Warum muss Venezuela zerstört werden?

Dmitry Orlov (antikrieg)

Letzte Woche gaben Trump, sein Vizepräsident Mike Pence, US-Außenminister Mike Pompeo und der nationale Sicherheitsberater Trumps John Bolton sowie eine Reihe mittelamerikanischer Länder, die mehr oder weniger US-Kolonien sind und keine eigene Außenpolitik betreiben zeitgleich bekannt, dass Venezuela einen neuen Präsidenten hat: eine virtuelle Nichtentität namens Juan Guaidó, der nie ein Kandidat für dieses Amt war, aber eine Art Ausbildung für diesen Job in den USA durchlaufen hatte. Guaidó trat bei einer Kundgebung in Caracas auf, flankiert von einer winzigen Claque aus gut entlohnten Kriechern. Er sah sehr verängstigt aus, als er sich selbst zum Präsidenten von Venezuela ernannte und sich daran machte, seine Pflichten als Präsident zu erfüllen, indem er sich sofort in ein Versteck begab.

Sein Aufenthaltsort blieb bis viel später unbekannt, als er bei einer Pressekonferenz auftauchte, auf der er eine wischi-waschi Nicht-Antwort auf die Frage gab, ob er unter Druck gesetzt worden war, sich zum Präsidenten zu erklären oder ob er dies aus eigenem Willen getan hatte. Es gibt viel an dieser Geschichte, das gleichzeitig tragisch und komisch ist, also lassen Sie sie uns Stück für Stück auseinandernehmen. Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage, warum Venezuela (aus der Perspektive des US-Establishments) zerstört werden muss.

Was sofort auffällt, ist die Kombination von Inkompetenz und Verzweiflung, die alle oben genannten Persönlichkeiten des öffentlichen und nicht so öffentlichen Lebens zeigen. Pompeo, der seine Anerkennung von Guaidó zum Ausdruck brachte, nannte ihn „guido“, was eine ethnische Verunglimpfung der Italiener ist, während Bolton es besser machte und ihn „guiado“ nannte, was auf Spanisch für „ferngesteuert“ stehen könnte. (War das ein freudscher Ausrutscher oder nur einer von Boltons Höhepunkten?) Nicht zu übertreffen, hielt Pence eine ganze kleine Rede über Venezuela – eine Art Ansprache an das venezolanische Volk -, die mit einem wirklich schrecklichen pseudospanischen Kauderwelsch durchsetzt war und mit einem völlig unpassenden „¡Vaya con Dios!“ direkt aus einem dämlichen Westernfilm der 1950er Jahre endete.

Etwas mehr Unterhaltung gab es im UN-Sicherheitsrat, wo der stets respekteinflößende russische Vertreter Vasily Nebenzya darauf hinwies, dass die Situation in Venezuela keine Bedrohung für die internationale Sicherheit darstelle und daher nicht in den Zuständigkeitsbereich des Sicherheitsrates falle. Dann stellte er Pompeo, der bei der Sitzung anwesend war, eine pointierte Frage: „Planen die USA, wieder einmal gegen die UN-Charta zu verstoßen?“

Pompeo konnte keine Antwort geben. Er saß da und sah aus wie eine Katze, die so tut, als würde sie nicht an einem Kanarienvogel kauen, und floh dann schnell aus der Szene. Aber dann ließ vor kurzem Bolton, als er vermutlich eine nationale Sicherheitssitzung verließ und zu einer Pressekonferenz im Weißen Haus ging, versehentlich seinen Notizblock vor den Kameras der Reporter aufblitzen. Darauf stand „5000 Soldaten nach Kolumbien“ (das ist eine US-Militärbasis/Narkokolonie an der Nordgrenze Venezuelas). War das wieder einer von Boltons Höhepunkten? Auf jeden Fall scheint es Nebenzyas Frage positiv zu beantworten. Die Ernennung von Elliott Abrams, einem verurteilten Kriminellen, der sich an dem vorangegangenen gescheiterten venezolanischen Putschversuch gegen Hugo Chávez beteiligt hatte, was ihn automatisch zur Persona non grata in Venezuela machte, zum Sondergesandten in Venezuela ist ebenfalls ein Hinweis auf eine feindselige Absicht.

Es wäre durchaus verständlich, wenn Sie diese Regimewechselaktion mit einer Art absurder Performancekunst verwechseln würden. Sie ist sicherlich ein wenig zu abstrakt für die Komplexität der realen Welt der internationalen Ordnung. Ein armer, ängstlicher Diener wird vor eine Kamera gestoßen und erklärt sich zum Präsidenten von Narnia, und dann springen drei Handlanger (Pence, Pompeo und Bolton) plus Bozo der Trump auf und schreien „Ja-ja-ja-ja, das ist er!“. Und ein pensionierter Versager wird von der Bank geholt, abgestaubt und auf eine Mission in ein Land geschickt, das ihn nicht haben will.

