Kaum wurde Deutschlands Kanzlerin Merkel von der renommierten britischen „Times“ zur Persönlichkeit des Jahres gekürt, hat sie es mit einem Skandal zu tun, der dieser Ehrung einen bitteren Beigeschmack der Ironie verleiht. Im Computer einer ihren engen Mitarbeiterinnen wurde ein Virus entdeckt, ein sogenannter Trojaner, der zu den besten seiner Art gehört. Er kann Dateien lesen und kopieren, Paßwörter stehlen, den Datenverkehr überwachen und gelöschte Dateien wieder herstellen. Außerdem ist er extrem schwer zu entdecken.
Das Virus gehört zum elektronischen Arsenal des US-Oberspions NSA, der auch Merkels Handy abgehört hatte, wird aber auch vom britischen Geheimdienst GCHQ dazu benutzt, engste Verbündete auszuhorchen. Die Briten, das sind diejenigen Freunde, die der Kanzlerin gerade so viel Ehre angetan haben. Darauf, daß man gegen sie nur allerbestes Spionage-Material einsetzt, hat die Kanzlerin nach der noch nicht lange zurückliegenden Abhör-Affäre durchaus Anspruch.
Wenn man wollte, so könnte man aus dem neuerlichen Vorfall von Vertrauensbruch einige Lehren ziehen. Zum einen könnte man aus dem illusionären Traum erwachen, es gebe zwischen Staaten so etwas wie Freundschaft. Grundlage der Beziehungen Deutschlands zu den USA und Großbritannien sind nach wie vor die Feindstaatenklauseln der UN, die den Siegermächten gegenüber Deutschland erhebliche Rechte einräumen, bis hin zur militärischen Intervention. Alle offiziellen Behauptungen, due Feindstaatenklauseln hätten etwa durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre Wirksamkeit verloren, sind Lüge oder Dummheit. Ein Abkommen zwischen Staaten kann nie ein UN-Dekret außer Kraft setzen. Wer etwas anderes behauptet, sollte einen Schnellkurs in Völkerrecht belegen. Deutschland ist nach wie vor Feindstaat. Da ist man mit ein bißchen Spionage noch gut bedient.
Andererseits scheint die UN-Bestimmung jene bescheidene Willfährigkeit zu erklären, mit der Deutschland seinen heutigen Verbündeten begegnet. Auch bei dem jetzigen Virus-Angriff wird Berlin streng die Stirne runzeln und erklären, so gehe das nicht, und auch diesmal wird man alles tun, damit die Sache so schnell wie möglich aus den Schlagzeilen verschwindet. Bis zum nächsten Mal.
Man könnte auch die Lehre ziehen, daß man sich im internationalen Verkehr verächtlich macht, wenn man das treibt, was in Berlin Außenpolitik genannt wird. Eine erstaunliche aber wahrscheinlich vorübergehende Ausnahme bildet in gewissem Umfang derzeit der zuständige Herr Steinmeier mit seiner Mäßigung in Sachen Rußland. Was aber die Kanzlerin angeht, so kann ihr Obama nach wie vor seine Direktiven zukommen lassen, wie sie sich Putin gegenüber zu verhalten habe, ob per Telefon oder vielleicht gar über einen dazu geeigneten Trojaner.
Schwer zu glauben ist, daß es sich bei dem entdeckten Exemplar um den einzigen seiner Gattung handeln solle, auch wenn man bei einer ersten Durchsicht keinen anderen gefunden hat. Das heißt aber nicht viel, denn gründlich zu suchen kann äußerst undiplomatisch sein. Ein US-amerikanisches oder britisches Spionage-System zu finden, ist in Berlin eigentlich für die Abwehr der Krisenfall
Mit anderen Worten: Die „Persönlichkeit des Jahrs“ wird weiter damit leben müssen, daß ihr ein über das offizielle Maß hinausgehendes Interesse zuteil wird. Und wenn man dann ab und zu einen Orden verliehen bekommt und der internationalen Wertschätzung versichert wird, muß man dazu auch noch höflich lächeln. Insofern dürfte der Wunsch nach einem guten Neuen Jahr für Deutschlands Kanzlerin auch einen etwas bitteren Beigeschmack haben.
Florian Stumfall
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