Wie wurde Deutschland wieder zum „kranken Mann Europas“?

Ein Kommentar von Rainer Rupp (apolut)

So lautet der Titel einer fundierten Kritik der deutschen Regierung in einer führenden türkischen Tageszeitung, der linksorientierten „Evrensel“. Der Autor ist der in der Türkei prominente Journalist Yücel Özdemir, der für seine kritische Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen bekannt ist, insbesondere im Kontext der Türkei und Europas, mit den Schwerpunkten soziale Gerechtigkeit und Arbeitnehmerrechte. Özdemirs Artikel vom 9. August, der nachfolgend in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird, ist ein deutliches Zeichen, wie sehr das internationale wirtschaftliche und politische Prestige Deutschlands in den nicht auf US/NATO/EU-fixierten Ländern abgestürzt ist.

Hier folgt die Übersetzung:

Das britische Magazin „The Economist“ hat den Begriff „kranker Mann“, der ursprünglich für das Osmanische Reich verwendet wurde, in den letzten 25 Jahren zweimal für Deutschland benutzt. Erstmals tat dies das Magazin 1999 und stellte ein Jahr zuvor auf dem Titelblatt die Frage: „Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?“.

Betrachtet man das vergangene Jahr und die letzten Monate, so hat sich die deutsche Wirtschaft, die einst als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde, tatsächlich in den „kranken Mann Europas“ verwandelt. Niemand erwartet, dass die Schrumpfung der Wirtschaft bis 2030 zu einem ernsthaften Wachstum führen wird. In einem Land, in dem das Wachstum vor fünf Jahren noch 2,5% betrug, erlebt insbesondere der Industriesektor einen starken Rückgang. Die Gefahr der Deindustrialisierung wird zunehmend diskutiert.

Aufgrund des Rückgangs in den Schlüsselindustrien, die fast schon mit der deutschen Wirtschaft gleichgesetzt werden, sind bereits Zehntausende von Entlassungen geplant. Wenn wir uns die Situation in einigen Unternehmen ansehen, wird klar, in welche Richtung der Prozess geht:

  • Der größte Automobilzulieferer Bosch wird bis Ende 2025 insgesamt 2.000 Arbeiter entlassen.
  • Das zweitgrößte Automobilzulieferunternehmen ZF hat angekündigt, bis 2028 14.000 der 54.000 Mitarbeiter in Deutschland zu entlassen. In den Medien gibt es Berichte, dass die Zahl noch höher sein könnte.
  • Der drittgrößte Automobilzulieferer Continental befindet sich ebenfalls in einer großen Krise. Es wurde bekannt gegeben, dass von den weltweit 203.000 Mitarbeitern 7.150 entlassen werden. 40 % davon werden in Deutschland entlassen.
  • Der Zulieferer Webasto wird 10 % der 16.000 Mitarbeiter entlassen.
  • Der Chip-Hersteller Infineon kündigte zu Beginn der Woche an, aufgrund von Überproduktion 1.400 Mitarbeiter zu entlassen.
  • Im Softwarebereich wird das wichtigste Unternehmen in Deutschland, SAP, 10.000 Mitarbeiter entlassen.

Allein die Entwicklungen bei Bosch, ZF, Continental, SAP und Webasto zeigen, dass eine große Krise in der Kernindustrie des Landes, der Automobilbranche, bevorsteht. Die Investitionen in Elektroautos haben sich aufgrund niedriger Nachfrage und starker Konkurrenz nicht ausgezahlt. Der Rückgang in den Lieferketten wird zwangsläufig auch mittelständische Unternehmen treffen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Chemieindustrie.