In der Zwischenzeit stehen die venezolanische Armee und die venezolanischen Gerichte in der realen Welt hinter dem gewählten Präsidenten Nicolas Maduro und einer Liste von Ländern, die die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung bilden, darunter China, Russland, Indien, Mexiko, die Türkei, Südafrika und eine Reihe von weiteren haben sich für Maduro ausgesprochen. Selbst die Menschen in den ferngesteuerten mittelamerikanischen Ländern wissen sehr wohl, was für ein gefährlicher Präzedenzfall eine solche Regimewechseloperation wäre, wenn sie erfolgreich wäre, und denken: “¡Hoy Venezuela, mañana nosotros!” („Heute Venezuela, morgen wir!“).

Um gründlich zu sein, lassen Sie uns die Argumente betrachten, die verwendet werden, um diese Regimewechseloperation voranzutreiben. Es gibt die Behauptung, dass Nicolas Maduro kein legitimer Präsident ist, denn bei den Wahlen im vergangenen Jahr, bei denen er von 68 % derjenigen unterstützt wurde, die an den Wahlen teilgenommen haben, mangelte es an Transparenz, und die Wahlen wurden von bestimmten Oppositionsparteien boykottiert, während Juan Guaidó zu 100 % legitim ist, obwohl er und seine unbedeutende Nationalversammlung von 70 % der Venezuelaner nach den eigenen Wahlergebnissen der Opposition abgelehnt wurden. Es gab auch einige unbegründete Behauptungen über „Stimmzettelfüllung“ – die Venezolaner verwenden nämlich keine Stimmzettel, wobei nach Angaben des internationalen Wahlbeobachters und ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter „der Wahlprozess in Venezuela der beste der Welt ist“.

Es gibt die Behauptung, dass Maduro die Wirtschaft Venezuelas schlimm fehlgeleitet hat, was zu Hyperinflation, hoher Arbeitslosigkeit, Mangel an Grundnahrungsmitteln (insbesondere Medikamenten) und zu einer Flüchtlingskrise führte. Dieser Streit hat eine gewisse Berechtigung, aber wir müssen auch feststellen, dass es einigen Nachbarn Venezuelas in vielerlei Hinsicht noch schlechter geht, obwohl Maduro nicht ihr Präsident ist. Außerdem sind viele der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas durch Sanktionen der USA gegen Venezuela verursacht worden. Zum Beispiel werden derzeit rund 8 Milliarden Dollar des Geldes Venezuelas zurückgehalten und sollen zur Finanzierung einer Söldnerarmee verwendet werden, die wie im Falle Syriens in Venezuela einmarschieren und versuchen würde, Venezuela zu zerstören.





Schließlich hat ein Großteil der misslichen Lage Venezuelas mit dem Fluch des Erdöls zu tun. Venezuela hat die größten Ölreserven der Welt, aber sein Öl ist sehr zähflüssig und daher teuer in der Verarbeitung. Während einer Zeit hoher Ölpreise wurden die Venezolaner süchtig nach dem Ölreichtum, den die Regierung benützte, um Millionen von Menschen aus der bitteren Armut herauszuholen und sie aus den Slums in staatliche Wohnungen zu bringen. Und jetzt haben niedrige Ölpreise eine Krise ausgelöst. Wenn Venezuela es schafft, diesen Zeitraum zu überleben, wird es in der Lage sein, sich zu erholen, sobald sich die Ölpreise erholen (was sie tun werden, sobald das fragile Fracking-Ponzisystem in den USA seinen Lauf beendet haben wird). Wir werden später auf das Thema venezolanisches Öl zurückkommen.

Nebenbei bemerkt, haben viele Leute die Meinung geäußert, dass die Probleme Venezuelas auf den Sozialismus zurückzuführen sind. Geht es nach ihnen, dann ist es in Ordnung, wenn viele Menschen leiden, solange ihre Regierung kapitalistisch ist, aber wenn sie sozialistisch ist, dann ist das die falsche Art von Leiden und ihre Regierung verdient es, gestürzt zu werden, selbst wenn alle dafür gestimmt haben. Zum Beispiel hat die Website ZeroHedge, die oft nützliche Informationen und Analysen veröffentlicht, diese Denkweise bis zum Erbrechen vorangetrieben. Es ist bedauerlich, dass einige Leute sich einbilden, dass sie prinzipientreu sind und richtig denken, während sie bestenfalls Dummköpfe und schlimmstenfalls jemandes nützliche Idioten sind. Es steht ihnen nicht zu, über die Politik anderer Nationen zu entscheiden, und sie sollten aufhören, unsere Zeit mit ihrem Unsinn zu verschwenden.

