Wie «Long Covid» geschaffen wurde und was wir noch nicht wissen

Martina Frei (infosperber)

Betroffene nahmen das Heft selbst in die Hand. Über das Risiko von «Long Covid» berichten Medien ohne einzuordnen.

Das Risiko von gesundheitlichen Folgen nach Covid-19 ist noch wenig erforscht. Wer schärfere Massnahmen verlangt oder auch gesunden Teenagern eine Impfung empfiehlt, führt zuweilen das Risiko von «Long Covid» ins Feld: «Wenn die Menschen klar verstehen würden, […] dass sie zum Teil ihre Gesundheit verlieren – zumindest für lange Zeit – dann wäre die Impfbereitschaft höher», argumentierte beispielsweise der deutsche Politiker Karl Lauterbach in der Sendung «ARD Extra».

Wahrscheinlich handelt es sich bei «Long Covid» um die erste Erkrankung, die nicht von Ärzten definiert wurde, sondern von Betroffenen, die sich über Twitter und andere Social Media gefunden haben. Zu diesem Befund kamen jedenfalls die italienische Archäologin Elisa Perego und die britische Geografie-Professorin Felicity Callard in einem Fachartikel. Die beiden Wissenschaftlerinnen sind selbst von «Long Covid» betroffenen und zeichnen in ihrem Artikel nach, «wie und warum Patienten Long Covid schufen». Hier die Chronologie:

Am Anfang, im Februar 2020, stand die Aussage der WHO, dass eine milde Covid-19-Erkrankung zwei Wochen dauere. Doch das passte nicht zu dem, was manche Betroffene erlebten.

Das Heft selbst in die Hand nehmen

Im März 2020 begannen sich die ersten Betroffenen, die tatsächlich oder vermutet an längerfristigen Folgen von Covid-19 litten, in den Social Media darüber auszutauschen. «Wir müssen darüber reden, wie Corona-Genesungen aussehen. Sie sind viel komplizierter, als die meisten Menschen denken», lautete die Überschrift eines Artikels in der «New York Times» im April 2020.

Verfasst hatte den Artikel eine junge Frau, die sich in ihrer Covid-19-Erkrankung ungenügend unterstützt fühlte und daraufhin eine Selbsthilfegruppe mitbegründete. Die Vision: Die Pandemie als Gelegenheit ergreifen, um einen Paradigmenwechsel in der Medizin herbeizuführen, damit jene, die «historisch marginalisiert» worden seien, nun das Heft selbst in die Hand nehmen würden. Tatsächlich kann der Weg zurück zur vollen Gesundheit für etliche Betroffene zermürbend sein.

Körperliche und emotionale Achterbahnfahrt

Anfang Mai 2020 wurde die Fachwelt hellhörig, als der britische Medizinprofessor Paul Garner von der körperlichen und emotionalen «Achterbahnfahrt» berichtete, die er selbst im Gefolge von Covid-19 erlebte. «Das Ziel dieses Beitrags ist», schrieb Garner, «diese Botschaft zu verbreiten: Bei manchen Menschen hält die Krankheit einige Wochen an.»

Sein Blogbeitrag im «British Medical Journal» befeuerte die Publikumspresse – ein Artikel über Garner in «The Guardian» beispielsweise wurde in nur drei Monaten über eine Million Mal angeklickt.

Etwa drei Wochen später folgte in «The Atlantic» der Artikel «Covid-19 kann mehrere Monate anhalten» – innert Kürze ebenfalls mit über einer Million Klicks.

Erst eine von zwanzig, dann eine von zehn

Noch immer gab es kaum belastbare Zahlen, wie häufig das Problem auftrat. Die Betroffenen hätten alle verfügbaren Daten «strategisch genützt», schreiben Callard und Perego im eingangs erwähnten Fachartikel. «The Guardian» berichtete mit Bezug auf eine Umfrage per «Covid-19 Symptom Study App», etwa einer von 20 Patienten sei betroffen. Auf Twitter machte nun #Covid1in20 die Runde.

Zu dieser Zeit hielt es die WHO noch für kaum belegt, dass es Menschen gebe, die länger an Covid-19 leiden.

Am 20. Mai 2020 twitterte die italienische Archäologin Elisa Perego den Begriff #LongCovid, der sich innert weniger Wochen verbreitete.

Keine drei Wochen später berichtete die «Covid-19 Symptom Study App» von «einer von zehn Personen», die nach drei Wochen noch Symptome spüren könne, und manche für Monate. «Seltsamerweise scheinen Menschen mit leichter Erkrankung eher eine Vielzahl von seltsamen Symptomen zu haben, die über einen längeren Zeitraum kommen und gehen», informierten die Betreiber der App und forderten alle auf, ihre Beschwerden ebenfalls dort einzugeben.

