Ein Kommentar in der FAZ

von Gert Flegelskamp (flegel-g)

Da hat in den USA der Vermögensforscher Piketty ein Buch („Capital in the Twenty-First Century“) geschrieben, über 700 Seiten stark, in dem er den unerbittlichen Trend zur Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm zu erkennen glaubt. Sein Buch hat sich in den USA gut verkauft und seine Theorien werden so aufgefasst, dass man ihn als „neuen Karl Marx“ bezeichnet.

Das ist der FAZ schon mal einen 8-seitigen Gastbeitrag von Karl-Heinz Paqué wert, einem FDP-Politiker, ehemals FDP-Finanzminister in Sachsen-Anhalt. Titel: Gibt es doch Gesetze des Kapitalismus? .

Wie von einem FDP-Politiker und Volkswirtschaftler nicht anders zu erwarten, verreißt er das Buch und versucht mit aus meiner Sicht typischer Argumentation der Liberalen die Thesen von Piketty ad absurdum zu führen.

Natürlich erhebt sich zunächst die Frage, wer das Buch von Piketty (das in Kürze in Deutsch erscheinen soll) wohl alles lesen wird, 700 Seiten, vermutlich mit jeder Menge statistischer Daten und den zugehörigen Grafiken angefüllt. Ich gehe dabei davon aus, dass in den Textseiten Begriffe und Verknüpfungen auftauchen, die Wirtschaftswissenschaftlern als Allgemeinwissen gelten, für Otto Normalverbraucher aber böhmische Dörfer sind. Das hat wiederum zu Folge, dass dieses Buch diejenigen lesen, die eher nicht daran interessiert sind, die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen auch unter die Leute zu bringen, weil sie am System partizipieren. Aus meiner Sicht sind die „Erkenntnisse“ des Herrn Paqué genau das, was anschließend in den deutschen Medien zu diesem Buch gesagt werden wird.

Ich gehe dabei davon aus, dass Wirtschaftswissenschaftler wie Paqué eher selten das Innere von Industrieunternehmen gesehen haben und wenn, sich dann weniger mit der Produktion als mit Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen beschäftigt haben. Selbst wenn sie mal einen Blick auf die Produktion geworfen haben, haben sie sich wohl weniger Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkungen die Technik auf die Arbeiterschaft ausgeübt hat und weiterhin ausübt, sondern sich mehr mit Fragen der „Optimierung“ der Arbeitsabläufe beschäftigt.

Doch der Reihe nach. Kritik äußert Paqué im Kapitel „grundsätzliche Zustimmung“ daran, dass angeblich die Vermögensanteile der heutigen „Top 10“ und „Top 1“ geringer als vor dem WK1 sind. Hier, so glaube ich, übersieht Paqué einen Trend, der ihm eigentlich nicht unbekannt sein dürfte. Die Vermögensverteilung der Reichsten, in regelmäßigen Abständen von Forbes aufgelistet, ist in etwa so aussagekräftig wie die bäuerliche Wetterprognose, nach der es heißt: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.“

Wer welche Vermögen besitzt, weiß Forbes ebenso wenig wie ich, denn Forbes kann immer nur die Daten aus den sichtbaren Vermögen publizieren. Ich glaube nicht, dass Forbes dabei die absolut unübersichtliche Verflechtung der Unternehmens- und Konzernstrukturen überblicken kann und vermutlich auch nicht will. Wer die Forbes-Listen über einen längeren Zeitraum beobachtet hat, musste erstaunt feststellen, dass viele der Superreichen mit einem Milliardenvermögen über die Jahre keine Zuwächse ihres Vermögens zu verzeichnen hatte. So standen Gates, Buffet oder die Aldi-Brüder immer auf einem relativ gleichen Vermögensstand mit mal geringen Abweichungen nach oben und nach unten und das galt für fast alle aufgelisteten Vermögen. Ob die Ursache wohl daran liegen kann, dass es so schöne Finanzplätze auf diesem Planeten gibt, auf denen man Kapitalzuwächse so schön verstecken und damit auch der ohnehin schon zu geringen Besteuerung entziehen kann? Kann es sein, dass die so sozial klingende Aussage, das Kapital in eine Stiftung auszulagern (Gates, Buffet, Aldi), auch in der Berechnung der Forbes-Liste ausgelagert wird, obwohl die Kapitaleigner diese Stiftungen vor allem aus steuerlichen Gründen einrichten (Aldi z. B. hat damit die Erbschaftssteuer umgangen) und ansonsten dennoch in den meisten Fällen vollen Zugriff auf das Stiftungsvermögen haben (Gates: Wir führen die Stiftung wie ein Unternehmen).

