Von Ansgar Belke
Gemeinsam ist nicht immer stärker – Risiken in der Eurozone strukturell ungleich verteilt
Ideen einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden in der Eurozone erfreuen sich zur Zeit einer hohen Popularität. Die von den Befürwortern vertretene Sichtweise, dass die Länder, die heute schwach sind, morgen stark sein werden und umgekehrt, wird aber nicht durch die die makroökonomische Evidenz gedeckt. Dies liegt nicht nur an den innerhalb der Eurozone seit langem divergierenden Trends der Governance-Indikatoren wie der Qualität des Regierungshandelns und der Rechtsdurchsetzung. Auch haben sich bei der Arbeitsmarkt-Performance, dem Wirtschaftswachstum und dem Leistungsbilanzsaldo zwischen den Euroländern strukturell und lang andauernde Unterschiede etabliert – Griechenland, aber auch einige andere südliche Länder befinden sich in der Schlussgruppe, die noch AAA-bewerteten Länder in der stärksten Kohorte. Insgesamt gesehen ist die Verteilung der makroökonomischen Risiken in der Eurozone so deutlich ungleich (statistisch gesprochen: schief), dass ein effizientes Verfahren der Schuldenvergemeinschaftung zu einem überaus anspruchsvollen Unterfangen wird.
Das Hauptproblem der gegenwärtigen Eurokrise kann auch gar nicht primär durch eine Vergemeinschaftung der Schulden gelöst werden. Denn der Kern des Problems ist der durch wichtige Fundamentaldaten wie zum Beispiel die sinkende Wettbewerbsfähigkeit und die immer schlechter werdende Political Governance begründete längerfristige Investorenstreik gegenüber den südlichen Euroländern. Angesichts dieses Versiegens der grenzüberschreitenden Kapitalflüsse geht für einige südliche Euro-Mitglieder per Definition kein Weg daran vorbei, ihr Leistungsbilanzdefizit zu schließen. Hierzu müssen sie kurzfristig ihren privaten und staatlichen Konsum reduzieren. Spanien muss dem Beispiel Irlands folgen und seine Bauinvestitionen endlich stark drosseln. Keineswegs bedingt dies aber einen expansiveren Kurs der europäischen Geldpolitik. Längerfristig lässt es sich nicht vermeiden, dass diese Staaten ihre Ressourcen durch niedrigere Löhne und Strukturreformen in den Exportsektor lenken.
Zugegeben: für die Tiefe der gegenwärtigen Rezession im Süden der Eurozone sind die Finanzmarktbedingungen entscheidend. Aber hier verrichtet die EZB mangels anderer Lösungen schon länger ihren Job. Da dies aber nur kurzfristig zur Vermeidung von Vertrauenskrisen Sinn macht, ist vor dem Hintergrund des Versiegens der externen Finanzierung eine fiskalpolitische Anpassung in der Euro-Peripherie unausweichlich. Politische Führung beinhaltet also unbedingt auch eine Verringerung des öffentlichen Schuldenstandes. Sie sollte sich auf eine Minimierung der Kosten der außenwirtschaftlichen Anpassung und des hiermit kurzfristig verbundenen Output-Verlustes konzentrieren und eben nicht primär auf eine Schuldenvergemeinschaftung aus sein.
Wichtig ist zu begreifen, dass die relative gute Performance der spanischen Volkswirtschaft in den Jahren 2010 und 2011 darauf zurückzuführen war, dass sich in diesen Jahren die Anpassungsgeschwindigkeit sowohl im Staatssektor als auch im Immobiliensektor verlangsamte. Die langfristigen Kosten dieser Verzögerung werden nun sichtbar – ein deutlicher Mangel an politischer Führung und eigentlich kein Anlass für eine Schuldenvergemeinschaftung! Der gegenwärtig immer noch viel zu hohe Überhang im Bausektor Spaniens birgt Verluste, die den Bankensektor nach erfolgter Anpassung noch empfindlich treffen werden.
Geldschwemme und die schleichende Zersplitterung des Euros: von Tinas und (dicken) Bertas
Strikte Regeln für die nationale Fiskalpolitik und eine verlässliche Durchführung notwendiger Strukturreformen fördern niedrigere Refinanzierungskosten von Staaten und deren Wachstum. Dies wurde jüngst wieder an den Beispielen Italiens und Spaniens deutlich. Deren Anleiherenditen schossen unmittelbar wieder nach oben, als sich Italien nach einer durchschlagenden Rentenreform wenig ambitioniert um Arbeitsmarktreformen bemühte und Spanien wegen innenpolitischer Widerstände einen immer weniger ehrgeizigen Defizit-Abbauplan durchsetzte – augenscheinlich motiviert durch die massive Unterstützung durch zwei „Dicke Bertas“, d.h. langfristige Refinanzierungsoperationen, und die im Raum stehende Wiederaufnahme der Staatsanleihenkäufe der EZB.