Dieser nackte Versuch eines Regimewechsels würde einen sehr gefährlichen Präzedenzfall für die USA selbst darstellen. Die Lehre vom rechtlichen Präzedenzfall ist keineswegs universell. Sie stammt aus den dunklen Zeiten des englischen Common Law und wird nur in ehemaligen britischen Kolonien praktiziert. Für den Rest der Welt ist sie eine barbarische Form der Ungerechtigkeit, weil sie Richtern und Anwälten willkürliche Macht verleiht. Den Gerichten darf es nicht erlaubt sein, Gesetze zu schreiben oder zu ändern, nur um sie dann zu exekutieren. Wenn Ihr Fall auf der Grundlage eines anderen Falles entschieden werden kann, der nichts mit Ihnen zu tun hat – warum lassen Sie sich dann nicht von jemand anderem Ihre Anwaltskosten und Ihre Bußgelder zahlen und Ihre Strafe für Sie absitzen? Aber es gibt einen übergeordneten Grundsatz des Völkerrechts, nämlich dass souveräne Nationen das Recht haben, ihre eigenen Gesetze und Rechtstraditionen einzuhalten. Daher werden die USA an die Präzedenzfälle gebunden sein, die sie schaffen. Mal sehen, wie das funktionieren würde.

Der Präzedenzfall, der durch die Anerkennung von Juan Guaidó durch die US-Regierung geschaffen wurde, erlaubt es Nicolas Maduro, die Präsidentschaft von Donald Trump aus praktisch allen denselben Gründen für unrechtmäßig zu erklären. Trump konnte die Volksabstimmung nicht gewinnen, sondern gewann die Präsidentschaft nur wegen eines korrupten, manipulierten Wahlsystems. Außerdem wurden bestimmte Kandidaten der Opposition im Rahmen des Wahlverfahrens unfair behandelt. Trump ist auch eine Schande und ein Versager: 43 Millionen Menschen sind auf Lebensmittelmarken angewiesen; fast 100 Millionen gehören zu den Langzeitarbeitslosen (allgemein als „nicht erwerbstätig“ bezeichnet); Obdachlosigkeit ist weit verbreitet und es entstehen ganze Zeltstädte in verschiedenen US-Städten; zahlreiche US-Unternehmen stehen kurz vor dem Bankrott; und Trump kann die Bundesregierung nicht einmal offen halten! Er ist eine Katastrophe für sein Land! Maduro erkennt daher Bernie Sanders als legitimen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika an.

Wladimir Putin könnte dann auf diese beiden Präzedenzfällen aufbauen, indem er auch Bernie Sanders als rechtmäßigen US-Präsidenten anerkennt. In einer öffentlichen Rede könnte er folgendes sagen: „Ich gebe freiwillig zu, dass wir Donald Trump als US-Präsidenten eingesetzt haben, wie es unser Recht auf der Grundlage der zahlreichen Präzedenzfälle in ddr Geschichte der USA selbst war. Leider hat Trump nicht wie geplant funktioniert. Mueller kann sich zur Ruhe setzen, weil dieser USB-Stick alles enthält, was notwendig ist, um Trumps Amtseinführung zu annullieren. Donny, tut mir leid, dass es nicht geklappt hat! Ihr russischer Pass liegt in unserer Botschaft zur Abholung bereit, ebenso wie Ihre Schlüssel zu einem Einzelzimmer in Rostow, direkt neben dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine Viktor Janukowitsch, der von Ihrem Vorgänger Obama gewaltsam regimegewechselt wurde.“

Warum die ungebührliche Eile, Venezuela in die Luft zu jagen? Die Erklärung ist einfach: sie hat mit Öl zu tun. „Es wird wirtschaftlich einen großen Unterschied für die Vereinigten Staaten machen, wenn wir amerikanische Ölgesellschaften dazu bringen könnten, in Venezuela zu investieren und die Ölkapazitäten in Venezuela zu schaffen“, sagte John Bolton auf Fox News. Sie sehen, venezolanisches Öl kann ohne hohe Ölpreise nicht gewinnbringend produziert werden – so hoch, dass viele Ölverbraucher in den Bankrott gehen würden -, aber es kann sicherlich in viel höheren Mengen mit einem enormen finanziellen Verlust produziert werden.

Riesige finanzielle Verluste würden sicherlich amerikanische Ölgesellschaften nicht aufhalten, die bisher einen Verlust von 300 Milliarden Dollar durch Fracking generiert haben – finanziert durch Plünderungen von Rentenersparnissen, Belastung zukünftiger Generationen mit schweren Schulden und anderen schändlichen Programmen. Denken Sie auch daran, dass der größte Ölverbraucher der Welt das US-Verteidigungsministerium ist, und wenn es ein wenig mehr für Öl zahlen muss, um weiterhin Länder in die Luft zu jagen – so wird es das auch tun. Oder besser gesagt, du wirst es tun. Für sie ist das alles dasselbe. Die USA sind bereits weit jenseits von pleite, aber ihre Führer werden alles tun, nur um die Party noch eine Weile in Gang zu halten.

