Werner Rügemer (Ossietzky 18/2013)
Vor einiger Zeit dachte ich, ich sollte nicht in der soundsovielten Version schriftlich festhalten, daß unsere Bundeskanzlerin sich schon wieder mit oder auch ohne Eingeständnis von »den Märkten« erpressen läßt oder auch mit klammheimlicher Freude mitspielt, während sie ihren Wahlschafen und Wahleseln die besorgt heruntergezogenen Mundwinkel zeigt. Ich wollte nicht schon wieder anprangern, daß die Bundeskanzlerin heimlich die Ausspähung deutscher Bürger, Politiker und Unternehmen durch US-Geheimdienste und US-Firmen deckt und danach scheinheilig den deutschen Boden als rein beschwört.
Strafanzeige wegen Bruchs des Amtseides?
Ich dachte, ich sollte mal zu einem härteren Mittel greifen: Wir müssen die Bundeskanzlerin und ihre Minister wegen des Bruchs ihres Amtseids vor Gericht bringen. Freunde, mit denen ich dies beriet, darunter einige Juristen, rieten ab. Sie sagten: Wir machen uns lächerlich. Denn der Amtseid, den unsere BundeskanzlerInnen und MinisterInnen vor dem Bundestag ablegen, ist gar kein richtiger Eid! Er heißt nur so! Jeder Staatsanwalt würde, ohne sich einer politischen Gefälligkeit schuldig zu machen, die Anzeige aus formalen Gründen abweisen. Ich wollte der Sache nachgehen. Ich holte das Grundgesetz aus dem Regal, 17. Auflage, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung. Ich mußte dabei allerdings, so stellte ich fest, die Tatsache unbeachtet lassen, daß die Bundesrepublik Deutschland keine Verfassung hat. Die alte BRD hatte ja nur ein provisorisches Grundgesetz, das nach der Wiedervereinigung gemäß Artikel 146 durch eine richtige demokratische Verfassung ersetzt werden sollte, eigentlich. Im Einigungsvertrag von 1990, einem völkerrechtlichen Staatsvertrag, heißt es, daß die Verfassung »durch gesamtdeutsche Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung« zustande kommt. Grundgesetz und Vertrag werden somit bis heute verletzt, ohne Konsequenzen für die meistens mit und manchmal ohne Gott schwörenden Täter.
Todesstrafe von deutschem Boden aus
Ich las also notgedrungen in dem nun schon zweifach provisorischen, irgendwie aber doch weitergeltenden Grundgesetz, Artikel 56 den Wortlaut des Amtseides: »Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Bundesgesetze wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.« Übrigens sieht das Grundgesetz den Amtseid nur für den Bundespräsidenten vor, aber er wird auch von den Bundeskanzlern und Ministern geschworen.
Wenn wir die Bundeskanzlerin Merkel etwa verklagen würden wegen Beihilfe zur Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses durch in- und ausländische Geheimdienste und private Firmen, was würde dabei herauskommen? Oder wegen der Todesstrafe, zudem ohne Gerichtsurteil, die von deutschem Boden ausgeht, wo das US-Militärkommando Africom in Stuttgart die Befehle zur Ermordung von »Terroristen« losschickt? Wo doch laut Grundgesetz die Todesstrafe verboten ist? Einen Vorgeschmack hat uns das Bundesverfassungsgericht gegeben: Kürzlich hat es der Bundeskanzlerin bescheinigt, daß sie beim milliardenschweren Rettungsschirm ESM und beim Euro-Plus-Pakt den Bundestag »nicht ausreichend informiert« hat. Mit dieser rechtlich diffusen Formulierung, diesem »unbestimmten Rechtsbegriff«, diesem Produkt einer rechtlichen Grauzone hat unser oberstes Verfassungsorgan zwar bestätigt: Die Bundeskanzlerin hat sich nicht verfassungskonform verhalten. Aber das Gericht hat nicht gewagt, ein rechtlich klares Urteil zu fällen und die Verträge, Verordnungen und Gesetze für unwirksam zu erklären. Kein Wort auch zu den Konsequenzen für die Kanzlerin. Wieso eigentlich?
