Wertvolles Erbe: die deutsch-russische Allianz in Baden-Württemberg

Von Toni Kästner (bueso)

Im jetzigen Moment der Geschichte ist es wichtig, sich auf die Blütezeiten unserer eigenen Kultur und die der anderen Nationen zu besinnen, um die Dinge zu finden, für die es sich gemeinsam zu kämpfen lohnt. Immer wieder in der Geschichte haben Imperien ihre Macht bewahrt, indem sie Nationen und Völker gegeneinander ausgespielt haben. Dies trifft auch auf die gegenwärtige geopolitische Propaganda und Kriegstrommelei gegen Russland zu. Kennt man aber etwas mehr von der Geschichte, so versteht man, daß die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland und die gemeinsamen Bemühungen, das Gemeinwohl zu befördern, weit zurückreichen, was ein wichtiger gemeinsamer Bezugspunkt ist, um die jetzige zivilisatorische Krise zu überwinden. Ein gutes Fallbeispiel dafür ist die Geschichte Baden-Württembergs im 18. und 19. Jahrhundert.

Rußland und Deutschland

Zur Zeit des großen deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jh. war Rußland noch ein sehr unterentwickeltes Land mit teils barbarischen Stämmen und fast keinerlei Infrastruktur. Doch bereits damals sah Leibniz in Rußland ein riesiges Potential und einen starken Partner für die Zukunft Europas, denn er betrachtete Rußland in seiner einzigartigen Position als Tor zu Asien.

Leibniz war der Auffassung, daß es kein Zufall der Geschichte sein könne, daß die damals am weitesten entwickelten Landstriche Europa und China waren. Würden sich beide die Hände reichen, könnte alles dazwischen liegende entwickelt werden. Dabei sah er vor allen Ländern Rußland als größten Nutznießer einer solchen Zusammenarbeit, denn es befindet sich in der Mitte dieser beiden Regionen und zwar zu einem Teil in Europa und zum anderen Teil in Asien. So verwundert es nicht, daß Leibniz mit Zar Peter dem Großen eng zusammenarbeitete und damit den Grundstein für die weitere Berührungspunkte und die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland legte. Beispielsweise studierten viele Russen in der von Leibniz gegründeten Bergakademie in Freiberg und auch der hervorragende Polar- und Sibirienforscher Samoilowitsch wurde dort ausgebildet. Dazu gibt es noch viel mehr zu sagen, was aber den Rahmen dieses Artikels sprengt.

Eine wichtige Rolle spielte im weiteren Verlauf der Geschichte, daß die Frau von Zar Paul I., dem Enkel von Peter dem Großen, eine Prinzessin aus deutschem Lande war, und zwar aus Württemberg. Sophia Dorothea Augusta Luisa von Württemberg sorgte dafür, daß am Ende des 18. Jahrhunderts sehr viele Ideen der deutschen Klassik und vor allem auch die von Friedrich Schiller Einzug in Rußland hielten, was dazu beitrug, daß Rußland eine kulturelle Blütezeit erlebte. Sie und ihr Mann holten sich dafür Leute aus Württemberg, wie zum Beispiel Maximilian von Klinger, einen Jugendfreund Schillers, der dann als Vorleser am Hof des Großfürsten in Gatschina wirkte. Dort sorgte Klinger 1787 auch dafür, daß Schillers Don Carlos nicht nur im privaten Kämmerlein gelesen wurde, sondern auch den Weg ins dortige Theater fand. Durch solche und ähnliche Initiativen kam es dazu, daß sich das Niveau der deutschen Literatur schließlich in Gatschina auf einem wesentlich höheren Niveau befand als am eigentlichen Zarenhof in St. Petersburg. 1801 wurde Klinger dann sogar Major in der russischen Armee, bildete dort die Kadettenkorps gegen Napoleon aus und arbeitet im Ministerium für Volksbildung.

Ein weiterer wichtiger Einfluß auf den damaligen Großfürsten und noch mehr auf seine Tochter Katharina Pawlowna , die spätere Königin von Württemberg, kam von Nikolai M. Karamsin, der einer ihrer engsten Berater wurde. Er machte schon während der französischen Revolution in Paris die Bekanntschaft von Schillers Schulfreund Wilhelm von Wolzogen. Beide Männer setzten sich dort intensiv mit den Werken Friedrich Schillers auseinander, was sie entscheidend fürs ganzes Leben prägte.

Karamsin war aber nicht nur ein treuer Freund und Berater Katharinas, sondern auch einer der wichtigsten Gelehrten Rußlands. Er verfaßte eine 12bändige Geschichte Rußlands, schrieb Gedichte, ein Tagebuch, Reiseberichte und Erzählungen. Dazu wurde er einer der wichtigsten Einflüsse für Alexander Puschkins Leben und Wirken.

Dies lag nicht zuletzt daran, daß Karamsin durch seine zahlreichen Arbeiten die russische Sprache als Hochsprache etablierte und somit der russischen Bevölkerung die Möglichkeit gab, hohe Ideen zu kommunizieren – denn wie Wilhelm von Humboldt bereits verstand, lässt sich nur das denken, was man auch ausdrücken kann. Dabei ist Karamsin aber nur einer der vielen russischen Gelehrten, die damals, von der deutschen Klassik inspiriert, Rußlands Kultur und Sprache weiterentwickelten. Was ihn jedoch so wichtig für Katharina werden ließ, war seine republikanische Gesinnung, die Hand in Hand mit seinem, von der deutschen Klassik geprägten Menschenbild ging. So schreibt er in einem Brief vom 29. Juli 1789 aus Frankfurt am Main:

„Drei Schritte vom Wirtshaus ist eine Lesebibliothek, aus welcher ich gestern Schillers Fiesco zu lesen genommen habe. Dies Trauerspiel hat mir viel Vergnügen gemacht. Doch mehr als alles hat mich der Monolog des Fiesco bewegt (3 Aufzug 2 Szene) wenn er in der stillen Stunde des Morgens überlegt, ob es besser sei, ein Bürger zu bleiben und für seine dem Vaterlande geleisteten Dienste nichts weiter zu verlangen, als die Liebe seiner Mitbürger; oder die Umstände zu benutzen und die Oberherrschaft an sich zu reißen. Auf die Knie hätte ich vor ihm niederfallen, und ihm zurufen mögen: wähle das erste! Welch eine Stärke der Empfindung! Welches Leben in der Sprache! Überhaupt hat der Fiesco ungleich stärker auf mich gewirkt, als Don Carlos, ob ich gleich das letztere Trauerspiel aufführen sah und die Kritik ihm den Vorzug vor dem ersteren gibt.“

