Das türkische Volk hat seine Furcht vor der Autorität abgelegt – und die Proteste nehmen zu
Ece Temelkuran
4. Juni 2013
„Nun, wir füllen Glühbirnen mit Farbe“, sagte meine Freundin, eine Café-Besitzerin in Cihangir, dem Soho von Istanbul. Sie sprach über Telefon und schien genauso entspannt wie wenn sie einen Apfelkuchen backt. „Du weißt es ist die einzige Möglichkeit einen TOMA zu stoppen, wenn man Farbe auf die Windschutzscheibe wirft. Dann verliert das Fahrzeug die Orientierung.“
Meine Freundin, die völlig uninteressiert an Politik war bis vor sechs Tagen, ist niemals mit der Polizei in Konflikt gewesen. Jetzt, wie hunderttausende andere in der Türkei, ist sie eine Kämpferin mit Schutzbrille um den Hals, einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht und einer Flasche mit anti-Säure-Lösung in der Hand.
Wie wir alle gelernt haben, ist dies die Grundausrüstung, um gegen die Auswirkungen des Tränengases geschützt zu sein. Was das TOMA angeht, so ist das die Wasserkanone, die auf Fahrzeuge montiert wird. Um sie auszuschalten, muss entweder ein nasses Handtuch in ihr Rohr gesteckt werden oder etwas unter dem Fahrzueg verbrennen oder du mit einem Dutzend anderer Leute können es umwerfen. Diese Art von Schlachten-Info zirkuliert jetzt in der ganzen Türkei. Es ist wie ein Bürgerkrieg zwischen dem Volk und der Polizei. Doch niemand hat das erwartet, als vor sechs Tagen eine Gruppe Demonstranten ein sit-in in Istanbuls Gezi-Park organisierten, um die Bäume zu schützen, die für ein städtisches Entwicklungsprojekt gefällt wurden.
Zehn Jahre Arroganz
Die Proteste, die jetzt das ganze Land erfasst haben, mögen wohl im Gezi Park in Taksim begonnen haben, dem Herzen von Istanbul. Aber es ging nie bloß um Bäume, sondern um die Häufung von vielen Vorfällen. Mit der höchsten Anzahl von gefangenen Journalisten in der Welt, Tausenden von politischen Gefangenen
(Gewerkschaftler, Politiker, Aktivisten, Studenten, Anwälte) ist die Türkei in ein Freiluft-Gefängnis verwandelt worden. Institutionelle Gewaltenteilung ist durch die politischen Manöver der gegenwärtigen AKP-Regierung beseitigt worden, so dass ihre Handlungen nicht kontrolliert werden können. Über diesen zunehmenden Autoritarismus hinaus ist der wichtigste Grund, weshalb die Leute auf die Straße gehen, der arrogante Ton des Premierministers Recep Tayyip Erdogan.
Selbst am Sonntag, als Millionen sich den Demonstranten anschlossen, nannte er die Protestler ‚Plünderer‘. In seiner ganzen Amtszeit ist seine Rhetorik immer so gewesen. Er hat wiederholt seine politischen Gegner „Alkoholiker, Marginalien, Klebstoffschnüffler, Banditen, Ungläubige“ genannt. Sein höhnischer Sarkasmus ist sein „Ding“ geworden mit der Zeit und selbst einige seiner engsten Kollegen stimmen zu, dass „er auf niemanden mehr hört“.
