Schneller, lauter, härter: Putin, Prigoschin und der NATO-Gipfel in Vilnius

Ein Kommentar von Hermann Ploppa (apolut)

Der Irrlauf des Söldner-Unternehmers Prigoschin nach Rostow und Moskau hat den Kriegstreibern auf beiden Seiten der Front einen ungeahnten Aufschwung beschert.

Die Ereignisse rund um Prigoschins „Marsch der Gerechtigkeit“ nach Moskau haben gezeigt, wie schnell sich Verwundbarkeiten eines Staates aufzeigen lassen. Großmäulig spielte sich der  Eigentümer von Russlands größter Privatarmee Wagner mit ihren vermutlich 50.000 Fußsoldaten als Regent des riesigen Staates im Herzen Eurasiens auf. Putin soll gefälligst seinen Verteidigungsminister Sergei Shoigu entlassen, zusammen mit dem Stabschef der russischen Armee, Waleri Gerassimow.

Größenwahnsinnig und gleichzeitig infantil wie dereinst Boris Jelzin glaubte der ehemalige Mundschenk Wladimir Putins, alle Hierarchen Russlands würden sich ihm jauchzend anschließen und den Kreml umstellen, bis Prigoschins Forderungen erfüllt sind. Daraus wurde bekanntlich nichts.

Der ganze Ärger um Prigoschin und sein „Wagner-Orchester“ hat auch der Führung der Russischen Föderation nur allzu deutlich vor Augen geführt, dass Privatarmeen dieser Größenordnung ein unkalkulierbares Risiko für das Gemeinwesen darstellen.

Es gibt eine ganze Reihe von Privatarmeen in Russland. Zu nennen sind hier: Redut mit 7.000 Infanteristen. Oder die tschetschenische Armee von Ramsan Kadyrow. Oder Potok. Oder Fakel. Die meisten waren entstanden in Zeiten großer Instabilität in Russland, als es noch notwendig war, größere Industrieanlagen vor bösen Buben zu schützen. Wagner unterscheidet sich von diesen Werkschutztruppen. Denn Wagner wurde von der russischen Regierung gefördert. Wagner wurde nach dem Vorbild der US-amerikanischen Privatarmee Blackwater aufgebaut. Der „Vorteil“ gegenüber regulären Armeen besteht darin, dass sie alle dreckigen Arbeiten erledigen, die eine verfassungsmäßig legitimierte Staatsarmee nicht erledigen darf. Privatsöldner kämpfen besonders brutal und absolut ethikfrei in fremden Territorien. Wenn private Söldner im Gefecht elend umkommen, ist das, leger gesagt, deren Privatsache. So werden auch die zahlreichen Gefallenen der Wagner-Truppen bei der Eroberung von Bachmut nicht Staatschef Putin angelastet. Denn die Jungs haben sich ja freiwillig gemeldet. Oder auch nicht ganz freiwillig. Strafgefangenen wurde angeboten, bei Wagner anzuheuern und damit dem Strafvollzug zu entkommen. Auch das ist übrigens in den USA gang und gäbe. Als dereinst Jimi Hendrix als junger Bursche was ausgefressen hatte und vor Gericht stand, entschied auch er sich für den Dienst in der Armee anstatt für den Aufenthalt im Gefängnis.

Prigoschins Kerle erlangten einen legendären Ruhm in Russland als besonders mutige Haudegen. Doch die Regierung in Moskau erkannte die Gefahren eines solchen unkalkulierbaren Staates im Staat. Verteidigungsminister Shoigu setzte eine Frist. Bis zum 1. Juli dieses Jahres müssen alle Privatarmeen einen Vertrag unterschreiben, dass sie sich dem Oberkommando des Staates unterwerfen. Alle Privatarmeen einschließlich Kadyrows Tschetschenen-Truppe haben unterschrieben. Nur Prigoschin mit seinen Wagnerianern nicht.

Der weißrussische Präsident Lukaschenko ebnete Prigoschin jedoch den Weg zu einem sanften Ausstieg aus seiner Trotz-Nummer. Nun wird gerade eine neue Wagner-Basis in Weißrussland errichtet. Aber alle Teile der Wagner-Truppen in Russland und in der Ukraine sind ab sofort dem Oberkommando der russischen Regierung unterstellt. Zudem besaß Prigoschin ein Medien-Zentrum in Sankt Petersburg, das nun an den Oligarchen Jurij Kowaltschuk verkauft werden musste.

Erschütterungen im Machtgefüge Russlands? 