Ein NS-Professor legt das Grundgesetz aus
Unsere obersten Richter hielten sich, so erfuhr ich, an die in der deutschen Justiz verbindliche Auslegung des Grundgesetzes und des Amtseides. Sie ist enthalten in dem Grundgesetz-Kommentar von Maunz, Dürig, Herzog, Scholz, bekannt als »der Maunz-Dürig«. Er erscheint gegenwärtig in der 67. Auflage im größten deutschen Verlag für Rechtsliteratur, C.H Beck, der sein Produkt so anpreist: »Schon über ein halbes Jahrhundert – Klarheit von höchster Instanz«. Es gibt bekanntlich verschiedene Auslegungen des Grundgesetzes, aber irgendwie wurde »der Maunz-Dürig« zum Standardwerk, ja sogar zur »höchsten Instanz«. Irgendwie. Wie war und ist dieses Irgendwie beschaffen? Theodor Maunz, der Initiator, war ein Rechtsprofessor, der gleich anderen Juristen wie Carl Schmitt und Ernst Forsthoff dem NS-Regime rechtliche Legitimität verschaffte. Und Maunz wurde beziehungsweise blieb auch in der Bundesrepublik ein angesehener Professor. Maunz war Mitglied der NSDAP und der SA. Er dekretierte: Die bisher in der maroden liberalen Demokratie getrennten Gewalten seien nun »vereinigt in der Person des Führers«. So seien etwa die Rechtsgebote des Führers »die Rechtsgrundlage für die Polizei«. Nach dem NS blieb Maunz Professor, wurde Mitglied der CSU und der Grundgesetz-Versammlung, danach bayerischer Kultusminister und schrieb anonym Artikel in der rechtsradikalen Deutschen Nationalzeitung.
Warum der Amtseid gar kein Eid ist
Maunz‘ Musterschüler Roman Herzog, der als Bundespräsident später auch mal den Amtseid schwor, setzte die Aktualisierung des Kommentars fort. Da steht also zu Artikel 56 Grundgesetz: »Wie sämtliche Amtseide, die im deutschen öffentlichen Recht vorgesehen sind, ist auch der Amtseid des Bundespräsidenten in keiner denkbaren Beziehung strafbewehrt, etwa in dem Sinne, daß eine flagrante Verletzung der im Eid übernommenen Verpflichtungen strafrechtlich als Meineid o.ä. gewertet würde.« Der Amtseid darf also gebrochen werden, und die Täter bleiben ohne Strafe. Diese Auslegung stellt selbst einen Verfassungsbruch dar. Denn nach dem allgemeinen Verständnis dessen, was ein Eid ist und dem deutschen Volke durch den Amtseid vorgespiegelt wird, ist ein Eid strafbewehrt. Dieses Verständnis von Eid gilt nach dem Geist des Grundgesetzes auch für den Amtseid. Im Artikel 61 heißt es dazu: »Der Bundestag oder der Bundesrat können den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen.« Stellt dieses fest, daß der Bundespräsident einer vorsätzlichen Verletzung schuldig ist, »so kann es ihn des Amtes für verlustig erklären«.
Sicher, da ist eine große Schranke eingebaut, so daß die einfachen Bürger nicht klagen können, aber immerhin. Der grundsätzlichen Logik des Zusammenhangs zwischen Eid und Strafbewehrung konnten sich die Verfasser des Grundgesetzes nicht entziehen.
