloren, ohne irgendwelche Hilfe, außer von der Kirche, die zum wichtigsten Helfer geworden ist und Nahrungsmittel und in gewissem Maße auch Obdach gewährt, aber vor allem Nahrungsmittel, zusammen mit anderen Einrichtungen, die früher die Kirche als eine religiöse, nicht zivile Organisation abgelehnt haben. Es gibt also nur sehr begrenzt Unterstützung von Seiten der zivilen und staatlichen Institutionen, um mit diesem drastischen Rückgang der Beschäftigung umzugehen, und das Fehlen einer Arbeitslosenversicherung ist charakteristisch für das, was geschieht.

Das trifft auch das Gesundheitssystem. Warum? Mehr als zwei Millionen Menschen sind nicht versichert, Kinder eingeschlossen. Diese Menschen kommen vor allem aus den sogenannten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), wo ein drastischer Rückgang stattgefunden hat. Es traf vor allem die sogenannten „Selbständigen“ und die Beschäftigten von Privatunternehmen, die geschlossen wurden oder Griechenland wegen des unberechenbaren Steuersystems verlassen haben.

Die Steuergesetze wurden in den letzten drei Jahren sechsmal geändert, es ist ein sehr instabiles System. Gleichzeitig ist nicht klar, wo das Geld hinfließt. Natürlich fließt das Geld aus dem Land, um die exorbitanten Schulden des Landes zu bezahlen. Durch das Steuersystem werden also Ressourcen abgezogen, und die Überschüsse fließen aus dem Land. Allein in diesem Jahr wurden mehr als 7,5 Mrd. Euro dazu verwendet, Zinsen auf die Schulden zu bezahlen.

Diese Mittel werden also außerhalb des Landes investiert, während es gleichzeitig für diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, nur minimale Unterstützung gibt. Auch die Unterstützung für ihre Familien und für die Versorgung von Schwachen und Behinderten ist minimal. Das trifft viele Stellen beispielsweise zur Pflege von geistig Behinderten oder Menschen mit besonderen Behinderungen, viele Einrichtungen, die in 150 Jahren niemals geschlossen wurden, werden jetzt nach und nach geschlossen. Und weil die Regierung auch die freiwilligen Spenden für Einrichtungen für solchen besonderen Bedarf hoch besteuert, haben wegen dieser hohen Steuern viele erlebt, wie diese Beiträge zum Gemeinwohl für die marginalisierte Bevölkerung drastisch weniger wurden.

Wir haben eine Krise, die vor allem Kinder trifft: Die Kinderarmut liegt bei über 30%, sie ist in den letzten drei Jahren drastisch angestiegen, von 24% auf 30%, und es gibt jetzt eine massive Armut, die in den Schulen deutlich zu sehen ist. Es gibt auch Hunger: Die Menschen haben Schwierigkeiten auszukommen. Gleichzeitig hat Griechenland den höchsten Milchpreis in Europa; der Preis für Milch und andere Grundnahrungsmittel ist in den letzten drei Jahren um 33% gestiegen, ohne irgendeinen Grund, außer, daß die Regierung den Markt nicht steuern kann und ihre Politik gegenüber den landwirtschaftlichen Genossenschaften fehlgeleitet ist. Es gibt auch keine direkte Verbindung zum Gemeinwohl der Bevölkerung, weil es in Griechenland keine Behörde zur Armutsbekämpfung gibt. Anders als in anderen europäischen Ländern gibt es praktisch kein Grundeinkommen. Einige Oppositionsparteien schlagen vor, es einzuführen, um der wachsenden Armut in der Bevölkerung abzuhelfen, aber in der Realität haben wir derzeit keine Einrichtungen zum Schutz der Bevölkerung, und das ist offenbar einer der Gründe für den außerordentlichen Migrationsdruck – es geht ums Überleben.

Massenauswanderung

Diejenigen, die eine Arbeit haben und erleben mußten, wie ihr Lohn drastisch sank, und zweitens die Jugend – das sind die beiden Gruppen, die auswandern können, und sie tun das in den letzten Jahren immer mehr. Es gibt einen Massenexodus junger Menschen.