Menschen wie Karamsin und die Ideen Schillers zeigten der jungen Katharina, worauf es im Leben ankam. Es läßt sich leicht erkennen, daß es diese Ideen und Konzepte waren, die Katharina bereits in jungen Jahren dazu veranlaßten, sich in der Weltpolitik zu engagieren – und das gerade in einer Zeit, in der eine zweite Amerikanische Revolution in Europa durch die französische Revolution und die Machtergreifung Napoleons – die Geissel der Menschheit – vereitelt wurde. Die drohende vollständige Eroberung ganz Europas und Rußlands durch Napoleon konnte mit einer deutsch-russischen Zusammenarbeit vereitelt werden – repräsentiert durch die preußischen Reformer, wie Freiherr vom Stein, der später ein enger Freund Katharinas wurde und ihrem Bruder Zar Alexander I., der sehr von ihr beeinflußt war.

Man könnte jetzt an dieser Stelle wiederum ein ganzes Buch über diesen Kampf schreiben, doch hier sollen ein paar Eckpunkte genügen, um dann das Wirken Katharinas in der Nachkriegszeit darzustellen.

Befreiungskrieg gegen Napoleon

Mit dem Ende des siebenjährigen Krieges und dem Vertrag von Paris 1763 etablierte sich das Britische Empire in der Welt, nicht zuletzt dadurch, daß durch diesen Frieden viele der französischen Kolonien an Britannien übergingen und es das Kolonialmonopol besaß, durch das es beinahe unantastbar wurde. Aber trotz dieses Monopols und der Größe sagten sich 1776 dreizehn kleine Staaten der amerikanischen Kolonie von diesem riesigen Imperium los und zeigten damit, daß alles möglich ist, wenn man nur will.

Durch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung wurde die erste republikanische, auf dem Gemeinwohl basierende Gesellschaftsordnung der Welt geschaffen, die anschließend in einem Krieg verteidigt und danach 1789 durch die Verfassung der Vereinigten Staaten erneut bekräftigt wurde. Im selben Jahr sollte dies durch Mitstreiter der Amerikanischen Revolution auch in Frankreich geschehen, was dann aber durch britische Geheimdienste vereitelt wurde, die die Jakobiner aufbauten und dazu nutzten, die Revolution in einem Blutbad zu ersticken und Napoleon zu installieren.

Napoleon kam seiner Aufgabe als Agent der Oligarchie nach und stürzte Europa in den Krieg. Seit 1793 führte er zunächst Krieg mit England und zerstörte anschließend das aufstrebende Preußen völlig, bis er sich dann schließlich 1812 gegen Rußland wendete. Napoleon schien so mächtig zu sein, daß sich ihm niemand entgegenstellen konnte. Er besetzte beinahe alle Landstriche Europas und beutete diese brutal aus.

Im besiegten und zerstörten Preußen wollte jedoch eine Gruppe von Leuten nicht kleinbeigeben, sondern für ihre Freiheit und eine republikanische Verfassung, bis hin zu einem geeinten Deutschland, kämpfen. Dieser Kampf führte direkt zu der Periode, die heute als Zeit der Befreiungskriege von 1813-1815 bekannt ist. Zu dieser Widerstandsgruppe in Preußen gehörte der preußische Minister Freiherr vom Stein, Schillers guter Freund und Kultusminister Wilhelm von Humboldt, die Brüder von Wolzogen – Jugendfreunde Schillers -, der General Gerhardt Scharnhorst, der von Moses Mendelssohns Freund und großem Bewunderer Graf Schaumburg-Lippe ausgebildet worden war, und andere mehr. Diese Gruppe organisierte sich und schaffte es, ein Bündnis mit Rußland gegen Napoleon zu erwirken, das schlagkräftig genug war, um Napoleon zurückzudrängen und Europa befreien zu können.

Katharina setzte in dieser Zeit in Rußland alles daran, diese Reformer zu unterstützen und ihren Bruder Alexander I davon zu überzeugen, daß der einzige Weg für Rußlands Zukunft der Kampf gegen Napoleon sei. Als es dann zum offenen Kampf gegen Napoleon kam, blieb diese junge Prinzessin mit ihren etwas über zwanzig Jahren nicht zu Hause bei ihrer Mutter, sondern begab sich direkt in das Kriegsgetümmel, um ihrem Bruder beizustehen. Dabei baute sie eigene Netzwerke und Geheimdienstoperationen gegen Napoleon und Fürst Metternich auf und natürlich auch Gegenoperationen zu deren Angriffen auf ihre Person. Bei allem, was in diesem Krieg politisch geschah, kann man Katharina im Hintergrund sehen, die beständig darauf bedacht war, ihren Bruder zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß er auf dem rechten Weg blieb.

Nach dem Kriegsende und den Manipulationen der europäischen Oligarchie stellte sich dann die Frage, wie alles weitergehen sollte. Alexander wich unter diesen Einflüssen von seiner Mission, Europa republikanische Verfassungen zu geben, ab. Katharinas neue Strategie für die Zukunft führte sie nach Württemberg. Nachdem ihr erster Mann frühzeitig verstorben war, heiratete sie Wilhelm I. von Württemberg.