BASF hat angekündigt, 2.600 Mitarbeiter zu entlassen, ein Drittel davon in Deutschland. Evonik hat beschlossen, bis 2026 2.000 Mitarbeiter zu entlassen, davon 1.500 in Deutschland. Der Aspirin-Hersteller Bayer verzeichnete im zweiten Quartal dieses Jahres einen Verlust von 1,65 Milliarden Euro im Vergleich zum gleichen Quartal des Vorjahres und plant infolgedessen ebenfalls Entlassungen. BioNTech, das mit Corona-Impfstoffen Rekordgewinne erzielte, verzeichnete im zweiten Quartal dieses Jahres einen Verlust von etwa 800 Millionen Euro. Die neue Hoffnung des Unternehmens liegt in einem Krebsmedikament, das bis 2026 zugelassen werden soll.

Darüber hinaus hat der Hersteller von elektrischen Haushaltsgeräten Miele beschlossen, einen Teil seiner Produktion nach Polen zu verlagern und insgesamt 2.700 Mitarbeiter zu entlassen. Die Deutsche Bahn hat angekündigt, 30.000 Mitarbeiter zu entlassen. Wenn man die Entlassungen in kleinen und mittleren Unternehmen hinzuzählt, wird deutlich, dass die Folgen der wirtschaftlichen Stagnation hauptsächlich auf den Schultern der Arbeiter abgeladen werden.

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die wirtschaftliche Stagnation überwunden wird. Die optimistischste Wachstumsprognose für 2025 liegt bei 0,5 %. Aber warum ist die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu anderen entwickelten kapitalistischen Ländern besonders stark betroffen und zum „kranken Mann Europas“ geworden? Lassen wir einmal die Wachstumsraten von China, Russland und Indien beiseite; selbst das Wachstum in Frankreich und Großbritannien ist besser als in Deutschland. Viele bürgerliche Ökonomen führen den Rückgang in Deutschland auf „den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften“ zurück. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Arbeitslosenquote ist in den letzten zwei Jahren von 5,3 % auf 6 % gestiegen.

Der Hauptgrund für den negativen Wachstumstrend in Deutschland ist zweifellos der Ukraine-Krieg. Doch die Politiker und Ökonomen, die den Krieg voll unterstützen, versuchen, diese Tatsache vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Bevölkerung hingegen ist sich dessen bewusst. Das Vertrauen in die Regierung, die das Land in den Krieg treibt, ist auf ein Rekordtief gesunken. Die Regierungsparteien verlieren ständig an Macht.

Der größte Vorteil der deutschen Wirtschaft, die sich lange Zeit aus dem Außenhandel ernährte, war die billige Energie, die aus Russland bezogen wurde. Diese billige Energie, die die Räder der Industrie in Bewegung hielt, ist seit zwei Jahren unterbrochen, und die Energie wird zu einem vielfach höheren Preis aus anderen Ländern importiert. Die mit dem Krieg gestiegenen Energiepreise verringern einerseits die Kaufkraft der deutschen Arbeiter und erhöhen andererseits die Stückpreise der Produkte und verringern ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Infolgedessen ist der Konsum von nicht lebensnotwendigen Gütern zurückgegangen.

Laut dem „Energiebarometer“ der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) beabsichtigen 37 % der Industrieunternehmen, die Produktion in Länder ins Ausland zu verlagern, wo die Energie- und Arbeitskosten niedriger sind. Dieser Anteil lag 2022, als der Krieg begann, bei 21 %.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Verlängerung des Ukraine-Krieges wird die „Krankheit“ der deutschen Wirtschaft weiter verschärfen, und die „Rechnung“ für die Krankheit wird auf die Arbeiter und Angestellten abgewälzt. Deshalb muss insbesondere die Arbeiterklasse an der Spitze des Kampfes gegen den Krieg stehen.

Quelle und Anmerkungen

 

Quelle: “Ekonomi mucizesi” Almanya, nasıl “Avrupa’nın hasta adamı” oldu?

Yücel Özdemir • 9. August um 06:49

https://www.evrensel.net/yazi/95346/ekonomi-mucizesi-almanya-nasil-avrupanin-hasta-adami-oldu

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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