Gestern war ein Bericht in einer der großen Zeitungen mit einer Tabelle über den Massenexodus der jungen Menschen, aber auch der gebildeten Menschen und der Facharbeiter. Allein aus Athen sind in den letzten drei Jahren 6500 Ärzte nach Deutschland gegangen. Wir haben auch viele Ärzte in Schweden und viele Ärzte in anderen europäischen Ländern. Das Gesundheitssystem verliert seine wertvollste Ressource, weil die Gehaltskürzungen bei den Ärzten so drastisch waren. Gleichzeitig liegt das ganze Gesundheitssystem in Scherben.

Die Regierung denkt darüber nach, das „öffentliche“ Gesundheitssystem EOPYY Ende des Jahres [2013] einzustellen, weil sie, wie sie sagt, eine Anzahl von Ärzten entlassen oder versetzen will, um es umzustrukturieren. Aber niemand weiß, was alles geplant ist und wie sie effektiv sein können, wenn es gewaltigen Widerstand gibt, auch von den Konservativen. Auch der Chef des Athener Ärzteverbandes und die übrigen medizinischen Verbände sind dagegen. Wir reden also hier nicht nur von der politischen Opposition, sondern vom gesamten Berufsstand. Und da gibt es mit Sicherheit keinen Dialog.

Interessanterweise sind in Griechenland gar keine Grundvoraussetzungen für einen sozialen Dialog gegeben. Es gibt einen Wirtschafts- und Sozialausschuß, aber es werden keine wirklichen Diskussionen oder Vorträge über das geführt, was geschieht. Alle Berufsverbände des privaten Sektors, auch der Landwirtschaft und des technischen Sektors wissen, daß es keinen solchen Dialog gibt.

Und deshalb haben wir eine totale Katastrophe durch den Verlust der Beschäftigung für mehr als eine Million Menschen in so kurzer Zeit und den Mangel an Unterstützung für diejenigen, die ihr Beschäftigungsverhältnis verlieren. Denn Arbeitslosigkeit bedeutet in Griechenland etwas anderes als in Schweden – in Griechenland kehrt man zu seiner Familie zurück. Deshalb sieht die Regierung die 66% Jugendarbeitslosigkeit nicht als große Kosten für den Staat, sondern eher als Kosten für die Familien! Es ist so, als würden die Kosten privatisiert.

Und das ist eine andere Besonderheit Griechenlands. Wer die Jugend marginalisiert und ihre Beschäftigung drastisch reduziert, der hat einfach keine Zukunft. Und wenn die einzige Zukunft im Ausland liegt, dann ist das ein besonderes Problem – nicht nur der Demokratie, sondern der ganzen Vorgehensweise. Man fragt: Was ist die eigentliche Ursache dieser Maßnahmen und was wollen die damit erreichen? Die Menschen fragen sich, warum das geschieht, und es ist für sie wie eine Katastrophe aus heiterem Himmel, die man nicht erklären kann.

Nun fangen sie allmählich an, darüber nachzudenken, wie sie sich schützen können. Es geht nicht um rationale Entscheidungen, was man tun soll. Es erscheint ihnen so, daß sie von einem System angegriffen wurden, das sie überwältigt, mit einer Masse an Steuern, die verschiedene Behörden erheben, welche sich nicht untereinander koordinieren. Und diese wirtschaftlichen Bußen häufen sich an, sie kommen zu den früheren hinzu. Einige werden sogar rückwirkend erhoben. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Steuer für die vergangenen drei Jahre bezahlen! Das schafft natürlich eine große Unsicherheit; kein Unternehmen will in den Sumpf eines Systems investieren, das in der Besteuerung alles andere als Stabilität bietet. Und keiner weiß, wie sich die Steuerregelungen auswirken werden. Es ist also eine völlig vergiftete Lage für alle, die sich engagieren wollen – für die Unternehmen, für die Wettbewerbsfähigkeit, für die Investitionen.

Das verstärkt also die Turbulenzen, und unter diesen Störungen leidet alles. Und das Hauptproblem ist die Stabilisierung der Gesellschaft. Aber dieses sogenannte Memorandum [die Vereinbarung zwischen der Regierung und der Troika] bewirkt mit seinen sogenannten Stabilisierungsmaßnahmen genau das Gegenteil – jedenfalls wirkt es sich in Griechenland so aus.