Katharina Pawlowna und Württemberg

Sie und ihr Mann galten als zukunftsweisend und reformfreudig, da sie sich in der Tradition derer sahen, die den Krieg nicht aus reinem Machtkalkül, sondern aus Überzeugung für eine gute Sache gekämpft hatten. Katharina kam aus dem Luxus Rußlands und den Wirren des Krieges in ein Land, das völlig verarmt war und am Boden lag. Nachdem 1812 ihr erster Mann gestorben war und sie gegen Napoleon im Krieg mobilisiert hatte, heiratete sie im Januar 1816 ihren zweiten Mann Wilhelm I, der im Oktober 1816 zum König von Württemberg ernannt wurde. Wenige Wochen nach Einzug der Königin feierte man ihren 28. Geburtstag, zu dem ihr das Landhaus Bellevue mit Park als Geburtstagsgeschenk überreicht wurde. Kurz zuvor schrieb die junge Frau in einem Brief, was sie von Württemberg und seiner Bevölkerung dachte:

Katharina an Herrn von Buschmann 15. Juni 1816:
„Württemberg bietet dem denkenden, dem fühlenden Menschen viel Stolz, Gott scheint es reichlich begabt zu haben, mögen nur seine Erschaffenen nicht die väterliche Güte erkennen, ein frommer Sinn herrscht doch im Ganzen und durch den muß man viel wirken können.“

Ihre Schwester Maria hatte bereits 1804 den Fürsten von Sachsen-Weimar-Eisenach geheiratet und hatte nun nach dem Krieg in Weimar ebenfalls mit der Nachkriegsnot zu kämpfen. Auch sie sah ein großes Potential in ihrem Volk und stieß daher zur Lösung dieser Not eine Verfassungsdebatte im republikanischen Sinne an. Damit handelte sie ganz im Geiste Schillers, der für sie zu ihrer Ankunft in Weimar die „Huldigung der Künste“ verfaßt hatte. Dort heißt es:

„Genius. Es ist gefunden schon, das zarte Band,
Nicht Alles ist ihr fremd in diesem Land;
Mich wird sie wohl und mein Gefolge kennen,
Wenn wir uns ihr verkündigen und nennen.
Ich bin der schaffende Genius des Schönen,
Und die mir folget, ist der Künste Schar.
Wir sind’s, die alle Menschenwerke krönen,
Wir schmücken den Palast und den Altar.
Längst wohnten wir bei deinem Kaiserstamme,
Und sie, die Herrliche, die dich gebar,
Sie nährt uns selbst die heil’ge Opferflamme
Mit reiner Hand auf ihrem Hausaltar.
Wir sind dir nachgefolgt, von ihr gesendet;
Denn alles Glück wird nur durch uns vollendet.“

Im ersten Teil ihres Lebens handelte Maria dann auch nach diesem Bild, das Schiller ihr mitgab. Dieses edle Bild der Menschheit und Kultur ließ sie in die politische Debatte um die Verfassung mit einfließen, was dann 1813 zur Gründung des „patriotischen Instituts der Frauenvereine“ führte. Das war ein republikanischer Wohlfahrtsverein, der der einfachen Bevölkerung helfen sollte. Maria konnte auf Grund ihrer seit 1804 erworbenen Kenntnisse einen Plan schmieden, um die Lage in Sachsen-Weimar-Eisenach zu verbessern, auch wenn sie erst 1815 endgültig aus dem Kriegsexil nach Weimar zurückkehren konnte.

Maria war eine große Inspiration für Katharina, aber bei ihr sah die Situation ganz anders aus. Sie kam ohne Vorbereitung in das völlig verarmte Württemberg. Auf Grund ihrer Bildung, des Einflusses ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte sie zwar ein Verständnis davon, daß politische Stabilität nur erzeugt werden kann, wenn man die Lebensumstände der Bevölkerung verbessert, aber wie genau man dies in Württemberg erreichen sollte, war ihr noch nicht klar. So schuf sie zuerst ebenfalls eine Wohltätigkeitsinstitutionen, denn das Volk stand damals vor der völligen sozialen Katastrophe, und das Königreich war in Gefahr, nach dem gewonnenen Krieg zu zerfallen.

Hinzu kam, daß die Stände damals für die alte Verfassung gegen den König kämpften. Die neue Verfassung war zwar bei genauerer Betrachtung besser als die alte, aber um was ging es bei diesem Streit? Die Stände wollten ihre Verfassung lieber selbst wählen, als sich eine neue, bessere vom König aufoktroyieren zu lassen. Das zeigte ein allgemeines Problem der politischen Kultur, mit dem Katharine umgehen mußte. Auf Grundlage dieser Erkenntnis traf sie dann ihre Entscheidungen in der Folge mit den Menschen zusammen, anstatt über ihren Kopf hinweg.

Dabei hatte sie aber bei all ihren Vorhaben immer auch die großen politischen Fragen im Kopf. Zunächst lag dies daran, daß es Grund zu Annahme gab, ihr Bruder Zar Alexander I. werde sie eventuell zu seiner Nachfolgerin und somit zur russischen Zarin erklären. Außerdem arbeitete Freiherr vom Stein daran, sie und Wilhelm zum nächsten deutschen Kaiserpaar zu machen.

Seit 1812 hatte vom Stein intensiv über die künftige Gestaltung des Deutsche Reichs nachgedacht und dafür gearbeitet. Er und Wilhelm von Humboldt hatten immer wieder Vorschläge zu einer deutschen Verfassung geschrieben und Diskussionen zur Verbesserung ihrer Vorschläge geführt. Katharina und ihr Mann orientierten sich politisch an den Konzepten vom Steins. Andere wichtige Einflüsse auf der ethisch-politischen Ebene kamen von Müller und Pestalozzi mit der Idee der Volksbildung, also einer Bildung für alle, um den gesellschaftlichen Wohlstand zu erhöhen. Auch dies war im Grunde eine Idee, die ganz direkt aus der deutschen Klassik entsprang und von solchen Geistern wie Moses Mendelssohn und Lessing, so wie von Schiller und Humboldt geprägt war.

Bei der Beschäftigung mit diesen Konzepten ergaben sich für Katharina jedoch 1816 zunächst drei konkrete Aufgabenfelder:

– die soziale Notlage lösen
– die Verfassungsfrage klären
– Württembergs Stellung im Deutschen Reich klären

Doch dann entwickelte sich im Jahr 1816 eine katastrophale Wetterlage, die die Situation weiter verschlechterte. Der Wintereinbruch kam bereits im Oktober und es kam es zur großen Hungersnot von 1816/17. Das Getreide, die Kartoffeln und der Wein verdarben, wodurch die Lebensmittelpreise in den Himmel stiegen. Aufgrund der übergroßen Not nahm die Kriminalität zu – Leute mußten stehlen, um an Nahrung zu kommen. Die Lage wurde sogar so schlimm, daß es Fälle von Kannibalismus in der Bevölkerung gab.