Natürlich sind das von mir angestellte Vermutungen, die aber von der Logik geleitet werden, dass die großen Vermögen ganz sicher nicht stagnieren, weil die Kapitaleigner das Raffen ebenso sicher nicht aufgeben.

Eher amüsant (aber vor allem dreist) finde ich die Aussagen von Paqué, wenn er vom „auslaufen der Finanzkrise“ und einer dann einsetzenden Umkehr des Verteilungsprozesses fabuliert. Als sei die Finanzwirtschaft eine Badewanne, bei der man vergessen hat, den Wasserhahn abzudrehen und es nun reicht, den Stöpsel zu ziehen. An der Zockerei auf den Finanzmärkten hat sich aus meiner Sicht nichts geändert, sie wurde nur verlagert.

Nicht minder dreist (um nicht zu sagen dummdreist) finde ich seine Darstellung über den Arbeitsmarkt bzw. die Entlohnung, die er als Folge der Babyboomer beschreibt und die sich umkehrt, wenn diese Babyboomer den Weg ins Nirwana angetreten haben. Die Demographie muss also wieder herhalten. Da frage ich mich doch, was an den Unis heute als Wirtschaftswissenschaft gelehrt wird.

Fakt ist doch, dass das so genannte Wirtschaftswunder eine Folge des Wiederaufbaus und des Nachholbedarfs nach WK2 gewesen ist und deshalb auch die Nachfrage nach Arbeitskraft stärker war als das Angebot. Kompensiert wurde die Nachfrage damit, dass man Gastarbeiter holte. Das war auch die Erfolgszeit der Gewerkschaften, die in den Gehaltsverhandlungen ansehnliche Gehaltserhöhungen herausholten, mit der Folge eines Anstiegs der Inflationsrate. Bereits Ende der 60er Jahren begann dieser Erfolg zu bröckeln, vor allem in der Kohle- und Stahlindustrie, dort wohl als Folge der Montanunion, dem Grundstein der EU. Doch es gab weitere Faktoren, die im Laufe der folgenden Jahrzehnte Arbeit verdrängten und das waren nicht etwa die Gastarbeiter, sondern die allmähliche Sättigung der Marktes, die allerdings durch den Boom in der Automobilbranche abgefedert wurde. Die Fortschritte der Technik und die der Medizin wurden hingegen gefeiert und dabei wurde seitens der Bevölkerung nicht darauf geachtet, dass die Technik immer mehr Arbeitsplätze verdrängte und der Fortschritt in der Medizin ebenso wie die immer besseren Sicherheitsstandards dazu führten, dass das vorzeitige Ableben der Menschen sich immer weiter nach hinten verlagerte, mit der Folge, dass mehr Jugendliche auf den Arbeitsmarkt drängten und Arbeitnehmer statistisch gesehen länger einen Arbeitsplatz besetzten. Hinzu kam, dass die Technik ganze Arbeitsbereiche ersetzte und in anderen Bereichen die Menge der Arbeitslätze erheblich ausdünnte. Sah es zunächst so aus, als würden die wegbrechenden Arbeitsplätze in der Verwaltung durch den Einsatz von Computern mit den an und für die Arbeit an den Computern neu entstandenen Arbeitsplätze kompensiert, wurde auch das schnell anders. Die zuvor durch Programmierer für die Firmen selbst gestrickten Programme wurden durch die auf Systemsoftware spezialisierten Unternehmen durch fertige und flexibel einsetzbare Software ersetzt. Große Unternehmen übernahmen beim Outsourcing die IT-Aktivitäten anderer Unternehmen und damit reduzierte sich die Zahl erforderliche IT-Fachkräfte gewaltig. Die anfänglich noch simpel gestrickten PCs in ihren Verwendungsmöglichkeiten wurden immer leistungsfähiger und verdrängten mehr und mehr die Großrechner und damit auch die dafür erforderlichen Arbeitsplätze.

Als Schröder die Regierungsgeschäfte übernahm, hatten wir statistisch gesehen mehr als 5 Millionen Arbeitslose, real waren es noch wesentlich mehr, denn bereits unter Jagoda wurden die Arbeitslosenstatistiken frisiert. Schröder reagierte mit der Agenda 2010 und ich glaube, Hartz hatte nicht den Auftrag, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, sondern Mittel und Wege zu finden, diese Arbeitslosigkeit zu vertuschen. Die Folge waren die Hartz-Gesetze

.