Dies ist nicht weiter verwunderlich, beobachtet man doch seit geraumer Zeit, dass innerhalb des EZB-Rats die Macht des Direktoriums gegenüber den nationalen Notenbankgouverneuren ständig zunimmt und die Unterminierung der politischen Unabhängigkeit der Notenbank genau hier stattfindet. Dies zeigt nicht zuletzt das Postengeschachere um die EZB-Direktoriumsposten, das ohne Skrupel in Wechselbeziehung mit der Besetzung anderer wichtiger Ämter –Vorstand der Euro-Gruppe, Chef des ESM etc. – und makroökonomischer Denkschulen stattfindet. Die Geldpolitik in der Eurozone darf nicht weiter ideologisiert und renationalisiert werden!
Dieses Muster – kurzfristig sinkende und dann umso mehr steigende Renditen auf Staatsanleihen der Krisenländer – zieht sich quer durch die Erfahrungen mit den bisherigen unkonventionellen geldpolitischen Kriseninterventionen im Verlauf der Euro-Krise. Es handelt sich dabei um Anschauungsmaterial wie aus den Lehrbüchern. Diese schreiben empirisch fundiert und daher zu Recht nur glaubwürdigen geldpolitischen Regeln eine durchschlagende Wirkung auf den Reformeifer von Regierungen und auf die Verringerung von Inflationserwartungen zu. Denn die negativen Beschäftigungswirkungen zu stark zentralisierter und zu inflexibler Lohnverhandlungssysteme (Italien und Spanien) und/oder einer unverantwortlich langsamen Rückführung der Immobilienblase (Spanien) könnten dann nicht mehr einfach durch eine akkommodierende Geldpolitik durch Dicke Bertas oder gar Anleihenkäufe auf Dritte verlagert werden.
Die Kosten struktureller Verkrustungen würden erst bei einer glaubwürdigen Ankündigung des Ausstiegs aus der ultra-expansiven Geldpolitik wirklich transparent. Noch wichtiger und demokratischer: der Spielraum für rentensuchende Interessengruppen – wie in Spanien die Regionalbanker und die Immobilienmakler – würde viel geringer und der Handlungsdruck für die Regierungen viel größer. Der empirisch hinreichend belegte TINA („There-Is-No-Alternative“) Effekt würde angesichts der immer noch zu wenig mobilen Arbeitsbevölkerung im Süden der Eurozone seine wohlfahrtsstiftende Wirkung entfalten und die marktbasierte Anpassungsfähigkeit an Schocks erhöhen.
Dies wäre zutiefst demokratisch, denn eine Abwälzung von Reformversagen auf Dritte würde verhindert. Kollateralschäden in gesunden Bereichen der Volkswirtschaft der Eurozone wie z.B. sinkende Renditen auf Anteile an gesunden Unternehmen und Banken würden vermieden. Zumal beispielsweise Italien mit Zinssätzen von 6 bis 7 Prozent, die gegenwärtig als nicht nachhaltig und deshalb als mögliche Auslöser für Staatsanleihekäufe durch die EZB gelten, eine Weile gut weiter leben könnte. Denn die gestiegenen Zinskosten treffen das Land nur schrittweise – nämlich in dem Maße, wie Staatsschulden fällig werden und diese umfinanziert werden müssen. Italien könnte und sollte einfach die reichlich vorhandenen heimischen Ersparnisse mobilisieren, um seine neuen Schuldpapiere am Markt unterzubringen. Werden die hochverzinslichen Staatsschuldpapiere an die vermögenden heimischen Haushalte verkauft, ändern die gestiegenen Kosten des Schuldendienstes die Belastung des Landes kaum. Es kommt lediglich zu einer Umverteilung zwischen heimischen Sparern und Steuerzahlern.
Schließlich müssten Steuerzahler in finanziell soliden Mitgliedsländern nicht mehr für Ausgabenentscheidungen der Parlamente der Problemländer finanziell aufkommen. Ein Vorbote ist die aktuelle Forderung des IWF nach einem Forderungsverzicht gegenüber Griechenland, der auch die EZB empfindlich treffen könnte. Denn ihr Eigenkapital ist schnell aufgezehrt. Grundsätzlich könnte das Eurosystem zwar auch eine Weile mit negativem Eigenkapital operieren – getreu dem Motto „Im Zweifel kann das Geld ja gedruckt werden“, auch wenn das unter Vertrauensgesichtspunkten zerstörerisch wirken würde. Die Ausschüttungen an die Finanzminister jedenfalls wären aber wohl über Jahre gestrichen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die jüngst von der EZB beschlossenen Leitzinssenkungen die Refinanzierungskosten der Problemstaaten kaum systematisch senken dürften – eher im Gegenteil. Allenfalls dürfte der durch die Zinssenkung bewirkte Abwertungsdruck auf den Euro das Kern- und Exportland Deutschland begünstigen. Dies und die wegen des Ausbleibens struktureller Konvergenz unverändert hohen Anleiherenditen der Problemstaaten führen aber zunehmend zu einem Auseinanderdriften und einer Fragmentierung der Euro-Mitgliedsländer. Die EZB riskiert folglich gerade durch eine Fortsetzung der Geldschwemme, dass sich eine EZB-Leitzinssenkung nicht mehr gleichmäßig auf alle Volkswirtschaften auswirkt.