Saubere Weste nur bei Amtsantritt erforderlich
Zusätzlich zu der zitierten Auslegung werden im Maunz-Dürig alle deutschen politischen Eidesleister von vornherein von jeder möglichen Konsequenz beim Bruch des Eides freigesprochen: »Kein Bundespräsident (und übrigens auch kein Bundeskanzler und kein Bundesminister) wird so zynisch und so machtbesessen sein, daß es ihm im Augenblick des Amtsantritts ausschließlich um die Macht, das Ansehen oder die persönlichen Vorteile geht, die mit dem anzutretenden Amt verbunden sind.« Eine solch befreiende Pauschalprognose für alle Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Minister als rechtliche Setzung – erstaunlich, nicht wahr? Unsere Top-Juristen haben noch weitere Hintertürchen eingebaut. Etwa wenn sie schreiben, die Eidesleister würden sicher nicht »im Augenblick des Amtsantritts« und »ausschließlich« zynisch an die reine Macht und so weiter denken. Das bedeutet: Nach dem Augenblick der Eidesleistung dürfen sie zynisch und verfassungsbrecherisch werden, straflos. Und sie dürfen, sagen die Kommentatoren, auch schon im Augenblick des Amtsantritts zynisch sein, wenn sie es »nicht ausschließlich« sind.
»Dat schwör ich dich beim Grab meiner Oma«
Angela Merkel hat von ihrem Förderer lernen können, daß ein Gesetzesbruch wie die heimliche Annahme und Weiterverteilung großer anonymer Unternehmerspenden straflos blieb. Im Artikel »Nur so dahingesagt« (Spiegel 44/2000) wird berichtet: Das SPD-Mitglied Günther Stohmann erstattete Strafanzeige gegen Helmut Kohl wegen mehrfachen Meineids. Stohmann berief sich auf § 154 des Strafgesetzbuchs: »Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.« Die Staatsanwaltschaften Bonn und Köln, orientiert an der »höchsten Instanz« des Maunz-Dürig, teilten Stohmann mit: Der Amtseid eines Bundeskanzlers ist nur »ein politisches Versprechen und kein Eid in einem gerichtlichen Verfahren«. Stohmann ließ sich nicht entmutigen und rang sich zu verzweifeltem Humor durch. Er fragte den »lieben Genossen« Wolfgang Thierse, damals Bundestagspräsident: Könne und dürfe denn der Amtseid eines deutschen Kanzlers nur so eine Art »Kneipeneid« sein, nach dem rheinischen Motto: »Dat schwör ich dich beim Grab meiner Oma«? Thierse beantwortete die Frage des dann endgültig verzweifelten, kritischen Genossen mit einem eindeutigen Ja: Es sei zwar eindeutig, daß Kohl den Amtseid gebrochen habe. Der sei aber kein richtiger Eid, sondern eine »über das Rechtliche hinausgehende Selbstbindung an die Verfassung«.
So durften alle bisher gewählten Eidesleister straf- und konsequenzenlos über Recht und Verfassung »hinausgehen«. Mit und ohne Gottesformel geht dem Führungspersonal der BRD, schon wenn der Weihrauch der Sonntagsreden noch über den Wahleseln wabert, das Grundgesetz am Arsch vorbei.
Demokratischer Notruf zur Bundestagswahl und zu anderem
Der liebe Genosse Bundestagspräsident verwies noch auf einen Ausweg aus diesem Dilemma, das er selbst allerdings gar nicht als solches empfand, wohlwissend aber, daß viele Bürger da trotzdem ein Problem sehen. Er empfahl deshalb: Es sei Sache »nicht zuletzt der Wählerinnen und Wähler, Qualität und Erfolg dieser Selbstbindung zu beurteilen und zum Beispiel auch mit dem Stimmzettel zu bewerten«.
Dieser ritualisierte Ausweg der Stimmzettel-Demokratie ist ein Zirkelschluß derjenigen, die sich im bisherigen Notstand der Demokratie bequem und plapperig eingerichtet haben.
Deshalb: Zur Wahl zu gehen wird erst dann ein Ausweg, wenn die Wählerinnen und Wähler nicht nur zur Wahl, sondern vorher und nachher auch auf die Straßen und öffentlichen Plätze gehen und auch mal ihren Betrieb und ihr Rathaus besetzen; und wenn die Bürgerinnen und Bürger sich von den Wahlesel-Märchen lösen, mit denen die »Verantwortlichen« ihre Verantwortungslosigkeit in Staat und Konzernen übertünchen, und wenn die Bürgerinnen und Bürger sich vom doppelt provisorischen Grundgesetz lösen und eine Verfassung erzwingen, die diesen Namen verdient.
Erschienen in Ossietzky 18/2013
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