Außerhalb Griechenlands wird das wohl gewöhnlich so gesehen: In Griechenland wird Austerität betrieben und versucht, das Haushaltsdefizit zu reduzieren, und das ist zwar schmerzhaft, aber bloß ein vorübergehendes Sparprogramm, bis man die Lage unter Kontrolle gebracht hat, dann wird man zur Normalität zurückkehren. Aber das, was Sie eben beschrieben haben, ist wohl nicht bloß Sparpolitik, sondern ein irreparabler Zusammenbruch der Wirtschaft, der katastrophale Verhältnisse schafft, so daß man nun ein Notprogramm braucht, um diesen Prozeß umzukehren. Würden Sie sagen, daß das zutrifft?

Nun, das wäre sicherlich die rationale Reaktion. Aber das bedeutet nicht, daß das die Realität ist. Denn wenn man ein Restrukturierungsproblem hat, dann wendet man normalerweise auch diese Alternative an. Aber wie es scheint, ist hier überhaupt keine Alternative vorgesehen! Als ob Austerität ein Ziel an und für sich ist.

Wir haben nicht nur Austerität, sondern auch einen Exodus, eine völlige soziale Ausgrenzung der Bevölkerung. Was ist mit einer Politik des sozialen Schutzes? Wie kann man Kinder einfach aufgeben? Man besteuert z.B. die Leistungen der Beschäftigten, aber man weiß gar nicht, was zum Leben gebraucht wird. Wie kommt es, daß nur ein so kleiner Teil der Arbeitslosen Unterstützung erhält? Und warum gibt es keine einheitliche Regelung, wen der Staat als beschäftigt betrachtet und wen als arbeitslos? Wir haben ja auch eine halbe Million Menschen, die arbeiten, aber nicht bezahlt werden.

Wir haben also eine Lage, in der es um grundsätzliche Verpflichtungen geht und um die Tatsache, daß all das Geld aus dem Land fließt ohne Rücksicht auf diese grundlegenden Bedürfnisse. Wir haben da eine Parallele zu den Vereinigten Staaten. Die Regierung sollte sagen, wir stoppen die Staatsausgaben, denn wir müssen drastische Kürzungen vornehmen, damit wir unsere Ausgaben anpassen können.

In Griechenland haben wir keine Standards, was mindestens notwendig ist, damit das System weiterlaufen kann.

Man braucht ein Minimum an Dienstleistungen, die geboten werden müssen, beispielsweise für notleidende Kinder. Wir müssen sicherstellen, daß sie eine Krankenversorgung haben und daß sie zur Schule gehen können. Wie Sie wissen, gibt es bestimmte grundlegende Menschenrechte bei grundlegenden Dingen wie Nahrung, Obdach und sozialer Unterstützung. Das kommt von den westlichen Ländern: „Ihr seid Mitglied der Europäischen Union, also müssen bei euch bestimmte soziale Rechte gelten.“ Die Frage ist nun: Wie soll man die Aussetzung dieser Rechte erklären – als „vorübergehende Maßnahme, um die Sparvorgaben zu erfüllen“? Das hat etwas Metaphysisches: Ich esse drei Jahre lang nicht mehr – um was zu erreichen? Um Geld zu sparen, indem ich nicht esse?

Für reale demokratische Rechte

Wie Sie sehen, ist Griechenland immer noch von importierten Nahrungsmitteln abhängig. Das Ungleichgewicht hat sich stark vergrößert. Es sind Massen, das hat das soziale Ungleichgewicht wirklich vergrößert. Man hat eine große Kluft geschaffen zwischen denen, die genug haben, und denen, die nicht genug haben. Die Mittelschicht ist sehr geschrumpft, sie wird zu stark besteuert. Gleichzeitig wird ein großer Teil der Bevölkerung an den Rand gedrückt, und weil sie Hilfe suchen, fallen sie auf die Sirenenklänge alternativer politischer Gruppen herein, die man ganz klar als Nazis betrachten muß, weil die ihnen im Alltag symbolische oder vielleicht auch eine geringe reale Unterstützung geben. Durch die völlige Abschaffung staatlichen Schutzes und Eingriffs, was einen so großen Teil der Bevölkerung betrifft, entstehen verschiedene politische Kräfte, die in diesen leeren Raum vorstoßen, Gangs werden aufgebaut, es gibt eine Parallelwirtschaft und durch die letzten Jahre ist der Schwarzmarkt größer geworden. Das hat zugenommen, nicht nachgelassen.