Es ist noch nicht klar abzusehen, inwieweit das empfindliche Machtgefüge in der Russischen Föderation unter den Trotzanfällen von Klein-Prigo gelitten hat. Nicht nur westliche Medien berichten, dass einige zentrale Personen des russischen Militärs seit jenem dramatischen 24. Juni nicht mehr in der Öffentlichkeit gesichtet wurden. Am Samstag hatte der General Sergej Surowikin in einer Video-Botschaft Prigoschin aufgefordert, seine Meuterei sofort zu beenden. Doch jetzt sitzt Surowikin zusammen mit General Andrej Judin im Moskauer Lefortowo-Gefängnis <1>. Und sogar der Generalstabschef Gerassimow wurde seit dem Prigoschin-Aufstand nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen <2>. Natürlich gibt es auch in den russischen Streitkräften den Kampf unterschiedlicher Linien, wie in allen Streitkräften dieser Welt. Zum einen erlitten etliche Offiziere einen Karriereknick, als im Jahre 2015 Shoigu Anatoli Serdjukow als Verteidigungsminister ablöste. Diese Offiziere sind frustriert und sinnen auf Revanche. Auf diese Leute setzte Prigoschin seine Hoffnungen auf Unterstützung seiner Meuterei. Oftmals gehen diese persönlichen Animositäten einher mit einer Unzufriedenheit mit der angeblich zu soften Vorgehensweise von Shoigu im Ukraine-Krieg.

Auch im zivilen Bereich der russischen Gesellschaft mehren sich die Stimmen, die in Putin, Shoigu und Gerassimow nur „Weicheier“ und „Waschlappen“ erblicken wollen <3>.

Da gibt es den Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei, Leonid Slutski. Oder die beliebten Talkshow-Master Wladimir Solowjew oder Dimitri Dibrow. Oder der private Sender SPAS des Patriarchs von Moskau. Oder die Neo-Zaristen der Union des Russischen Volkes. Der bekannteste Exponent einer harten Gangart im Ukraine-Krieg ist der Philosoph und Geopolitiker Alexander Dugin. Und entgegen der Mär, dass Dugin der große Einflüsterer Putins sei, hat sich Dugin immer wieder in deutlichen Worten von Putin distanziert:

„Er [Putin] setzt den russischen Staat an die erste Stelle, während ich da zuerst an die russische Welt denke. Die russische Welt ist viel umfassender als der russische Staat. Putin entweiht die russische Identität, und damit enttäuscht er viele Patrioten.“ <4>

Zur aktuellen Situation ist Dugins Position klar: „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Waffenstillstand nicht zu erreichen ist. Wir könnten mit Bedingungen konfrontiert werden, die so hart sind, dass ihre Annahme das gesamte politische System zum Zerbröckeln bringen würde … Was wir jetzt benötigen, ist nicht eine „ausgefuchste Strategie“, sondern ein umsichtig und sorgfältig austarierter Plan für den Sieg.“ <5>

Dugin scheut sich nicht, den Totalen Krieg zu fordern, also die vollständige Unterwerfung der russischen Gesellschaft unter die Erfordernisse des Krieges. Auch taktische Atomwaffen sollen hier kein Tabu sein. Und da ist so ein Weichei wie Putin nicht der richtige Mann, wie Dugin abschließend feststellt: „Deswegen brauchen wir einen Vorkämpfer für den Sieg. Das muss jemand sein, der rational, entschlossen, mit starkem Willen ausgestattet, geradlinig und immun gegen Desinformation und fragwürdige Einflüsse ist. Eine Persönlichkeit, die den russischen Geist verkörpert.“ <6>

Eine gewisse Berechtigung kann man diesen Gedanken nicht absprechen. Tatsächlich besteht die Agenda der Westlichen Wertegemeinschaft seit über einhundertfünfzig Jahren in nichts Anderem, als die totale Eroberung der eurasischen Kontinentalplatte anzustreben <7>. Und Dugin könnte sich in seinen Ausführungen auf die Verhandlungsrunden Minsk I und Minsk II berufen, von denen die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel offenherzig sagte, dass sie nur zum Schein und nur zu dem Zweck geführt wurden, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine für einen großen Krieg gegen Russland fit zu machen. Man kann nur hoffen, dass die russischen Entsprechungen zu unserer obersten Rüstungslobbyistin Agnes Strack-Zimmermann nicht noch mehr Rechtfertigung durch westliche Akte zugeschoben bekommen <8>.