„Im Winter 1816/17 erreichte die Krise ihren Tiefpunkt. Alles noch verfügbare Getreide wurde erfaßt, neue Höchstpreise wurden festgelegt, Bauern und Bäcker erhielten finanzielle Anreize, ihre Reserven zur Verfügung zu stellen. Die Stadtverwaltungen ließen öffentliche Suppenküchen einrichten, damit die Ärmsten der Armen nicht zugrunde gingen. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung (138.000 Menschen) konnten nicht mehr aus eigener Kraft überleben. Die Hungerkrise rief in der Bevölkerung die unterschiedlichsten Wirkungen hervor – von Selbstmorden, Wahnsinn oder Resignation bis zum konzentrierten Willen, selbst einen Ausweg zu finden.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 260)

Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, führte die Hungersnot zu einer massiven Landesflucht, bei der natürlich nicht die Armen auswanderten, sondern gerade diejenigen, die noch zur vermögenden Mittelschicht gehörten und es sich leisten konnten, zu gehen. Es flohen also die Leute, die das Land hätten wieder aufbauen können, und so verarmte das Land nur noch weiter. Es wanderten damals 17.200 Menschen in die USA oder Rußland ab, also ca. 1,2% der Bevölkerung. Damals (1817) hatte Württemberg 1,38 Millionen Einwohner in 134 Städten, aber nur fünf Städte besaßen mehr als 6.000 Einwohner: Stuttgart 26.306, Ulm 11.417 Einwohner, Reutlingen ca. 9.000, Heilbronn 6.830 und Tübingen 6.630.

Zum Vergleich: 1,2% der heutigen Bevölkerung Baden-Württembergs wären ca. 120.000 Einwohner, Stuttgart hat ca. 600.000 Einwohner, Ulm ca. 122.000. Bei einer ähnlichen Landflucht heute wäre es also so, als würde auf einmal die Stadt Ulm verschwinden.

So sah sich Katharina mit einer tief greifenden Wirtschaftskrise und der Auswanderungsproblematik konfrontiert, der sie sich nur mit ihrem eigenen Kapital entgegenstellen konnte, da die Staatskassen fast völlig leer waren und es so etwas wie eine Nationalbank Württembergs und produktive Kreditschöpfung noch nicht gab.

Vom Stein verstand damals vielleicht mehr als jeder andere, daß diese Krise ein wirtschaftlicher und politischer Konflikt gleichermaßen war, und daher beides nicht voneinander getrennt werden konnte, wenn man die Notlage lösen wollte. So war klar, daß das ganze Land an einem Strang ziehen mußte. Katharina und Wilhelm machten es sich daher zur Aufgabe Nummer eins, diese Kraft im Land zu erzeugen.

1816/17 beschrieb vom Stein dem Königspaar ganz genau, was nun die nächsten Schritte sein müßten, um die Krise zu überwinden:

– Einigung mit den Ständen auf eine verbindliche Verfassung und Einrichten parlamentarischer Institutionen, die für die Nachbarstaaten Vorbildfunktion haben;
– Sparkurs, Kampf gegen Korruption und Mißwirtschaft;
– Fehlentwicklungen entgegenwirken – Prävention zukünftiger Krisen durch Vorräte oder verbesserte Produktion und Infrastruktur;
– Auswanderung stoppen, durch wachsende Produktivität und Eigeninitiative, also Beförderung des Mittelstandes.

Zu diesem Zweck mußte man aufhören, nur unmittelbar auf die Probleme zu reagieren, und statt dessen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß sich die Bürger am Staat beteiligen konnten. Der Fleiß und Reichtum des Einzelnen, sollte als Maßstab für den Zustand der Gesellschaft anerkannt werden, und dazu mußte endlich verstanden werden, daß die Gesellschaft um so stabiler ist, je mehr die Menschen durch ihren Fleiß zu Wohlstand gelangen können.

In dieser Situation starb der alte König Friedrich I. von Württemberg und hinterließ seinem Sohn und dessen junger Frau Katharina das Land in einem vorher noch nie gekannten Zustand.

Ihre Bedeutung für Württemberg wird schon anhand ihrer persönlichen Anlagen klar. Alles interessierte sie – Politik, Wissenschaft, Kunst, Technik, Pferdezucht, Architektur, aber auch der ganz gewöhnliche Alltag der Menschen. Sie wollte alles ergründen und verstehen, und das zeichnet einen guten Staatsführer aus. Sie achtete aufmerksam darauf, wie es der Bevölkerung erging und in welcher Situation sich die Menschen befanden.

Daher gab Katharina zu allen Fragen auch eine eigene Einschätzung ab, wodurch sie bewies, daß sie souverän in ihren Entscheidungen war. Sie widmete sich persönlich der sozialen Wohlfahrt, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft ihres Landes, betrachtete diese aber nicht als einzelne politische Projekte, sondern immer als Projekte innerhalb einer neuen Landespolitik. In Weimar stand und fiel alles durch die persönlichen Investitionen der Fürstin Maria. In Württemberg wurden hingegen alle Projekte der Königin im Gesamtkonzept der Landespolitik verankert und waren darauf angelegt, sich sehr schnell selbst tragen zu können.