Wenn die staatliche Autorität sich zurückzieht und die Alternativen zunehmen, bedeutet das, daß im Untergrund kriminelle Banden entstehen konnten mit Prostitution, Drogen, Schutzgelderpressung, was in einem beispiellosen Maße zugenommen hat. Letzte Woche gab es in Athen zwei Morde mit Kalaschnikows in der albanischen Mafia. Das ist ein neues Phänomen. Wir haben eine außerordentlich große Polizei. Aber was kann die Polizei tun?

Man muß die Ursachen der Armut und der Kriminalität finden – die typische, soziologische Standard-Untersuchung. Es ist keine juristische Frage, sondern eine soziale Frage. Die Menschen müssen überleben, und bei dem Rückzug des Staates aufgrund irgendeines abstrakten wirtschaftlichen Prinzips, das wir aufgrund dieses abstrakten Memorandums befolgen müssen, wird mit Sicherheit keine Rücksicht auf die grundlegenden sozialen Bedingungen genommen.

Diese Lage hat ein Vakuum geschaffen, einen dunklen und unsichtbaren Bereich, wo die Menschen – bloß um zu überleben, okay? – sich auf alle möglichen „außerbilanzlichen“ Aktivitäten einlassen. Das gab es in Griechenland natürlich schon immer, aber das hat sich jetzt verstärkt.

Dazu kommt das Schrumpfen der Mittelklasse, die keine Alternative hat, wo sie hingehen könnte, und die sich in einer sehr dramatischen Lage befindet. Und deshalb haben wir auch ein Vakuum bei der politischen Vertretung. Die Sozialistische Partei ist faktisch zusammengebrochen. Noch vor wenigen Jahren hatte sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, mindestens 50%. Nun ist sie völlig kollabiert, weil sie sich vollkommen an das Memorandum und die Troika gebunden hat.

Wir haben also jetzt eine politische Lage in Griechenland, wo wir mehr Demokratie brauchen. Ich spreche nicht von direkter Demokratie oder repräsentativer Demokratie, sondern wir brauchen einige grundlegende demokratische Rechte, die auch real sind. Und der Rückzug des Staates macht es unmöglich, daß er das leistet. Man könnte sagen, aus dem Staat wird so etwas wie die Puppe eines Bauchredners. Er kann nichts tun, was nicht von der Troika genehmigt ist.

Eine Gesellschaft im Koma

Der Punkt ist, daß auf die Dauer nicht einmal die Troika mit seiner Leistung zufrieden sein kann! Und genau das geschieht jetzt. Wir haben eine Krise, wie sich in der Presse zeigt, mit einem Konflikt zwischen der Troika und der Regierung über ihre Leistung. Das war natürlich unvermeidlich. Das ist eines der Paradoxa, wenn man sich völlig den Forderungen der Gläubiger unterwirft, aber gleichzeitig den Punkt erreicht, wo man gar nichts mehr leisten kann, weil die Bevölkerung völlig ausgeblutet ist!

So gab es z.B. in Europa niemals eine Kampagne, griechische Produkte zu kaufen. Es heißt, die Griechen seien zu faul, irgendwas zu produzieren! Wir produzieren viele gute Dinge, aber es gibt keinen Markt für unsere Produkte in Europa. Warum gibt es keinen Markt? Das ist eine andere Sache: Wie kann man immer weiter Geld leihen, ohne zu exportieren und ohne die große Touristenbranche in Griechenland einzuschließen? Die meisten Produkte für unsere Touristikbranche kommen aus dem Ausland, von außerhalb Griechenlands!

So gibt es viele Verwerfungen. Wie kann man ständig seine Ersparnisse ausgeben und seine Steuern bezahlen, wenn man keinen Markt für seine Exporte hat? Und der Mangel an grundlegenden Ausbildungsmöglichkeiten in Griechenland hat eine besondere Lage im Land geschaffen, das Land wurde in einen Produzenten unfertiger Produkte verwandelt, in einen Exporteur dieser Güter, die dann als Fertigwaren ins Land zurückkehren. D.h., wir verarbeiten sie eigentlich nicht. Fast 80% unserer Agrarprodukte sind unverarbeitete Erzeugnisse, die exportiert werden, wie z.B. Baumwolle, Tabak oder Orangen. Und viele Nahrungsmittel, die unsere Wirtschaft versorgen könnten, sind auf den Märkten in den Großstädten nicht zu bekommen, sondern sie werden exportiert und dann nach Griechenland reimportiert, durch Arrangements, was damit begründet wird, daß es beispielsweise im Touristiksektor oder im Agrarsektor keine qualifizierten Fachkräfte gibt.