Der Westen will Krieg

Es wird gemunkelt, der Westen arbeite auf einen Friedensschluss noch in diesem Herbst hin <9>. Könnte sein. Auch im Westen gibt es immer den Kampf zweier Linien – zwischen „Weicheiern“ und Hardlinern. Jedoch werden unmissverständlich die Schienen ausgelegt für einen atomaren Endkampf. Denn die beiden US-amerikanischen Senatoren Lindsey Graham und Richard Blumenthal haben eine Resolution im Kongress in Washington eingebracht <10>. Eine Resolution ist eine Art Gesetzentwurf, der von den beiden Häusern des Kongresses mehrheitlich angenommen und dann abschließend vom US-Präsidenten unterschrieben wird – und damit Gesetzeskraft erhält. Bei der Graham-Blumenthal-Resolution wird gefordert, dass jeder Einsatz von taktischen Atomwaffen durch die Russen als kriegerischer Akt gegen die NATO gewertet wird <11>. Taktische Atomwaffen sind nicht zu verwechseln mit jenen Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki gefallen sind. Taktische Atomwaffen haben einen sehr eingeschränkten Wirkungsradius und werden in der offenen Feldschlacht eingesetzt, um den Gegner schneller in die Knie zu zwingen. Nun haben aber Graham und Blumenthal den Begriff der taktischen Atomwaffen bösartig weit ausgelegt. Demzufolge wird sogar als Angriff gegen die NATO gewertet, wenn ein Atomkraftwerk in Russland oder der Ukraine undicht wird und die radioaktiven Strahlen mit dem Wind Mitgliedsländer der NATO erreichen. Wer denkt da nicht sofort an das ukrainische Atomkraftwerk Saporoschje? Dieses Atomkraftwerk befindet sich momentan unter russischer Besatzung, und wird in einer Koalition der Vernunft von ukrainischen Technikern unter dem Schutz russischer Truppen am Laufen gehalten. Es gibt Berichte, dass ukrainische Geschosse bereits öfter den Schutzmantel des Atomkraftwerks bedroht hätten. Zudem bestand eine äußerst gefährliche Situation, als der in der Nähe befindliche Staudamm brach und das Wasser auslief. Zum Glück blieb das Rückhaltebecken, aus dem das Kühlwasser für den Reaktor entnommen wurde, unbeschädigt. Es genügt jetzt nur ein erfolgreicher Raketenbeschuss auf die AKW-Kuppel, um Radioaktivität freizusetzen. Tschernobyl im Jahre 1986 hat schon gezeigt, wie rasch und raumgreifend sich Radioaktivität damals über Zentraleuropa ausbreiten konnte. Mithilfe der Graham-Blumenthal-Resolution könnte die NATO nunmehr Russland nuklear und konventionell angreifen.

NATO-Gipfel in Vilnius

Als wichtiger Stichtag für die ukrainische Regierung wird das NATO-Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius vom 10. bis 11. Juli angesehen. Vilnius liegt nur vierzig Kilometer von der Grenze nach Weißrussland entfernt. Um die Provokation noch weiter auf die Spitze zu treiben, wird ein Kontingent der Bundeswehr nach Vilnius abgeordnet, um die erlauchte Militaristenrunde gegen Raketenangriffe von Russen oder Weißrussen zu schützen <12>.

Die NATO ist auch schon lange kein Nordatlantisches Bündnis mehr. Vielmehr werden hier aktuell alle Vasallen der westlichen Wertegemeinschaft zusammengefasst. So sehen wir neben den 31 NATO-Mitgliedsländern auch die Regierungschefs von Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland mit am Tisch. Japanische Einheiten hatten bereits am kürzlich durchgeführten NATO-Manöver Air Defender 23 teilgenommen.

Nach Einschätzung von Experten wird der Ukraine in Vilnius weiterhin keine Mitgliedschaft in der NATO angeboten. Das würde der Ukraine auch wenig nützen. Denn um den gemeinsamen Verteidigungsfall unter Paragraph 5 der NATO-Charta durchzusetzen, müssten alle NATO-Mitglieder einwilligen. Doch im Falle der Türkei und Ungarns ist diese bedingungslose Mitarbeit eher unwahrscheinlich. Deswegen wird die NATO der Ukraine eine Unterstützung anbieten, die dann von gewissen besonders eifrigen Mitgliedern wie Polen und den baltischen Staaten ausgeführt wird. Denkbar – oder schon konkret in Vorbereitung – ist dann, dass NATO-Einheiten ganz offiziell in die Ukraine einmarschieren <13>. Und nun verstehen wir auch, warum ausgerechnet in Weißrussland neue Militärbasen für die Wagner-Truppen eingerichtet werden. Denn wenn jetzt auch die West-Ukraine in das Kriegsgeschehen einbezogen wird, dann ist auch deren nördlicher Nachbar Weißrussland unmittelbar bedroht <14>.

Über diese Entwicklungen müssen wir aufklären, ohne alle Illusionen. Ganz unaufgeregt und sachlich. Aber wir müssen endlich damit anfangen. Über alle politischen Lager hinweg. Solange es noch geht.

Quellen

<1> https://asiatimes.com/2023/06/clues-to-the-depth-of-the-revolt-in-russias-army/

<2> https://www.scmp.com/news/world/russia-central-asia/article/3225836/where-are-russias-top-generals-rumours-swirl-after-wagner-mutiny?module=hard_link&pgtype=article

<3> https://asiatimes.com/2023/06/careful-what-you-wish-for-in-post-mutiny-russia/

<4> https://cne.news/article/1595-attacked-philosopher-dugin-saw-putin-as-threat-to-christian-russia

<5> https://www.geopolitika.ru/en/article/russias-road-victory

<6> siehe <5>

<7> Ausführlich dargelegt: Hermann Ploppa: Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland. Marburg 2019

<8> https://usacontrol.wordpress.com/2022/08/20/strack-zimmermann-die-lauteste-kriegstrommel-in-berlin/

<9> https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280

<10> https://archive.is/tsBJ2

<11> https://www.c-span.org/video/?c5075743/user-clip-senators-graham-blumenthal-news-conference-russian-nuclear-threats

<12> https://www.bmvg.de/de/presse/schutz-nato-gipfel-5628808

<13> https://asiatimes.com/2023/06/clues-to-the-depth-of-the-revolt-in-russias-army/

<14> https://www.youtube.com/watch?v=qJEsLXQ4cv0

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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