Ein gutes Beispiel ist der Herbst 1816, als das Land bereits fast an seinem Tiefpunkt angekommen war. Damals bereitete sie alles dafür vor, eine Wohltätigkeitsorganisation zu schaffen:

„Der Winter stand vor der Türe und mußte alles vollends verschlingen, was der Arme noch zur Stillung des Hungers hätte aufbringen mögen. Aber dem Winter folgte noch eine lange Zeit bis zur Wiederkehr der Ernte, und diese lange Zeit war von keinem Troste erhellt. Nur eine weite Öde der Verzweiflung dehnte sich vor dem bekümmerten Blick. Da saßen die Armen frierend, und haschten nach Kleie und Mehlstaub, um das elende Leben von einem Tage zum anderen hinüberzuschleppen. Da standen sie und kochten Wurzeln, Gras und Heu zu kraftlosen Suppen. Stroh und Sägespäne sah man mahlen, Pferde schlachten – die unnatürlichsten Nahrungsmittel als die willkommensten Labsale von wandelnden Gespenstern an sich gerissen. Die halbe Bevölkerung schlich bettelnd umher, die hohläugige, zerlumpte, sieche Armee des Hungers; die Kinder verließen die Eltern und schrieen nach Brot vor fremden Türen, aus welchen sie der gleiche Jammer angrinste. Viele trieb die Not zum Wahnsinn, viele zum Verbrechen, wovon sie den Begriff verloren hatten.“ (Zitiert in: Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 267)

Katharina versuchte, wo es nur ging, Mitarbeiter für die neue Landespolitik zu gewinnen, und so stellte sie sofort Kontakt zu denen her , die bereits mit ihrem Mann in lebhafter Diskussion darüber standen, was die beste Verfassung für das Land wäre. Katharina wollte, daß

„alle zum Helfen Bereite… aneinander gekettet und Einheit und Zusammenhang in das große Geschäft der Menschenliebe gebracht werden, wenn nicht die Kräfte sich zersplittern und die einzelnen Wohltaten wie Tropfen im Meere zerrinnen sollen.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 268)

Bei dieser Arbeit war ihr beständiger Leitspruch: „Arbeit verschaffen hilft mehr, als Almosen geben.“ Hilfe zur Selbsthilfe war ihre Devise. Daher schuf sie nicht, wie ihre Schwester Maria in Weimar, einen Frauenverein, sondern einen Wohlfahrtsverein für ganz Württemberg – als Institution für alle Bürger, die Hilfe brauchten. Ihre Berater dabei waren der Bankier Gottlob Heinrich Rapp, Geheimrat August von Hartmann (1) und der berühmte Verleger Johann Friedrich Freiherr von Cotta. Ihr war das wichtigste, daß alle Glieder der Organisation gemeinsam koordiniert arbeiteten, damit man t miteinander statt gegeneinander arbeitet, denn in diesem Fall könnte das System nicht wirksam werden und eher schädlich als gut sein. Katharina:

„Alle Armen, die Kraft zur Arbeit haben, müssen Gelegenheit und Auftrieb zur Arbeit haben. Alle Arbeitsunfähigen aber sollen nach ihren Umständen und Bedürfnissen versorgt werden.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 268)

Wie ernst es ihr mit der landesweiten Wohltätigkeitorganisation war, kann man auch daran sehen, daß sie die ersten Pläne dazu bereits im Wochenbett schrieb. Dort notierte sie: „Es sollte dort Lebensmittel, Kleidung, Heizmaterial und Ärzte geben.“ Der Kern der Einrichtungen bestand aus Werkstätten, Küchen, Unterkünften, Krankenstationen und Schulen für sozial Schwache. Am 6. Jan. 1817 erfolgte dann die offizielle Gründung der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins. „Auf Vorschlag Cottas, Lotters und Pistorius’ trat Katharina an die Spitze des wöchentlich tagenden Vorstands des Wohltätigkeitsvereins, damit dieser von Anfang an ,bei Staatsbeamten, Oberämtern und Ministerien mehr Achtung und Unterstützung’ genoß.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 269)

Später entstanden zusätzliche Beschäftigungsanstalten als Ergänzung des Wohltätigkeitsvereins. So gab es in Stuttgart Industriewarenlager, durch die arme und mittellose Menschen versorgt wurden und Geschenke wohltätiger Menschen verkauft wurden, deren Erlös dem Industriewarenlager zugute kam. Weiterhin gründete sie Essens- und Unterstützungsanstalten, um das Betteln von Kindern zu unterbinden, da dieses den Kindern unwürdig war und sie ihrer Kindheit beraubte. Im ganzen Land entstand ein Netzwerk von Wohltätigkeitsorganisationen, und in dieses Netzwerk wurden natürlich auch bereits bestehende private Organisationen mit einbezogen. Dabei galt für Katharina:

„daß durch solche Arbeitsanstalten so manchem Staatsbürger Mittel verschafft wurden, ohne Verletzung des Ehrgefühls sein Leben nicht nur zu fristen, sondern auch nützlich hinzubringen.“ (Zitiert nach: Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 271)

Im Mai 1818 folgte dann der Vorschlag von Innenminister Otto, eine Armenkommission als staatliche Behörde zu gründen, die „Obsorge für die gleichförmige Behandlung des Gemeinde-, Beschäftigungs- und Industrie-Wesens“ tragen sollte.

Europäische Oligarchie und Willkür – eine schwierige Zeit für Aufbau

Obwohl jetzt in Württemberg einiges voran ging und der Krieg in Europa vorbei war, waren die Schwierigkeiten nicht vorbei, denn nun stritt sich die Oligarchie darum, wer die Vormachtsstellung bekommen sollte. Immer deutlicher wurde dabei die Trennung zwischen einerseits vom Stein, Katharina und Wilhelm, die ein Reich wollten, das sich an republikanischen Prinzipien orientierte, und der repressiven „Heiligen Allianz“ auf der anderen Seite. Dazu kam, daß Katharinas Bruder, Zar Alexander, zunehmend von Metternichs Schergen eingelullt wurde und mehr und mehr von seiner historischen Mission abwich. Es war keineswegs mehr gewiß, daß Alexander I dieselben Ziele wie Katharina verfolgte.

Katharina setzte deshalb ein ungewöhnliches Testament auf, mit dem im Fall ihres Todes all ihr Geld an ihren Mann ging, statt wie üblich zurück nach Rußland zu ihrer Familie. Damit wollte sie sicherstellen, daß ihre Projekte für Württemberg weiter laufen konnten, um das Land weiter aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war klar, daß sie ihre Rolle in Württemberg ebenso wie in den Reichsplänen von Freiherr vom Stein vollkommen akzeptiert hatte.

