Warten auf Berlin – Emmanuel Todd über Frieden für die Ukraine und den Untergang des Westens

Emmanuel Todd; Bild: Oestani, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Der Westen befinde sich im Niedergang. Aufgrund der darausfolgenden Schwäche könne er in der Ukraine nicht gewinnen und keinen Krieg mit China provozieren. Diese Thesen vertritt der französische Historiker und Soziologe Emmanuel Todd in einem aktuellen Interview mit der «Berliner Zeitung».

Quelle: transition-news

«La Défaite de l’Occident» – «Der Niedergang des Westens» heißt das neue Buch des französischen Historikers und Soziologen Emmanuel Todd. Er beschreibt darin unter anderem, wie der Westen sich «eher selbst zerstört, als dass er von Russland angegriffen wird».

Der Westend Verlag hat für den Herbst eine deutsche Ausgabe angekündigt. Zuvor erläutert Todd einige seiner Grundüberlegungen in Interviews mit deutschen Medien, so auch in der Samstagsausgabe der Berliner Zeitung (BLZ).

Der Westen befinde sich in einem direkten Krieg mit Russland, stellt er klar, «in erster Linie einem Wirtschaftskrieg». Der schade Europa mehr als Russland und führe unter anderem dazu, dass Frankreich zugrunde gehe, was aber auch für Deutschland gelte.

Todd sieht Deutschland als einen der entscheidenden Akteure im Ukraine-Krieg. Er verweist auf die Annäherung zwischen der EU und Deutschland auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite in den frühen 2000er Jahren. Das habe sich unter anderem in der französisch-deutsch-russischen Ablehnung des Irak-Krieges 2003 gezeigt, was die USA aufgeschreckt habe.

«Sie befürchteten, dass sich eine der größten Industriemächte der Welt, Deutschland, mit einer der größten Energiemächte der Welt, Russland, zusammentun und Amerika gewissermaßen aus Europa verdrängen würde. Deutschland musste also aus der Sicht Washingtons von Russland getrennt werden.»

Das sei gelungen, indem Russland zum Einmarsch in die Ukraine provoziert worden sei. Am Ende sei mit der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines «das Sahnehäubchen» obendrauf gekommen. Für den Fragesteller von der BLZ klingt das alles nach «Putin-Propaganda», wie er mit seinen Nachfragen deutlich macht. Doch Todd bleibt in dem Interview souverän bei seiner kritischen Linie und stellt klar:

«Als Historiker schaue ich mir die Fakten an und ziehe meine Schlüsse daraus.»

Er benennt die Vorgeschichte des Krieges, einschließlich der NATO-Osterweiterung sowie der Einmischung der USA in die Ukraine, die zu dem Staatsstreich im Februar 2014 in Kiew geführt hat. Und er erinnert daran, dass Moskau angekündigt hatte, dass es eine in die NATO integrierte Ukraine nicht tolerieren könnte und eingreifen würde.

Todd antwortet auf die penetranten Nachfragen des Interviewers:

«Wenn ich sage, die Ukraine hat den Krieg schon verloren, dann spreche ich nur aus, was das Pentagon oder der französische Generalstab denken.»

Der Westen wisse, dass der Krieg in der Ukraine verloren sei, und sei trotzdem nicht bereit, Frieden zu schließen. Dieser werde aus seiner Sicht auch deshalb erschwert, weil Russland jegliches Vertrauen in die westliche Politik verloren habe. Deshalb zähle für Moskau nur ein militärischer Sieg, der die Sicherheit Russlands für die Zukunft garantiere, einschließlich einer nicht-feindlichen Regierung in Kiew.

Was für den Fragesteller von der BLZ «eine bedrohliche Situation für Europa» zu sein scheint, macht Todd kaum Sorgen:

«Jeder im Westen weiß, dass Russland weder den Willen noch die Mittel hat, in Europa einzumarschieren. Das Letzte, was die Russen wollen, ist, wieder Polen verwalten zu müssen.»

Während deshalb ein Friedensschluss in der Ukraine im Interesse der EU wäre, wäre er für die USA katastrophal, meint der Historiker. Ein russischer Sieg würde die vermeintlich «einzige Weltmacht» in den Augen der Welt schwächen und «höchstwahrscheinlich zum Zusammenbruch des gesamten amerikanischen Weltsystems führen».

Es gehe dabei vor allem um Deutschland, «das einzige Land in Europa, das für die Amerikaner wirklich von Bedeutung ist». Es sei nach dem Zweiten Weltkrieg neben Japan zur «Säule des amerikanischen Herrschaftssystems» geworden. Wenn Deutschland sich von den USA löse und für Frieden in der Ukraine einsetze, entscheide es, ob der anscheinend endlose Krieg in der Ukraine weitergehen wird. Es müsse seiner Verantwortung als Führungsmacht in der EU gerecht werden:

«Wir alle in Europa warten darauf, dass Berlin den Krieg beendet.»

Todd kritisiert, dass der russische Präsident Wladimir Putin im Westen als Monster dämonisiert und dabei die wirtschaftliche Erholung Russlands übersehen worden sei. Aber ein stabiles Russland sei nicht für den Niedergang des Westens verantwortlich, sondern «ein innerer Zerfall mit Amerika im Zentrum».

Das zeige sich an verschiedenen Entwicklungen und auf mehreren Ebenen. Der Historiker verweist auf Faktoren wie die Kindersterblichkeit, den realwirtschaftlichen Rückgang und Rückschritte im Bildungsbereich. Russland bilde inzwischen mehr Ingenieure aus als die USA, die auf den Zuzug ausländischer Absolventen angewiesen seien.

Eine Ursache für die Entwicklung hin zum neoliberalen Finanzkapitalismus sieht Todd in einem im Westen verbreiteten Nihilismus:

«Ab einem gewissen Punkt ist es völlig irrational, dass Menschen Unmengen von Geld anhäufen wollen, nur um des Geldes willen. Vor allem aber hat der Neoliberalismus in der Praxis Wirtschaft und Gesellschaft zerstört.»

Außenpolitisch zeige sich das darin, dass der Krieg gegenüber dem Frieden bevorzugt werde. Der Historiker geht nicht davon aus, dass die USA nach dem verlorenen Krieg in der Ukraine einen bewaffneten Konflikt mit China riskieren werden. Zugleich sieht er China nicht als neue Weltmacht, was er mit dessen demografischen Problemen begründet. Diese könne das Land nicht wie andere Länder über Migration lösen. Todds Schlussfolgerung:

«Die Zukunft wird also eine Welt mit verschiedenen Polen sein, die sich keinen Krieg mehr leisten können.»

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Quelle:

Berliner Zeitung: Emmanuel Todd: «Deutschland entscheidet, ob in der Ukraine Frieden einkehrt» (hinter Bezahlschranke) – 21. Juli 2024

Transition News: «Westen ist auf bizarrem aggressiven Kurs» – Emmanuel Todd über den westlichen «Zombie-Zustand» – 13. Januar 2024

Transition News: Ukraine-Krieg: «Westen braucht Krieg als Vorwand, um Misswirtschaft zu vertuschen» – 19. März 2024

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