Dann ist da die Furcht. Über solche Dinge ist es schwer, in einer Zeigung zu berichten. Vielleicht ist es deswegen, dass die internationalen Medien nicht berichtet haben, dass die Furcht vor der Regierung und dem Premier ständig zunahm, selbst unter unpolitischen Menschen. Man kann durchaus seinen Gemüsemann sagen hören ‚Ich glaube, mein Telefon wird abgehört‘. Darüber haben die Mainstream-Medien nicht berichtet – so etwas konnten wir nur in den sozialen Medien lesen – wie Leute verhaftet wurden oder Witze über die Regierung. Vielleicht kommt es daher, dass in den vergangenen zwei Tagen jede Wand am Taksim Platz voller Flüche gegen den Premierminister ist. [En passant, ein Fluch war ‚Hurensohn‘, worauf Sexarbeiterinnen ein Plakat schrieben, das die Runde im Netz machte: ‚Der ist nicht unser Sohn‘.] Die Öffentlichkeit genießt den Tod der “grausamen Vaterfigur“ mit ungemein sexistischen Flüchen, wie ich sie nie in meinem Leben gesehen habe. Und ich habe einige gesehen. Aber es gibt eine wichtigere Komponente bei diesen Protesten.
Die Furcht abtöten
Als Schriftstellerin und Journalistin verfolgte ich die ägyptische und die tunesische Erhebung. Wie ich damals schrieb: die arabischen Menschen töten ihre Furcht und ich sah, wie das sie verwandelte aus schweigenden Massen in Menschen, die an sich glaubten. Und dies ist auch in den vergangenen sechs Tagen in der Türkei passiert. Teenager-Mädchen, die sich vor die TOMAs stellen, Kinder, die Tränengaskapseln zurück auf die Polizei werfen, reiche Anwälte, die Steine auf die Bullen werfen, Fußballfans, die rivalisierende Fans vor der Polizei retten, die ultra-Nationalisten, die Arm in Arm mit Kurden-Aktivisten kämpfen … all diese Szenen habe ich erlebt.
Jene, die sich noch vor einer Wochen töten wollten, wurden zu Genossen auf den Straßen. Die Leute überwanden nicht nur ihre Furcht vor der Autorität, sondern sie töteten auch die Furcht vor dem ‚anderen‘. Noch ein wichtiger Punkt: Die Generation, die jetzt auf der Straße marschiert, wurde nach dem Militärputsch von 1980 geboren, der brutal die Öffentlichkeit entpolitisierte. Der General, der 1980 den Coup leitete, sagte: „Wir werden eine Generation ohne Ideologie schaffen.“ Dies war also diese Generation – bis vor einer Woche.
Gefährliche Fragen
„Dies sind also die Medien, von denen wir in den vergangenen 20 Jahren die Nachrichten gehört haben?“ Dies war die Frage, die ein junger Mann auf Twitter gestellt hat, als er sah, wie ein Fernsehreporter den Mund hielt, als der Premier die Demonstranten als „eine Bande von Plünderern“ bezeichnete. Der junge Mann war in den vergangenen sechs Tagen friedlich auf die Straße gegangen, aber jetzt hat er einen großen Verdacht über all das, was seinem Land in der ganzen Zeit passierte. Vielleicht sind die Kurden keine „Terroristen“. Vielleicht haben die gefangenen Journalisten keine „Staatscoups“ geplant. All die gefangenen Gewerkschaftler sind vielleicht nicht Mitglieder einer „terroristischen Vereinigung“. All die Studenten im Gefängnis, waren sie ebenso unschuldig wie er selbst? Der Fragen werden immer mehr.
Während ich schreibe, brennen Istanbul, Ankara – Türkeis Hauptstadt – Ismir und Adana. Massive Polizeigewalt findet statt. Und in meinem Mittelklasse-Viertel in Istanbul wie in vielen anderen schlagen die Leute auf ihre Pfannen als Protest. Die Leute tauschen Informationen über sichere Plätze aus, um Schutz vor der Polizei zu finden, Telefonnummern von Ärzten und Anwälten. Auf dem Taksim Platz hängen die Leute am Atatürk-Kultur-Zentrum eine riesige Banderole auf. Die einzigen Worte darauf heißen: „GEBT NICHT AUF!“
Ece Temelkuran ist politische Kommentatorin und hat mehrere Bücher geschrieben. Sie schreibt selten auf Englisch. In der Zeitung ‚Al Alkbar‘ habe ich einen Artikel von ihr gefunden: Confessions on Turkei
Quelle – källa – source
Übersetzung: einarschlereth
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