„Im Sommer 1817 nahm Katharina in enger Kooperation mit dem König und der Regierung die Arbeit in drei Richtungen auf: Die Menschen mußten aus der Not lernen und selbst ein finanzielles Polster für künftig noch nicht vermeidbare Notsituationen schaffen; die beste Prophylaxe gegen die Not bestand in der Produktivitätssteigerung innerhalb der Landwirtschaft und des Gewerbes; Sparsamkeit und Effizienz konnten durch eine bessere Bildung aller Bevölkerungsschichten gefördert werden. Eine ausgewogene Verfassung konnte für diese Aufgabe die staatsrechtliche Grundlage legen. Die Regierung und die Stände hatten für einen entsprechenden Staatshaushalt zu sorgen und der Privatinitiative zur Stimulierung des Volksvermögens durften keine Grenzen gesetzt werden. Diesem Bereich wandte sich Katharina mit der gleichen Kraft zu, mit der sie bereits den Wohlfahrtsverein aus der Taufe gehoben hatte.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 282)

Die bereits entstandenen Strukturen wurden so erweitert, so daß ein Netzwerk sozialer Einrichtungen in Württemberg entstand, dessen Knotenpunkte die Wohltätigkeitsvereine, Sparkassen, Krankenhäuser und Stiftungen waren. Zur selben Zeit begann ihre Schwester Maria in Weimar ähnliche Strukturen zu errichten, so daß die oligarchischen Interessen von zwei Seiten in die Zange genommen wurden.

Katharinas Vorgehen war von folgenden Überlegungen bestimmt:

Der erste Schritt bestand in der Schaffung der Wohltätigkeitsvereine, um die unmittelbare Not zu lindern und in Zukunft Strukturen zu schaffen, die einem Notstand entgegenwirken konnten.
Der nun folgende Schritt umfaßte weitläufige Überlegungen:
– den Sparwillen der kleinen Leute fördern, damit Vorsorge für Notzeiten geschaffen werden kann,
– die Produktivität der Landwirtschaft steigern,
– den Wirkungskreis der Sozialleistungen erweitern,
– Ausgaben in Bildung und Erziehung als Investitionen in die Zukunft.
Dabei galt: Fürstenhaus, Unternehmer und Gesellschaft müssen diese Dinge gemeinsam angehen.

Gründung von Sparkassen

Diese gab es zwar bereits seit Ende des 18 Jh. in Europa, damit den unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung eine Absicherungsmöglichkeit geboten werden konnte, z.B. in England und der Schweiz. Katharina hatte wiederholt bei ihren Reisen nach England während des Krieges solche Institute besucht, um dieses System näher kennenzulernen. Damals war es bei den Sparkassen noch so, daß Geldverdienen und ihr sozialer Auftrag Hand in Hand gingen – wie etwa bei Isaak Iselin. Dieser gründete 1792 in Basel die „Private Zinskasse Basel“ als Sparkasse; er war ein Freund von Moses Mendelssohn und fühlte sich dessen humanistischem Menschenbild völlig verpflichtet.

In Deutschland wurde 1786 die erste Sparkasse in Oldenburg gegründet, in deren Grundverordnung es hieß: „… damit Personen von geringem Stande und Vermögen in dem Herzogtum Oldenburg die ihnen bisher fehlende Gelegenheit erhalten, den kleinen Gewinn, welchen sie durch Fleiß und Arbeit über ihren notdürftigen Unterhalt erwerben könne, zu zukünftigen Bedürfnissen sicher aufzubewahren und ohne Gefahr des Verlustes zinsbar zu nutzen.“

1814 hatte dann auch Cotta dieses Thema in seiner Zeitung aufgegriffen, was vielleicht der Grund dafür war, daß Katharina noch im selben Jahr die Spar- und Leihkasse in Göttingen besuchte und deren System studierte. Später diskutierte Katharina die Fragen zur Errichtung von Sparkassen im Land intensiv mit ihren Vertrauten Rapp und Cotta.

In diesen Gesprächen vertrat Rapp als Hofbankdirektor die Position, daß es günstiger wäre, die Hofbank dafür zu nutzen, das Geld der Bürger zu verwalten, Cotta dagegen machte den Vorschlag, ein eigenständiges Institut dafür zu gründen, was Katharina schließlich tat. Dabei argumentierte sie mit dem Wohlfahrtsverein als Beispiel für das gute Ineinandergreifen von zentraler Leitung und gleichzeitiger regionaler Organisation mit zahlreichen regionalen und kommunalen Zweigstellen. Die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins wurden damit beauftragt, die Gründung und Organisation der Sparkassen zu übernehmen. Dazu suchte man vertrauenswürdige Leiter, die sich in Hofkammerdirektor von Kohlhaas, Oberrechnungsrat Ludwig und Hofrat Pistorius fanden. 1818 nahmen die Sparkassen konkrete Gestalt an, und der Wohlfahrtsverein veröffentliche ebenfalls weitere konkrete Strukturpläne.

In den ersten vier Monaten 1818 zahlten 479 Sparer Geld ein, und es gab 20 Kreditnehmer. Daraus resultierten 24648 Gulden Aktiva und 23125 Gulden Passiva, sodaß am Ende ein Gewinn von 1500 Gulden erzielt wurde.

1819 gab es berets 1604 Sparer und 61 Kreditnehmer. Da überschüssige Einlagen unter 4% Verzinsung an die Hofbank gingen, konnte in der kommenden Zeit die Kapitalbildung der Sparkassen immer weiter voranschreiten und auf diesem Weg genügend Geld aufgebracht werden, um das Netz sozialer Einrichtungen weiter auszubauen und zu stabilisieren.