Wo sind die Wettbewerbsvorteile unseres Landes? Die Wettbewerbsvorteile Griechenlands innerhalb der europäischen Arbeitsteilung wurden in den 30 Jahren in der Europäischen Union drastisch eingeschränkt und verkleinert. Und jetzt haben wir eine sehr schwache Ausbildung im Touristiksektor und im Agrarsektor. Die Gründe dafür sind kompliziert. Aber Tatsache ist: Das ist die Wirtschaft eines Dritte-Welt-Landes, das nicht in der Lage ist, Mehrwert zu erzeugen.

Es hilft nichts, wenn man diese Wirtschaft besteuert, um die Schulden zu bezahlen, man muß die Frage der menschlichen Ressourcen angehen. Derzeit wird den menschlichen Ressourcen praktisch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es scheint, daß das System immer noch unqualifizierte Arbeiter will, die mit Migranten und Ausländern konkurrieren, und das ist auch einer der Gründe für die Zunahme des Rassismus, weil jetzt sehr deutlich wird, daß wir hier genauso viele Ausländer wie Arbeitslose haben, wie der Premierminister erst vor ein paar Wochen gesagt hat.

Wir haben also ein Zusammentreffen vieler Widersprüche, und das ist Teil der Dynamik der Lage. Das ist nicht zu lösen, indem man die Ressourcen der Menschen verbraucht und sie zu Tode besteuert. Denn heute kann auch beispielsweise niemand sein Eigentum verkaufen, um seine Schulden an den Staat zu bezahlen. Nichts bewegt sich, Griechenland ist quasi in eine Lähmung verfallen. Es ist erstarrt, es gibt keinen Austausch, es gibt keine Wirtschaft. Der gesamte Körper der Gesellschaft liegt im Koma. Man hält ihn nur am Leben, um sagen zu können, daß es sich um ein „Rettungspaket“ handelt. Aber es bewegt sich nichts.

Sicher geschehen auch gewisse Dinge, man hat einige Überschüsse geschaffen, indem man einige Behörden abgebaut hat, aber in der übrigen Wirtschaft gibt es schweren Schaden. Es gibt Erfolge in einigen Bereichen, aber der Schaden an anderer Stelle ist größer, es gibt einen drastischen Abbau und völlige Unsicherheit. Nicht nur die Rentner, alle sind verunsichert wegen des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems!

Welches Land, welche Gesellschaft auf der Welt, egal um welches System es sich handelt, hat kein Interesse an der grundlegenden Stabilität ihrer Gemeinden? Denn in Griechenland haben wir keinen Faschismus – es geht sogar noch über das hinaus! Selbst ein diktatorisches System würde versuchen, eine grundlegende Versorgung in Gang zu halten. Heute fragen sich alle, wie man dieses System bezeichnen soll, weil wir nicht wissen, was es ist. Es ist etwas Neues! Es hat alte Elemente und neue Elemente, aber wenn wir es nach seiner Wirkung beurteilen, dann ist es offensichtlich eine Katastrophe! Ich weiß nicht, wer dabei gewinnt, aber die Griechen sind es mit Sicherheit nicht.

Der Papst hat in einer Erklärung gesagt, daß das derzeitige Wirtschaftssystem tötet, und was Sie beschreiben, ist, daß das derzeitige Wirtschaftssystem Griechenland tatsächlich Menschen umbringt. Das ist keine metaphorische Frage, sondern wegen dieses Systems sterben Griechen, die sonst nicht sterben würden. Würden Sie dem zustimmen?