Wenn sich bei den Investoren der Eindruck weiter verfestigen sollte, dass der gegenwärtige Kurs der Geldpolitik den Reformdruck in den Problemländern zu stark lockert und die Eurozone hierdurch langsam zersplittert, droht – wie das Beispiel Shell zeigt – deren Abwendung von der Eurozone insgesamt. Dies ist genau der Punkt, an dem auch die Refinanzierungskosten Deutschlands in die Höhe schnellen dürften – also des Landes, an dessen finanzieller Solidität der Erfolg so ziemlich aller bisher vorgeschlagenen Lösungen der Eurokrise hängt.
Dis-Integration der Eurozone durch Umfunktionierung der EZB?
Geldpolitische Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten werden immer wahrscheinlicher. Denn die EZB fungiert mittlerweile als zentraler Kontrahent für die grenzüberschreitende Kreditvergabe in der Eurozone. Sie nimmt dabei verschiedene Risiken entlang nationaler Linien auf sich. Diese Vergemeinschaftung von Risiken könnte sich – wenn die geldpolitisch versuchte Rettung der Eurozone schiefgehen sollte – am Ende in eine vollständige Schuldenvergemeinschaftung verwandeln – über gemeinsam getragene Zinskosten hinaus.
Dies ist perfektes Beispiel dafür, dass das Poolen von ungleich verteilten Risiken zur Disintegration der gesamten Eurozone führen kann. Vor allem da vielfach verharmlosend argumentiert wird, es handele sich bei der uneingeschränkten Ausgabe von frisch gedruckten Euros gegen Wertpapiere, deren Wert nur bei einer überzeugenden Lösung der gegenwärtigen Schulden- und Zahlungsbilanzkrise konstant bleibt, lediglich um eine Brückenfinanzierung. Dies trifft offensichtlich nicht zu, wie man an der nicht enden wollenden Reihe ultra-expansiver geldpolitischer Maßnahmen leicht sehen kann. Die EZB ist schlicht in ihrer unkonventionellen Geldpolitik gefangen.
Mit immer größeren Bazookas soll verhindert werden, dass die bisherigen „Dicken Bertas“ zu massiven Wertverlusten auf der EZB-Bilanz führen. Damit den Banken nicht irgendwann die Sicherheiten ausgehen, mit denen sie an diesen Refinanzierungsgeschäften teilnehmen können, senkt man die Qualitätsstandards für die Sicherheiten immer weiter. Gleichzeitig sinkt der Reformdruck immer weiter. Man muss kein Prophet sein, um die Zirkularität dieser Argumentation zu entlarven. Ein klarer politischer Design-Fehler führt zu einer Pfadabhängigkeit der Geldpolitik und zu einer immer geringeren Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Ausstiegs aus dieser Politik.
Zwar konstatieren die Rating-Agenturen und die anglo-amerikanische Finanzindustrie gebetsmühlenhaft, dass die Regierungen in der Eurozone aufgrund der Abwesenheit einer politischen Union zu weit weg von der EZB seien, um die Inflationssteuer aktivieren zu können. Die Mitgliedsländer werden von ihnen deshalb per se mit einem Malus dafür versehen, dass sie ihre Schulden nicht ohne weiteres weginflationieren können. Diese Diagnose impliziert aber zugleich, dass der individuelle Verschuldungsspielraum für ein Land innerhalb der Eurozone schlicht deutlich geringer ausfällt als außerhalb. Man kann diesen Spielraum aber nicht durch eine Schuldenvergemeinschaftung in der Eurozone hebeln, da die Risiken strukturell ungleich verteilt sind. Gefragt ist jetzt vor allem nationale politische Führung.
Für Details meiner Argumentation vgl. http://www.economist.com/debate/overview/233.
Dort habe ich mit Paul de Grauwe (LSE) über „Euro debt – should the Eurozone’s debt be mutualised?“ für „The Economist“ vom 11. bis zum 23. Juli 2012 internet-öffentlich diskutiert und die Contra-Position vertreten. Die Internet-Abstimmung ergab zum Abschluss 41 Prozent Zustimmung für Pro und 59 Prozent Unterstützung für Contra.
Quelle: wirtschaftlichefreiheit