Zur Erinnerung: Wie Salesforce und Deloitte sich früh die heutige „paranoide“ Kontrollgesellschaft ausmalten

von Norbert Häring

Schon in den ersten Wochen der Pandemie entwickelten Experten des Cloud-Computing-Anbieters Salesforce und der globalen Wirtschaftsberatung Deloitte ein Szenario, das auf gruselig akkurate Weise die paranoide Kontrollgesellschaft beschreibt, auf die wir zusteuern.

Bereits am 6. April 2020 veröffentlichten Salesforce und Deloitte den Bericht „The world remade by COVID-19: Scenarios for resilient leaders“ (Die Welt, umgepolt durch Covid-19: Szenarien für robuste Entscheidungsträger). Hier die übersetzte Beschreibung eines der vier vorgestellten Szenarien, genannt „Lone Wolves“ (Einsame Wölfe), und zwar die erste Seite komplett, damit Sie nicht denken, die Ähnlichkeit mit aktuellen Gesellschaften sei durch Auswahl nur des Passenden konstruiert:

Die COVID-19-Pandemie entwickelt sich zu einer lang anhaltenden Krise, da die Krankheitswellen den Globus länger erschüttern, als man darauf vorbereitet war. Immer mehr Todesfälle, soziale Unruhen und wirtschaftlicher Niedergang treten zutage. Der unsichtbare Feind ist überall, und die Paranoia wächst. Nationen führen strenge Kontrollen für Ausländer ein und bringen Lieferketten im Namen der Versorgungssicherheit zurück ins eigene Land. Die Staaten isolieren sich im Namen der inneren Sicherheit. Die Überwachung durch die Regierung ist alltäglich, und die Menschen und ihre Bewegungen werden mit technischen Mitteln überwacht.

Was wir (dafür) glauben müssen…

  • Der SARS-Cov-2-Virusstamm, der die COVID-19-Krankheit auslöst, mutiert und entwickelt sich weiter und entzieht sich der Ausrottung.
  • Die Bürger geben im Namen der Viruseindämmung Freiheiten an die Regierungen ab.
  • Die Länder vernachlässigen die Zusammenarbeit und setzen eine isolationistische Politik durch.
  • Die Regierungen greifen zu extremen Überwachungs- und Kontrollinstrumenten.
  • Globale wirtschaftliche Erholung bis Mitte 2022, wobei die Erholung in den einzelnen Ländern unterschiedlich schnell verläuft.

Die Gesellschaft in diesem Szenario wird folgendermaßen näher beschrieben:

  • Physische Distanzierung wird zum Dauerzustand, der den sozialen Zusammenhalt beeinträchtigt. Paranoia und Misstrauen sind weit verbreitet.
  • Die Freiheit des Einzelnen nimmt ab, da die Regierungen strenge Maßnahmen ergreifen (z. B. obligatorische Screening- und Tracking-Programme und Strafen), um die Ausbreitung der Krankheit im Inland einzudämmen.

Die technologische Entwicklung wird folgendermaßen beschrieben:

  • Die Technologie schreitet voran, um den virtuellen Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden, aber die Mittel werden hauptsächlich für extreme Überwachungsmaßnahmen ausgegeben, in der Hoffnung, die allgegenwärtige Pandemie einzudämmen.
  • Es werden fortschrittliche Formen der virtuellen Kommunikation entwickelt, während Ausgangssperren und Vorschriften die persönliche Kommunikation einschränken.
  • Regierungen und Strafverfolgungsbehörden verpflichten sich zur gemeinsamen Nutzung von Daten und führen rasch Gesichtserkennungs- und Überwachungstechnologien ein.
  • Mit der zunehmenden Abhängigkeit von der Technologie und den wachsenden globalen Spannungen wird die Gesellschaft immer anfälliger für Cyberangriffe.

Dieses schon am 6. April 2020 publizierte Szenario und die drei anderen wurden von einem großen Team der beiden Gesellschaften unter Einschaltung von vielen Beratern innerhalb und außerhalb der beiden Unternehmen erstellt. Das passiert nicht innerhalb von Tagen und kaum innerhalb von wenigen Wochen. Das bedeutet, dass dieses Projekt auf den Weg gebracht wurde, als man in Europa und den USA gerade erst anfing, Corona als eine möglicherweise dramatische Sache zu begreifen.

Dass man trotzdem so bald nach dem Corona-Ausbruch mit dieser aufwendigen Arbeit fertig war,  dürfte an der Vorarbeit liegen, die der mutmaßliche Initiator und Haupttreiber des Projekts, der Senior Vice-President für Strategische Entwicklung von Salesforce und Futurologe Peter Schwartz, bereits geleistet hatte. Er hatte schon zehn Jahre vorher in Zusammenarbeit mit der Rockefeller Stiftung das sehr ähnliche und mindestens ebenso hellsichtige Pandemieszenario Lock Step (Gleichschritt) entworfen, ebenfalls ein Szenario intensivierter, technologiegestützter Bevölkerungskontrolle. An dessen Umsetzung haben die Rockefeller Foundation und Schwartz seither gearbeitet.