Entwicklung von Bildung und Erziehung

Vor Katharina gab es in Stuttgart zwei Anstalten zur Beschäftigung armer Kinder. Diese wurden unter ihrer Herrschaft dem Wohltätigkeitsverein angeschlossen und hießen später „Katharinenpflege“ und „Marienpflege“. Anschließend gründete sie die Armenschule für 400 Kinder – Jungen und Mädchen – und auch spezielle Einrichtungen zur Bildung junger Frauen, um ihnen ein besseres Auskommen durch das Erlernen eines vernünftigen Berufs zu ermöglichen. Katharina schrieb dem Vorsteher der Armenschule:

„Zum Beweise meines Zutrauens will ich Ihnen einen Gedanken mitteilen, welchen die Erfahrungen aus der neuen Kinderbeschäftigungsanstalt in mir rege gemacht haben … Sittenverderbnis der Kinder: nur eine moralische, anfangs mit Zwang verbundene Erziehung kann die bereits Verdorbenen ihrer wirklichen Bestimmung wiedergeben. Um diesen Zweck zu erreichen, müssen wir die Verirrten von den Unverdorbenen trennen… Nehmen wir uns also der Moralisch- Kranken an, beschäftigen wir sie an einem abgelegenen Orte des Landes unter Aufsicht eines wahren Dieners der Religion, eines Geistlichen, der durch Ermahnungen ihnen Liebe zur Tugend wieder einflößt, durch Unterricht ihre Geistesfähigkeit beschäftigt, durch Arbeit ihnen die Mittel der Erhaltung ihres künftigen Daseins gibt.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 293)

Ein anderes sehr wichtiges Projekt war die Gründung der späteren Landwirtschaftsuniversität Hohenheim, sowie auch des Volksfestes in Cannstatt. Diese beiden Projekte ergaben sich aus folgender Aufgabenstellung im Umgang mit der Jugend Württembergs. Dafür lautete die Losung auf den Punkt gebracht: bewahren, bilden und beschäftigen

– Bewahren: Betteln unterbinden und geordnete Erziehung;
– Bilden: Kenntnisse vermitteln, damit sie arbeiten können;
– Beschäftigen:
Jungen – Landwirtschaft und Handwerk;
Mädchen – Magddienste in der Stadt und auf dem Land und passende Berufe wie Näherin.

Weil das Königspaar alle Armen in Beschäftigung bringen wollte, wandte es sich gegen jegliche Form von Leben in Armut und damit auch gegen die althergebrachte Vorstellung des Feudalsystems, daß es zwei Klassen von Menschen geben müsse. Um diese Veränderung zu vollziehen, nutzten sie die drei folgenden Formen der Armenpflege:

* Industrieschulen,
* Rettungsanstalten,
* Kleinkindbewahrungsanstalten (Kindergarten)

Dabei gab es die Institution der Industrieschulen bereits seit 1794, aber ihr Boom setzte erst durch Katharina und ihrem Mann unmittelbar nach Überwindung der Krise von 1816/17 ein.

Geschichte der Universität Hohenheim und des Cannstatter Volksfestes

Die Hungersnot von 1816/17 zeigte die uneffiziente Landwirtschaft Württembergs, von der 80% der Württemberger lebten – also 1,4 Millionen Menschen. So entstand 1817 das erste Mal die Idee einer zentralen Landwirtschaftsschau, bei der nicht nur landwirtschaftliche Produkte ausgestellt wurden, sondern die Bevölkerung mit den Techniken und Methoden der hiesigen Landwirtschaft bekannt gemacht werden sollten. Anschließend wurde dann am 1. Aug. 1817 die Zentralstelle des Landwirtschaftlichen Vereins gegründet, der nach dem Vorbild des Wohltätigkeitsvereins weitere Ableger bilden sollte. So hieß es dann im Gründungsaufruf:

„Der wesentliche Wohlstand Württembergs beruht auf Erzeugnissen seines Bodens. Nicht die Gewinnung der größtmöglichen, sondern zugleich der nützlichsten Produktionsmasse ist die Aufgabe, deren Lösung viel zu wenig beachtet wurde.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 294)

Man kann davon ausgehen, das solche Äußerungen direkt mit ähnlichen Diskussionen in den jungen USA zu tun hatte. Zum einen waren die Freunde des Königspaares Menschen, die sehr interessiert auf die neue Republik auf der anderen Seite des Atlantiks blickten und wissen wollten, was dort an neuen Konzepten entwickelt wurde. Aber auch die Tatsache, daß Alexander Hamiltons Schrift „Über das Manufakturwesen“ bereits Ende des 18. Jh. ins Deutsche übersetzt und zirkuliert wurde, läßt diesen Schluß zu. Dazu kam noch, daß viele Deutsche, die auf den neuen Kontinent ausgewandert waren, Kontakt zu ihrer Heimat hielten und die Leute dort mit dem neusten Wissen und Erkenntnissen aus Amerika versorgten.

So ist auch nicht verwunderlich, daß man die Aufgabe des Staates darin erkannte, dafür zu sorgen, daß landwirtschaftliche Produktion gedeihen und ökonomisches Wachstum stattfinden kann, so daß die Bürger allgemein gültige Erfahrungen aus der praktischen Arbeit verbreiten können.

In diesem Zusammenhang sollte durch Errichtung einer landwirtschaftlichen Unterrichts- und Versuchsanstalt eine langfristige Wirkung erreicht werden. Für einen zusätzlichen Anreiz sollten die besten Leistungen in der Landwirtschaft und Viehzucht vom Staat prämiert werden. Eine neu geschaffene Fachzeitschrift erhielt die Aufgabe, kontinuierlich über die Arbeitsergebnisse zu berichten. Außerdem sollte ein regelmäßiges landwirtschaftliches Fest veranstaltet werden. Diese Versuchsanstalt entstand in Hohenheim und ihr erster Direktor wurde auf Empfehlung von Cotta und Hartmann der in preußischen Diensten stehende Johann Nepomuk Hubert Schwerz, der zuvor in den Provinzen Westfalen und Rheinpreußen tätig war, um dort die Landwirtschaft vernünftig zu organisieren.

In Württemberg angekommen, entwickelte er in Hohenheim zunächst die alten Holzpflüge weiter und errichtete dafür eine eigene Werkstatt, aus der die erste deutsche Ackergerätefabrik entstand, die zwischen 1840 und 1850 bereits 500 Pflüge produzierte. Schwerz leitete die Anstalt 10 Jahre lang und legte in dieser Zeit den Grundstein dafür, daß aus der Versuchsanstalt zunächst eine Akademie, dann eine Hochschule und schließlich im 20. Jh. eine Universität wurde.

Da sich solche Entwicklungen und ein solcher Anspruch an die Arbeiter nicht mit einem Sklavensystem vereinbaren lassen, wurde zum 1. Jan. 1818 die Leibeigenschaft der Bauern in Württemberg abgeschafft. Denn wollte man selbstbewußte und entwicklungsfreudige Bauern haben, so mußten sie frei sein und ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen können.