Parallel dazu wurde Rürup als Leiter einer Kommission bestimmt, die durch die Arbeitslosigkeit sich abzeichnenden Rentenlücken durch Senkung des Rentenniveaus in einer für Otto Normalverbraucher glaubhaften Form einzuleiten und zu begründen. So entstand aus dem von Prof. Schreiber, dem „Vater“ der aus Umlagen finanzierten Rente, dem mal verwendeten Begriff des Generationenvertrags die zusätzliche Anwendung des Begriffs der „Generationengerechtigkeit“. Das klingt so schlüssig, weil ja die Beiträge der in Arbeit befindlichen Generationen die Auszahlung der anstehenden gesetzlichen Renten finanziert wird. Und, welch glücklicher Umstand, die Geburtenrate sank und ermöglichte so auch noch die Verwendung der demographischen Keule, massiv unterstützt mit statistischen Angaben über eine immer längere Lebensdauer und deren Auswirkungen auf die arme Jugend, von denen immer weniger immer mehr und immer älter werdende Rentner finanzieren müssen.

Ich muss gestehen, die Rhetorik war brillant. Das findet die Politik und die Wirtschaft incl. der Wirtschaftswissenschaft wohl auch, denn sie verwenden diese Argumentation bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Da ist es besonders hilfreich, dass viele Menschen Probleme damit haben, zwei verschiede Themen in einem Zusammenhang zu sehen.

Da wäre zuerst der Fehler, dass man nicht alle in dieses Rentensystem eingebunden hat und zusätzlich noch die Beitragszahlungen für die Besserverdienen mit der Beitragsbemessungsgrenze gedeckelt hat.

Hinzu kommt die Situation auf dem Arbeitsmarkt, den Paqué ja als erfreulich gut bezeichnet. Doch inzwischen ist selbst vielen BILD-Lesern bewusst, dass dieser erfreulich gut funktionierende Arbeitsmarkt auf den Frisierkünsten der Arbeitsagentur für Arbeit beruht und „gut“ weit von der Realität entfernt ist

.

Arbeitslos ist nicht, wer keine Arbeit hat und trotz verzweifelter Suche keine Arbeit findet, sondern ausnahmslos diejenigen, denen die Arbeitsagentur zubilligt, dass sie arbeitslos sind. Statistisch gesehen ist, wer über 58 Jahre alt ist, nicht arbeitslos, auch dann nicht, wenn er keine Arbeit hat und gerne arbeiten möchte. Statistisch gesehen ist auch der nicht arbeitslos, den man mit „leichtem Zwang“ in eine als Arbeitsgelegenheit bezeichnete unbezahlte Tätigkeit mit einer pauschalen Aufwandsentschädigung vermittelt. Auch krank darf man als Arbeitsloser nicht werden, denn dann fliegt man aus der Statistik. Und wenn man mit jemandem liiert ist und zusammen wohnt, der noch ein wenig Geld verdient, hat man im Kreis der „privilegierten“ Arbeitslosen nichts zu suchen. Und die Sanktionstechniken der Arbeitsagentur, um das ALG für gewisse Zeiträume zu streichen und sie für den gleichen Zeitraum aus der Statistik zu löschen, werden auch immer mehr „verfeinert“. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, werden bei Bekanntgabe der Zahlen der Arbeitslosenstatistik nur die Zahlen der Langzeitarbeitslosen genannt, nicht aber die im ALG I-Bezug. Über die Zeitarbeiter und die prekär Beschäftigten, die als Aufstocker gelten, schweigt das Ministerium lieber bzw. versteckt sie in einem Wust von Excel-Dateien. Die Zahl der ALG II-Empfänger bleibt nahezu unverändert hoch, wie diese Statistik ausweist: Statista

.

Nun wissen wir ja alle, dass wir in Deutschland an einem Fachkräftemangel leiden, weshalb man händeringend Fachkräfte im Ausland sucht. Was es mit dem Fachkräftemangel auf sich hat, erklärt dieses Video. Auch die Mär von den Unqualifizierten dient nur dazu, die fehlende Vermittlung durch die Arbeitsagentur zu vertuschen und die Arbeitslosigkeit lediglich zu verwalten oder Arbeitslose in zu niedrig bezahlte Arbeit zu drängen, zum Wohle der Industrie und zum Nachteil der Allgemeinheit, weil die Kosten für das Aufstocken von zu niedrigen Löhnen ja aus Steuermitteln erfolgt. Es ist klar, wenn man einige Zeit arbeitslos gewesen ist, muss man erst wieder eine gewisse Zeit eingearbeitet werden. Und wenn ein Unternehmen z. B. einen Ingenieur sucht, nicht älter als 25 Jahre mit 10-jähriger Berufserfahrung, wird es keinen finden, der diese Anforderung auch erfüllt und kann jammern, dass sich niemand oder die Falschen auf diese Stelle bewerben.