In seinen Vorreden und Danksagungen vergisst Schwartz seine damalige Szenario-Analyse, ein offenkundiger enger Vorläufer der aktuellen Analyse, zu erwähnen. Im Vorwort zur damaligen Publikation heißt es, ein großes Team habe ein ganzes Jahr an den vier vorgestellten Szenarien gearbeitet

Im August 2020 warb Schwartz in einem Interview mit dem (übersetzten) Titel „Mehr Überwachung kommt: Warum das eine gute Sache sein könnte“ ganz unverhohlen für die im Lone-Wolves-Szenario skizzierte Überwachungsgesellschaft. Die Bürger wollten die intensivierte Überwachung und Kontrolle, „weil es – für die meisten Menschen in den meisten Situationen – mehr nützt als schadet.“





Die anderen Szenarien

Bemerkenswerterweise zeichnen sich alle Szenarien dadurch aus, dass die kleinen und mittleren Unternehmen verlieren und die großen und vor allem informationstechnologisch fortschrittlichsten Konzerne gewinnen. Das ist selbst im ersten Szenario einer relativ bald überwundenen Pandemie so, das ansonsten nicht sehr interessant ist.

Ein weiteres Szenario heißt „Sunrise in the East“ (Sonnenaufgang im Osten) und beinhaltet – kurz gesagt, dass Asien (sprich China) wegen der erfolgreicheren Pandemiebewältigung die Weltführerschaft übernimmt. Da dieses Szenario offenkundig für die USA und ihre Weltkonzerne nicht akzeptabel ist, darf man die Beschreibung seiner hypothetischen Entstehung als Handlungsanweisung verstehen, was unbedingt zu vermeiden ist. Wie schon im Gleichschritt-Szenario geht es darum, in Sachen Radikalität der Pandemie-Maßnahmen nicht (allzu weit) hinter China zurückzubleiben.

Das noch ausstehende Szenario „Good Company“ (Guter Konzern), in dem „Konzerne die Inititative ergreifen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, indem sie Gesundheits-Expertise und fortschrittliche Software und IT-Instrumente bereitstellen“ darf man als komplementär zu „Lone Wolves“ betrachten. Es sieht so aus:

Die COVID-19-Pandemie übersteigt die ursprünglichen Prognosen und stellt eine wachsende Belastung für die Regierungen in aller Welt dar, die die Krise nicht allein bewältigen können. Eine Welle von Partnerschaften zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor entsteht, da Unternehmen als Teil der globalen Lösung in Erscheinung treten. Neue „Pop-up-Ökosysteme“ entstehen, wenn Unternehmen aus verschiedenen Branchen zusammenarbeiten, um auf kritische Bedürfnisse zu reagieren und dringend benötigte Innovationen voranzutreiben. Unternehmen aus dem Bereich der sozialen Medien, Plattformunternehmen und Tech-Giganten gewinnen neues Ansehen. Letztlich bewegen sich die Unternehmen weiter in Richtung „Stakeholder-Kapitalismus“, mit einer einfühlsamen Haltung dazu, wie sie ihren Kunden, Aktionären und Mitarbeitern am besten helfen können, nach der Krise wieder auf die Beine zu kommen.“

Das ist das rosarote Szenario für die Konzerne. Die durch Lockdowns und Quarantäne einander entfremdeten Menschen werden „zielorientierter“, das heißt, Werte spielen keine Rolle mehr, nur noch Notwendigkeiten und Bequemlichkeit. Sie nutzen Wearables (am Körper getragene Überwachungsgeräte) und künstliche Intelligenz, bereitgestellt von den Tech-Konzernen, um ihre Sicherheit und Gesundheit (scheinbar) in die eigenen Hände zu nehmen. Online-Unterricht wird akzeptabel und viel Geld wird investiert um Erziehung und Bildung zu digitalisieren. Tele-Medizin setzt sich durch.

Die Menschen nehmen die Technologie und ihre Rolle in ihrem Leben immer mehr an und kehren damit frühere Trends in Richtung ‚Techlash‘ (Widerstand gegen Digitalisierung, N.H.) um.“

Es macht den Menschen immer weniger aus, Konzernen ihre Daten zu überlassen. Große Konzerne, kommen besser mit den Umwälzungen zurecht als die Kleinen. Diese werden aufgekauft oder gehen unter, ebenso all jene, die sich nicht mit Enthusiasmus der Digitalisierung verschreiben.

Die größeren Konzerne übernehmen Funktionen, die früher der Staat erfüllt hat.“

Weil der Staat schwer mit dem Virus zurechtkommt, kommen die Konzerne zu Hilfe. Langfristig gibt es deshalb eine „intensivierte Partnerschaft“ zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Das Vertrauen in den Staat leidet.

Es wird zwar zu diesem Szenario nicht ausdrücklich gesagt, dass darin ebenfalls eine technologisch totalüberwachte Gesellschaft beschrieben wird, aber für das nur ein wenig kritische Auge ist es offenkundig.

Konzerne taten wie geheißen

Die großen US-Konzerne haben es sich nicht zweimal sagen lassen:

  • Google und Microsoft haben schon früh unter anderem mit New York ein Abkommen geschlossen, dass ihnen die Fortentwicklung des Bildungssektors anvertraut.
  • Microsoft, Weltwirtschaftsforum und andere haben eine Vielzahl von Initiativen und Organisationen gegründet, um den Regierungen beim Übergang in die technologiegestützte Totalüberwachung zu helfen.
  • Unter anderem haben sie mit einer Impfnachweisinitiative den Regierungen ein standardisiertes Modell für einen digitalen Impfpass bereitgestellt.

Der Konzerninitiativen und öffentlich-privaten Partnerschaften in diese Richtungen sind so viele, dass ich sie hier nicht alle aufzählen kann. Das Dossier im Anhang bietet sehr vielfältiges Anschauungsmaterial.

Mehr

Dossier zum Marsch in die Überwachungsgesellschaft

Und zur (sehr wichtigen) geopolitischen Komponente des Ganzen:

Wie Covid-19 den USA in der Konkurrenz mit China um die globale Vorherrschaft hilft

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