Krankheitsdauer bei Covid-19
Die Grafik zeigt den täglichen Rückgang der Symptome nach der Corona-Erkrankung gemäss der «Covid-19 Symptom Study App». Auszug aus der Mitteilung vom 6.Juni 2020. © ZOE Covid Study

Wie repräsentativ und aussagekräftig diese Daten waren, wurde indes nicht mitgeteilt. Auch der Vergleich mit anderen, bekannten Erkältungskrankheiten fehlte. Auf Twitter machte nun #Covid1in10 die Runde.

Langzeitfolgen kommen auch bei anderen Erkrankungen vor

Dass es nach einer Infektion bei einem Teil der Betroffenen noch zu anhaltender Müdigkeit kommt, wie dies bei «Long Covid» beschrieben wird, ist auch von anderen Viren bekannt. Nach dem «Pfeifferschen Drüsenfieber» beispielsweise berichten fünf bis zehn Prozent der Genesenen noch sechs Monate später von «relevanter Müdigkeit». Bei Leistungssportlern könne es danach bis zu zwölf Monate dauern, bis sie ihr früheres Leistungsniveau wieder erreicht hätten, heisst es in einem Fachartikel. Typischerweise haben die Patienten während der akuten Infektion Fieber, Halsentzündung und Lymphknotenschwellungen. Es kann selten aber auch zu Leber-, Lungen-, Herz-, Nieren- oder Hirnentzündung kommen. Auch «wiederkehrendes Fieber über mehrere Wochen» ist möglich. Das Pfeiffersche Drüsenfieber wird verursacht durch ein Virus, mit dem sich im Lauf ihres Lebens sich fast alle Menschen infizieren, die allermeisten vor dem 19.Lebensjahr.

Chatgruppen als Beweis

Am 19. Juni 2020 anerkannte eine Epidemiologin der WHO, dass einige Personen, die nur mild an Covid-19 erkrankt waren, anhaltende Beschwerden hatten. Rund drei Wochen später sprach der prominenteste US-Pandemieberater Anthony Fauci von einer «beträchtlichen Anzahl von Individuen mit einem post-viralen Syndrom».

Auch Fauci führte dafür keinen wissenschaftlichen Beleg an. Callard und Perego schrieben dazu: «Als Beweis nannte Fauci ‹Chat-Gruppen, die man einfach anklickt und in denen man genesene Personen sieht, die aber nicht wieder zur Normalität zurückkehren›.»

Ende Juni 2020 übernahmen mehr und mehr Zeitungen den Begriff «Long Covid», Mitte Juli erschienen erste medizinische Fachartikel, über «sogenannte ‹Long Covid›-Fälle» – damals sei der Begriff noch in Anführungszeichen gesetzt worden, später dann nicht mehr, bemerken Perego und Callard.

Gegen Ende Juli 2020 hätten auch Wissenschaftler auf Twitter den Begriff «Long Covid» verwendet, und ab Mitte August 2020 sei Long Covid als Forschungsthema erkennbar geworden. (In der Schweiz berief der Nationalfonds jüngst die Gründerin des Vereins «Long Covid Schweiz», Chantal Britt, in ein Gremium, das beurteilen soll, welche Forschungsvorhaben finanziell gefördert werden sollen und welche nicht.)

Ende Dezember 2020 postete die oben erwähnte Selbsthilfegruppe die Resultate ihrer Online-Umfrage: 205 verschiedene «Long Covid»-Symptome hatten die rund 3’700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer geschildert. Obwohl der Fragebogen in neun Sprachen angeboten wurde – darunter Spanisch, Arabisch und Russisch –, stammten 92 Prozent der Antworten nur aus der englischsprachigen Version.

«Zu den Einschränkungen der Studie gehört, dass sie […] sich auf die Erinnerung der Betroffenen verlässt, die trügen kann. […] Die überwiegende Teilnahme von Personen aus englisch-sprachigen Ländern schliesst nicht aus, dass kulturelle Eigenarten eine Rolle […] gespielt haben», bemerkte das «Deutsche Ärzteblatt», als es darüber berichtete.





Welchen Einfluss haben die Medien?

Der Zürcher Epidemiologie-Professor Milo Puhan griff hier zu Lande das Thema «Long Covid» als erster Wissenschaftler prominent auf. Seit November 2020 präsentiert er in den Medien immer wieder (Zwischen-)Ergebnisse einer Kohortenstudie, bei der die Teilnehmer regelmässig zu anhaltenden Symptomen befragt werden. Infosperber berichtete Ende März darüber: «Long Covid: Unheilige Allianz zwischen Forschern und Medien.»

Bevor Puhan an die Medien ging, gaben 21 Prozent der Befragten in seiner Studie an, dass sie sich von der Sars-CoV-2 Infektion noch nicht vollständig erholt hätten. Nach den ersten Medienberichten über seine Studie stieg diese Zahl auf 28 Prozent. Erschöpfung, Ängste, Stress – diverse Symptome nahmen zu, nachdem die Medien breit über seine Zwischenergebnisse berichtet hatten. Das kann Zufall sein – oder einen ursächlichen Zusammenhang aufzeigen.