Ja. Ich denke, Griechenland ist ein konkretes Beispiel für das, was der Papst gesagt hat, und das weiß die griechische Kirche sicher auch, denn sie trägt die Last der angeblich unbeabsichtigten Folgen dieses Systems. Es ist ganz sicher so, daß das System tötet. Nicht nur durch die hohe Zahl der Selbstmorde, es gibt viele Kollateralschäden. Menschen können ihre medizinische Behandlung nicht fortsetzen, weil sie sich die Medikamente nicht mehr leisten können. Und selbst wenn die Medikamentenrechnungen drastisch reduziert wurden, was ganz gesund ist, weil die Pharmakonzerne und andere kräftig abgesahnt hatten, können die Menschen es sich nicht leisten, ihre Medikamente zu bezahlen, weil sie das Einkommen verloren haben, ihre Renten wurden gekürzt. Gleichzeitig haben wir eine drastische Zunahme epidemischer Krankheiten, wie z.B. Tuberkulose. Sie nimmt in Athen explosionsartig zu, es gibt dort viel Tuberkulose, und es gibt viele durch Ratten übertragener Krankheiten, die es früher in Griechenland nicht gab.

Gestern erschien ein sehr wichtiger Bericht – ich kann mich jetzt nicht an den genauen Titel erinnern – von der Universität Cambridge, der genau das zeigte: daß wir in Griechenland viele Krankheiten haben, die in den 1930er Jahren existierten und jetzt wieder aufkommen. Das zeigt den allgemeinen Zustand der Bevölkerung. Es gibt, wie Sie sicher wissen, Mütter, die mit ihren Kindern Selbstmord verüben. Wenn man sieht, daß eine Mutter mit ihrem Kind aus dem Fenster oder vom Balkon springt, dann weiß man, daß etwas falsch läuft. Wir haben also tatsächlich Belege dafür, aber sie sind verstreut und es gibt keine statistische Feststellung: „Wir haben alle diese Opfer, die sonst noch leben würden.“

Es gibt eine Bewegung dafür, Notruflinien und ähnliches einzurichten. Aber lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Sie haben das Budget für das Nadeltauschprogramm [für Heroinabhängige] in Athen reduziert, und deshalb haben wir eine gewaltige Ausbreitung des AIDS-Virus. Die Zahl der AIDS-Patienten schießt nach oben! Das wurde von der WHO dokumentiert. Ich weiß nicht, warum das Institut der Europäischen Union in Lissabon, das sich mit Drogen befaßt, keinen Bericht über Griechenland erstellt, denn das ganze System ist außer Kontrolle geraten, wegen der Sparmaßnahmen bei der Versorgung dieser Menschen und auch, weil es keinerlei wirtschaftliche Unterstützung gibt.

Und die Lage in Griechenland ist sogar noch schlimmer als in anderen Mittelmeerländern, weil sie dort umfassende soziale Genossenschaften aufgebaut haben, sie haben soziale Einrichtungen, in denen die Sozialwirtschaft besser funktioniert und mit denen es ihnen gelungen ist, die Beeinträchtigungen zu minimieren. Es ist typisch für Griechenland, daß das Geschehen nicht wirklich solide dokumentiert wird. Deshalb will man immer noch das Problem ignorieren!

Im Prinzip gibt jeder zu, daß wir uns in einer Krise befinden. Was in Griechenland geschieht, ist genau das, was der Papst sagt: Es gibt eine Menge nicht bloß von Menschenrechtsverletzungen, sondern viele Menschen sterben aufgrund einer Politik, die man als eine künstlich herbeigeführte humanitäre Krise sehen muß, es ist keine Naturkatastrophe, sie ist vom Menschen gemacht. Und ich denke, das muß aufhören. Wir müssen Wege finden, politische Differenzen zu überwinden und diesen Prozeß zu stoppen, der auch für andere eine Menge Verzweiflung und Hilflosigkeit erzeugt, weil er wie ein unpersönlicher Moloch erscheint, der über uns herfällt und nicht aufzuhalten ist, ohne Rücksicht darauf, ob jemand behindert ist, alt, mittellos oder schutzlos. Es ist, als ob die grundlegenden Menschenrechte, die sonst überall auf der Welt gelten, zusammengebrochen sind. Das ist also eine barbarische Lage.

Der Papst sollte sich sicher noch konkreter äußern und ich hoffe, daß auch die griechische Kirche ihre Stimme noch lauter erhebt. Sie muß dazu keine eigene Partei gründen, sie muß das nicht politisch formulieren, aber ich denke, die politischen Kräfte müssen irgendwie eine Alternative entwickeln. Denn ich glaube, das Problem hat nicht erst vor drei Jahren begonnen, sondern früher.