Am 23. September 1817 war die Geburtsstunde des Cannstatter Festes, das zunächst als Schau für die Viehzucht konzipiert war. Es fand dann zum ersten Mal am 28. September 1818 statt und seitdem bis heute jedes Jahr.

Nicht herrschen, sondern gemeinsam für das Gemeinwohl arbeiten

Es ist wichtig zu sehen, daß sich Katharina bei den jeweiligen Projekten nicht als Herrscherin aufspielte, sondern sich als Glied einer ganzen Kette von Mitarbeitern verstand, die vom König bis zum einfachen Bauern reichte. Das war nötig, um einen Erfolg der Projekte zu garantieren, denn nur wenn alle an einem Strang ziehen, kann sich ein Land entwickeln. Eine ihrer wichtigsten Eigenschaften war, daß sie kritikfähig war und auch die Kompetenz besaß, Debatten bestehen zu können. Dies zeugt von einer republikanischen Gesinnung und dem Einfluß, den die Ideen Schillers und Puschkins auf sie hatten. Schiller prägte im „Don Carlos“ das poetische Konzept für den Herrscher, „ein König unter Millionen Königen“ zu sein – im Gegensatz zur absolutistischen und oligarchischen Willkür.

Damit nicht genug, denn sie wollte auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft ändern. Dazu schuf sie ein Institut zur Bildung von Mädchen höherer Stände und gewann dafür den Pfarrer Karl August Zoller. Im Sommer 1817 erfolgte die Ankündigung, daß die bisherigen Schulen für Mädchen durch eine zentrale Institution ersetzt wurden, welche sich in der Königstraße in Stuttgart befand. Neben der staatlichen Finanzierung übernahm die Königin den Rest selbst mit ihrem privaten Vermögen. Diese wurde nach ihrem Tod und eigentlich gegen ihren Willen Königin-Katharina-Stift genannt. Bis zum 17. Aug. 1818 meldeten sich bereits 200 Schülerinnen an. In ihrer Ansprache bei der Eröffnung sagte die Königin:

„Das Leben hat eine ernste Seite; für den Ernst des Lebens muß der Mensch erzogen werden. Die moralische Kraft ist des Weibes einzige Stärke, und veredelte Charakterbildung ist die beste Ausstattung für das Leben in zwei Welten.“ (Detlef Jena, „Katharina Pawlowna“, S. 297)

Katharina besuchte die Schule zwischen 18. Aug und 19. Dez. 1818 zweiundzwanzig Mal. Sie half bei ihrem Aufbau und kontrollierte alle Abläufe selbst, was zeigt, wie sehr ihr dieses Projekt am Herzen lag.

Somit befand sich Württemberg auf den Weg in die Zukunft, um Vorreiter einer neuen Politik im deutschen Reichsgebiet zu sein. Freiherr vom Stein und Katharina schmiedeten auch Pläne dafür, Stuttgart mit unzähligen Galerien und Museen zum Zentrum der Malerei und Plastik in Deutschland zu machen. Doch dann starb Katharina unerwartet im Januar 1819 mit 31 Jahren. Damit waren den Plänen vom Steins, sie und ihren König zum deutschen Kaiserpaar zu machen, ein jähes Ende gesetzt. Metternichs Pläne konnten sich weiter verbreiten und eine Vereinigung des deutschen Reiches um fünfzig Jahre verzögern. Im Zuge dessen passierte dann genau das, was vom Stein hatte verhindern wollte: Es entwickelte sich ein großer preußisch-österreichischer Konflikt, der ohne Bismarcks Rolle wohl zur Zerstörung der deutschen Länder in Europa geführt hätte.

Schlußbemerkung

Das hier geschilderte ist nicht nur unsere Geschichte, sondern auch die Rußlands. Viele Russen kennen sie, nicht zuletzt, weil Katharina die russisch-orthodoxe Kirche in Württemberg einführte und sich dadurch eine verhältnismäßig große russische Gemeinde in Württemberg ansiedelte. Ein solches Erbe ist beispielhaft dafür, gemeinsam mit Rußland Wege zu finden, die jetzige große Krise zu lösen und erneut qualitative Veränderungen herbeizuführen, um in ein neues Zeitalter voranzuschreiten? Es gibt z.B. viele Vorschläge wie das Projekt der „Strategischen Verteidigung der Erde“ (SDE) der russischen Regierung, um gemeinsam an wissenschaftlichen Projekten zum Schutz unseres Planeten vor zukünftigen Gefahren zu arbeiten; auch die Projekte der Eurasischen Landbrücke sind prädestiniert dazu, einen neuen Sprung in der Geschichte der Menschheit zu machen. Wir müssen uns nur darauf besinnen, daß Kooperation statt Konfrontation die Zukunft ist.

Fussnote
(1) Dem vielseitig Vorgebildeten übertrug Herzog Karl Eugen 1788 einen Lehrstuhl an der 1782 errichteten Ökonomischen Fakultät der Hohen Karlsschule, wo er Vorlesungen über Hauswirtschaft, ein damals neues Fach, hielt. Dazu kamen als weitere Lehrfächer 1790 Forst- und Jagdwissenschaft und 1793 Handlungswissenschaft. Als Königin Katharina, mit deren Gründungen eines Wohltätigkeits- und eines landwirtschaftlichen Vereins und dem „Katharinenstift“ Hartmann von Anfang an tätig eng verbunden war, im Januar 1819 unerwartet starb, übertrug ihm König Wilhelm, der ihm stets gewogen blieb, die Leitung dieser Anstalten als Präsident. Hier fand Hartmann das Feld für eine ungemein wichtige und seiner Natur gemäße Tätigkeit. Auch um die Gründung und Entwicklung der württembergischen Landessparkasse seit 1818 und die Landwirtschaftliche Hochschule in Hohenheim seit 1817/18, die bis 1847 der Aufsicht des Landwirtschaftlichen Vereins unterstand, erwarb er sich große Verdienste.

 

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Wertvolles Erbe: die deutsch-russische Allianz in Baden-Württemberg
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