Nun die Statistik, dass die Menschen immer älter werden, oder die dramatische Variante: „Deutschland vergreist“. Auch mit dieser Statistik wird eine Geschichte und nicht die Wahrheit erzählt, weil damit Zahlen, die für die Gesamtgesellschaft erhoben werden, 1 zu 1 auf die gesetzliche Rentenversicherten angewendet werden und weil es keine echten Werte, sondern Hochrechnungen sind. Sicher, die Fortschritte in der Medizin haben auch bewirkt, das die Menschen älter werden, aber keineswegs in dem prognostizierten Ausmaß. Das wird mit statistischen Tricks erreicht, die Vergleichszahlen aus Hochrechnungen vergangener Jahrzehnte heranziehen, als Medizin, Arbeits- und Verkehrssicherheit noch weit weniger Menschen ermöglichen konnten, auch das Rentenalter zu erreichen. Und ein frühes Ableben hat eine senkende Wirkung auf die Statistik. Diese Parameter haben zudem bewirkt, dass die Menschen dem Arbeitsmarkt länger zur Verfügung stehen. Dass Menschen in vielen sozialversicherungspflichtigen Berufen dabei schneller verschleißen und deshalb auch weniger lange leben, hat das Max-Planck-Institut herausgefunden und deshalb die Lebenserwartung von GRV-Versicherten um ca. 5 Jahre geringer eingestuft, als z. B. die von Beamten.

Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit, den der andere Teil der Geschichte ist ja, dass man uns erzählt, dass zu wenig Kinder geboren und deshalb die Renten unbezahlbar werden, das demographische Problem. Das ist schon kein Sand mehr, den man uns in die Augen streut, das sind schon Pflastersteine. Es stimmt ja, heute muss einer die Arbeit machen, die früher 6 oder 7 Leute (und mehr) machen mussten. Aber nicht, weil es an Arbeitskräften mangelt, die diese Arbeit verrichten könnten, sondern weil dieser Eine die mitunter riesigen Maschinen leicht bedienen kann, die diese Arbeit verrichten, für die man früher teilweise noch viel mehr Leute einsetzen musste. Gelegentlich gibt es ja auch mal Berichte, die das zeigen. Vor einiger Zeit habe ich mal einen Fernsehbericht gesehen, der die „Backstraße“ einer Großbäckerei zeigte, die je nach Programm Brötchen oder Brote von den Zutaten bis zum backfertigen Endprodukt ganz ohne menschliches Zutun vorbereitete. Diese Maschine wurde von einem Mann bedient und konnte in einer Schicht viele tausend Brötchen und viele Brote vorbereiten, die dann nur noch in die ebenfalls riesigen Öfen geschoben werden mussten. Das was diese Maschine leistete, hätten früher 100 Bäcker nicht schaffen können. Wer mal die Filme gesehen hat, wie früher für Rundfunk- und Fernsehgeräte die Platinen mit den Transistoren von Hunderten von Frauen bestückt wurden und das mit den heutigen Vollautomaten vergleicht, die die Chips ohne menschliches Zutun in einer atemberaubenden Geschwindigkeit herstellen und dazu lediglich einen Einrichtungsvorgang benötigen, sollte erkennen, dass wir mit all dem Gejammer der Industrie nur von den eigentlichen Problemen abgelenkt werden. Arbeitskräfte gibt es genug, aber keine Arbeit. Ein echter Arbeitskräftemangel wäre leicht durch (anständig bezahlte) Gastarbeiter zu beheben, so wie man das in Wirtschaftswunderzeiten auch gemacht hat. Demographie in der üblichen Darstellung ist ein Märchen.

Ich habe eingangs das Buch von Piketty erwähnt und ich vermute, dass er bei seinen negativen Prognosen bzgl. der Spaltung der Gesellschaft in arm und reich auch genau diese Machenschaften angesprochen hat. Dass das einem FDP-Politiker sauer aufstößt, verwundert mich nicht. Aber dass Paqué und in diesem Fall die FDP immer wieder mit längst widerlegten Thesen dagegen lamentieren, ist eher primitiv, aber nicht unwirksam, schließlich hat man diese Art von Vorurteilen jahrzehntelang in die Hirne der Allgemeinheit gehämmert. Liberalismus ist schon ein Symbol für Freiheit und zwar für die Freiheit der Ausbeutung. Insofern sind Liberalismus und Kapitalismus sehr enge Verwandte.

Wie ich finde, passt der aktuelle Paukenschlag von Egon W. Kreutzer sehr gut hierher.

(Visited 7 times, 1 visits today)
Ein Kommentar in der FAZ
1 Stimme, 5.00 durchschnittliche Bewertung (98% Ergebnis)

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*