Und jetzt sind die Ressourcen des Landes erschöpft, denn nicht nur das Kapital strömt aus dem Land, sondern auch die Menschen. Griechenland hat eine ganze Generation verloren. Es ist nun wieder da, wo es vor dem EU-Beitritt war. Aber damals hatten wir noch eine robustere Wirtschaft. Angesichts der Tatsache, wie die EU ihre Sanktionen auferlegt, ist es eine große Ironie, daß Griechenland demnächst die Präsidentschaft der EU übernimmt [das geschah zum 1. Januar 2014]. Wir müssen uns fragen: Worauf läuft das alles hinaus? Und da muß vieles berücksichtigt werden, was wir sonst als selbstverständlich voraussetzen, denn so, wie es jetzt läuft, verlieren wir die Kontrolle über unser Überleben. Ich meine, es sieht so aus, als sei dieses System nicht zu bremsen!

Möchten Sie noch etwas über das Glass-Streagall-Trennbankensystem in Griechenland sagen?

Ja. Griechenland muß mit Sicherheit sein Finanzsystem überdenken und es muß die Geschäftsbanken von den Investmentbanken trennen. Das ist eine entscheidende Intervention, die von Roosevelt in den 1930er Jahren geschaffen wurde, um das Problem des Zusammenbruchs der wirtschaftlichen Märkte anzupacken. Und ich denke, Roosevelts Politik – eine Politik für die Versorgung der Allgemeinheit, für Gesundheit und Bildung und auch für Investitionen in öffentliche Projekte zu entwickeln, das ist unverzichtbar!

Griechenland ist ein Land, dem immer noch grundlegende Infrastruktur fehlt, nämlich Verkehrsverbindungen nach Norden und Süden. In der entstehenden neuen Achse der eurasischen Wirtschaft, im Gegensatz zur nordatlantischen, wird Griechenland so etwas wie Holland in dem bestehenden System, das sich im Niedergang befindet. Griechenland hat ein gewaltiges Potential, aber es muß die Mittel finden, um zu investieren, beispielsweise in sein Verkehrsnetz. Es muß seine Energieversorgung verbessern; einer der Hauptgründe für das Schrumpfen der Industrie sind die hohen Energiekosten. Es muß also Lösungen für die Energiekrise finden.

Und es muß seine strategische Lage in Bezug auf die Verkehrskorridore nach Osten nutzen. Griechenland muß die Ressourcen in Infrastrukturprojekte lenken. Gleichzeitig muß es Kapital aus seiner Kultur schlagen, aus seinem Erbe. Es muß auch seine Landwirtschaft verbessern, denn wie gesagt, sie hat Potentiale und Kapazitäten, aber das System ist primitiv, weil die Agrarwirtschaft von großen multinationalen Ketten infiltriert ist und das System aus dem Gleis geraten ist.

Für das Land wäre es ein Wettbewerbsvorteil, in das Verkehrsnetz zu investieren, in die Energieversorgung, aber auch in ein gesundes Finanzsystem, das diese Potentiale realisieren würde. Derzeit haben wir einen Kollaps des produktiven Kapitals, im Grunde hat das Finanzkapital das Wachstum des industriellen Kapitals zerstört. Wie jedermann weiß, verlassen die größten Industriebetriebe das Land, sie stimmen ab mit den Füßen. Das Finanzsystem muß grundlegend geändert werden. Wir müssen auch ein lokales Kreditsystem ausbauen, das viel gesünder ist und das Werte schafft, die den Menschen vor Ort Möglichkeiten und Arbeitsplätze geben.

Eine Alternative schaffen

Gleichzeitig müssen wir die Banken strukturell aufspalten, aber ich hoffe, daß das durch die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten durchgesetzt wird, wo das Glass-Steagall-System offenbar dramatische Fortschritte macht. Denn auch die Vereinigten Staaten stehen vor einem dramatischen Kollaps ihrer Ressourcen, weil diese Strangulierung vom Finanzkapitalismus ausgeht, der scheinbar Reichtum aus dem Nichts erzeugt, aber sich tatsächlich von der Realwirtschaft nährt. Und genau da kommt seine Energie her. Wir müssen also zur Realwirtschaft zurückkehren und dabei kann Griechenland nur gewinnen. Die Umstrukturierung des Bankensektors muß der Wirtschaft dienen.