Dass die «Long Covid»-Betroffenen leiden, steht ausser Frage. Doch welche der andauernden Symptome sind durch Sars-CoV-2 verursacht, welche durch andere (Grund-)Erkrankungen und welche durch die Umstände? Und von welchem Zeitrahmen wird gesprochen: von drei Wochen, sechs Wochen oder von Monaten? In der Diskussion um die Massnahmen, ums Impfen und um die beste Behandlung von «Long Covid» kann das einen Unterschied machen.

Nicht in den Kontext gestellt

Ein Beispiel liefert eine der bekanntesten Studien zu «Long Covid». Sie erschien im Januar 2021 im Fachblatt «The Lancet».

In der Studie beschrieben Mediziner des Jin Yin-Tan-Spitals in Wuhan, wie es Patienten der ersten Welle sechs Monate später ging. Die Zahlen erschreckten: «Long COVID: 3 von 4 Patienten haben nach 6 Monaten noch Beschwerden», titelte beispielsweise das «Deutsche Ärzteblatt», als es über diese Studie berichtete. 260-mal wurde diese Studie bereits in wissenschaftlichen Fachartikeln zitiert.

Es gibt aber noch eine weitere Studie aus diesem Spital. Sie berichtete davon, wie es den Patienten erging, die zu Beginn der Pandemie dort behandelt wurden: Von denjenigen, die Sauerstoff benötigten, überlebte nur einer von fünf. Von denjenigen, die maschinell beatmet wurden, überlebte sogar nur einer von 32 1. Es ist unschwer vorstellbar, dass die überlebenden Spitalpatienten das, was sie erlebt und durchlitten haben, nicht einfach wegstecken. In den meisten Berichten über «Long Covid» sucht man solche Einordnungen aber vergeblich.

Bedrückende Berichte von Schicksalen fördern die Sensibilisierung, sind jedoch zur Einordnung wenig hilfreich. Nur gut gemachte, wissenschaftliche Studien können aufzeigen, ob Covid-19 tatsächlich häufiger und gravierender zu Langzeitschäden führt als andere (Infektions-)Krankheiten.

Vergleich mit Sars-CoV-2-negativen Kindern

Eine britische Studie verglich die Symptome bei positiv und negativ getesteten Kindern. Teilnehmen konnten die Eltern bzw. die Jugendlichen via App. Nach 28 Tagen berichteten noch fünf Prozent der älteren (12 bis 17 Jahre) und drei Prozent der jüngeren Kinder von Müdigkeit, Kopfweh oder Geruchsverlust. Bei zwei von 100 Kindern hielten die Beschwerden auch nach 56 Tagen noch an.

Die «Symptomlast» bei den «Long Covid»-Kindern war im Vergleich zu Kindern mit anderen Infektionen aber nicht grösser, stellten die Autoren fest. Bei den älteren Kindern war sie nach 28 Tagen oder länger sogar kleiner, verglichen mit Kindern, die negativ getestet wurden.

Auch aus der Schweiz gibt es mittlerweile erste Zahlen zu «Long Covid» bei Kindern. Mitte Juli erschien dazu eine Studie des Zürcher Epidemiologie-Professors Milo Puhan. Dort sollten die Eltern über mehrere Monate rückblickend die Symptome bei ihren Sprösslingen angeben.

    • Von 104 Kindern mit erwiesener Sars-CoV-2-Infektion hatten vier Prozent nach einem Vierteljahr oder länger noch mindestens ein Symptom.
    • Von 1246 Kindern ohne erkennbare Infektion waren es zwei Prozent.

Am Ende ihrer Publikation listen Puhan und seine Kolleginnen die Schwachpunkte ihrer Kinder-Studie auf: Geringe Anzahl der positiv-getesteten Kinder, möglicherweise falsche Laborresultate, nicht-ausgefüllte Studienfragebögen, eventuell verzerrte Erinnerung … – sieben Faktoren führen sie an, die das Ergebnis beeinflusst haben könnten.

Das grösste Problem kommt am Schluss: Die Gruppe der Kinder, die in die Analyse einbezogen wurden, unterschied sich von denjenigen, die nicht einbezogen wurden, «was möglicherweise die Repräsentativität der Stichprobe beeinträchtigte», schreiben Puhan und seine Kolleginnen. Also lassen sich daraus auch keine Schlüsse über die Häufigkeit von «Long Covid» bei Kindern im Allgemeinen ziehen.

Alles deute darauf hin, dass die Datenlage zu Long Covid bei Kindern «noch sehr unsicher» sei, sagte Dr. Martin Terhardt, ein Mitglied der Ständigen Impfkommission in Deutschland am 12. August dem Fernsehsender «rbb». «Viele Kinder auch ohne Covid-Erkrankung haben Long Covid-Symptome, weil sie Long Lockdown-Symptome haben.»

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1 Zum Vergleich: In deutschen Universitätskliniken überlebten deutlich mehr Kranke, nämlich 13 von 14 nicht beatmeten und 12 von 32 maschinell beatmeten Patienten.

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