Und wir müssen die Bedeutung der Rolle der Gewerkschaften erkennen, wie Roosevelt bei der Schaffung des Wagner-Gesetzes über die Arbeitsverhältnisse. Und wir brauchen Sicherheiten und ein Sozialversicherungssystem, das die Bevölkerung stabilisiert und einen Anreiz für Stabilität zwischen den Unternehmen und den Gewerkschaften schafft.

Derzeit löst sich diese Beziehung praktisch in Luft auf, es gibt absolut keine Stabilität. Wie ich schon sagte: Es gibt zwei Millionen Arbeitslose in unserem Land – es gibt in Griechenland mehr Arbeitslose als Beschäftigte! Und die Summe des Mehrwerts, der durch die Arbeitskräfte geschaffen wird, geht zurück.

Griechenland muß sich also in gewisser Weise seinem Schicksal stellen. Es muß eine Alternative schaffen, und da Griechenland ein großes Land ist und ein Inbegriff der Krise des Weltsystems, müssen wir vielleicht erkennen, daß diese Krise und ihre Folgen eine völlige Umkehr des gesamten Finanzsystems, wie es derzeit ist, erfordern. Denn es scheint, daß diese auf den Kopf gestellte Realität schon jetzt Griechenland umbringt.

Aber das gilt nicht nur für die gebildeten Schichten, sondern auch für die Oberschicht, die aber nicht nur in Griechenland lebt, sondern auch anderswo. Sie müssen verstehen, daß manchmal etwas getan werden muß, um die Lage zu verbessern oder zu ändern.

Ich weiß nicht, ob ich optimistisch oder pessimistisch bin. So wie die Dinge jetzt liegen, haben wir eine endlose Krise. Und diese Krise entwickelt sich jetzt auch zu einer politischen Krise und es gibt auch eine Krise in der Europäischen Union in Bezug auf den Euro und wie er funktioniert. Wie der Papst sagte: Wenn es gegen die Menschen wirkt, muß etwas getan werden.

Ich erinnere mich: Da war eine französische Professorin, die vor zwei Jahren gefragt wurde, was die Seherin Pythia wohl sagen würde – Sie wissen ja, die Griechen sind immer zum Orakel von Delphi gegangen: Was würde die Seherin Pythia über den Euro und die Europäische Union sagen? Und sie sagte: Pythia würde uns sagen: „Wenn Europa euch aufgibt, dann solltest ihr vielleicht Europa aufgeben!“ Wenn Europa euch aufgegeben hat, dann solltet ihr vielleicht einmal darüber nachdenken, nicht wahr? Und ich denke, das ist die Frage, die sich die Griechen stellen sollten: Hilft uns Europa? Und wenn es uns nicht hilft, dann müssen wir wohl erwachsen werden und nicht länger nach einer Mutter rufen, die uns vernachlässigt.

Wir müssen also eine Entscheidung treffen. Steht Europa hinter uns? Und was geschieht? Diese Frage muß bei der Europawahl im Mai im Vordergrund stehen. Ich denke, daß andere europäische Länder, vor allem im Süden, die gleiche Frage haben werden. Europa muß also realistischer werden, auch die Finanzlage. Das ist eine vergiftete Beziehung, keine gesunde Beziehung. Und wenn eine Beziehung so dramatisch wird, daß sie Menschen umbringt, dann sollte Schluß sein! Schließlich verlieren wir Menschenleben und es sieht so aus, daß die sozialen Folgen der Krise sehr dramatisch sind und wir nicht wissen, wie man sie rückgängig machen kann. Wenn man so ein hohes Niveau der Arbeitslosigkeit von 34% erreicht hat, dann bedeutet das, daß das System nicht funktioniert. Wie soll das ein Erfolg sein? Wie kann man da sagen, daß das System in Griechenland funktioniert, weil wir einen Überschuß haben? Was für einen Überschuß? Wir haben einen Überschuß an Arbeitslosen! Wir haben einen Überschuß an Arbeitslosigkeit!

Quelle: bueso

(Visited 9 times, 1 visits today)
Stoppt die Zerstörung der griechischen Nation!
0 Stimmen, 0.00 durchschnittliche Bewertung (0% Ergebnis)

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*