Hier liegt das eigentliche Problem: die Fracking-Bonanza ist zu Ende. Die meisten der Sweetspots wurden bereits erschlossen; neuere Bohrungen verbrauchen sich schneller und produzieren weniger, während sie mehr kosten; die nächsten Wellen des Fracking, falls sie stattfinden sollten, würden 500 Milliarden Dollar verschwenden, dann 1 Billion Dollar, dann 2 Billionen Dollar … Die Bohrrate verlangsamt sich bereits und begann sich schon zu verlangsamen, selbst als die Ölpreise noch hoch waren. Unterdessen passierte das konventionelle (nicht gefrackte) Erdöl bereits in den Jahren 2005-6 seinen Höhepunkt, nur wenige Länder haben den Höhepunkt noch nicht erreicht, Russland hat angekündigt, dass es die Produktion in nur wenigen Jahren reduzieren wird und Saudi-Arabien hat keine freien Kapazitäten mehr.

Es zeichnet sich eine ziemlich große Ölknappheit ab, die sich insbesondere auf die USA auswirken wird, die 20 % des Erdöls der Welt (mit nur 5 % der Weltbevölkerung) verbrennen. Sobald Fracking abstürzt, werden die USA dazu übergehen müssen, von 2,5 Millionen Barrel pro Tag mindestens 10 Millionen Barrel zu importieren und dieses Öl wird es nicht mehr geben. Bisher konnten die USA dieses Problem lösen, indem sie Länder in die Luft jagten und ihr Öl stahlen: Die Zerstörung des Irak und Libyens machte amerikanische Ölgesellschaften für eine Weile vollständig und bewahrte das finanzielle Kartenhaus vor dem Zusammenbruch. Aber die Bemühungen, Syrien in die Luft zu jagen, sind gescheitert, und auch der Versuch, Venezuela in die Luft zu jagen, wird wahrscheinlich scheitern, denn Venezuela hat zwischen 7 und 9 Millionen Chavistas, die vom bolivarischen revolutionären Geist erfüllt sind, ein großes und gut bewaffnetes Militär und ist im Allgemeinen eine sehr unnachgiebige Nachbarschaft.

Früher griffen die USA zu verschiedenen schmutzigen Tricks, um ihre Aggression gegen ölreiche Länder und den anschließenden Diebstahl ihrer natürlichen Ressourcen zu legitimieren. Es gab dieses Fläschchen mit hochgiftigem Talkumpuder, das Colin Powell vor den Vereinten Nationen schüttelte, um sie dazu zu bringen, für die Zerstörung des Irak und den Diebstahl seines Öls zu stimmen. Es gab die erfundene Geschichte von humanitären Gräueltaten in Libyen, um die Stimmen für eine Flugverbotszone dort zu erhalten (was sich als Bombenangriffe herausstellte, gefolgt von einem Regierungssturz). Aber im Falle Venezuelas gibt es kein solches Feigenblatt. Alles, was wir haben, sind offene Drohungen von nackter Aggression und eklatanten Lügen, die niemand glaubt, die von Clowns, Strolchen und alten Dummköpfen inkompetent geliefert werden.

Wenn Plan A (Venezuelas Öl stehlen) scheitert, dann besteht Plan B darin, alle Ihre auf US-Dollar lautenden Papierabfälle – Bargeld, Aktien, Anleihen, Taten, Versicherungen, Schuldscheine usw. – zu nehmen und in Mülltonnen zu verbrennen, um sich warm zu halten. Die ganze Sache trägt definitiv einen Hauch von Verzweiflung in sich. Der globale Hegemon ist gebrochen; er ist gestürzt und kann nicht mehr aufstehen.

erschienen am 29. Januar 2019 auf > CLUB ORLOV > Artikel

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Warum muss Venezuela zerstört werden?
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2 Kommentare

  1. Spielball Venezuela
    National-Zeitung vom 1. Februar 2019 (Willy Perk)

    Titelbild:  Die Ausrufung eines„Gegenpräsidenten” in Venezuela treibt das geopolitische Tauziehen um den Karibikstaat auf die Spitze. Im Bild: Gemüsehändler, die am 28. Januar in Caracas auf Kundschaft warten. Je länger sich der Patt zwischen dem von den USA unterstützten Oppositionsführer Juan Guaidó und Präsident Nicolas Maduro hinzieht, desto mehr dürften die Venezolaner leiden.

    Es ist kein Zufall, daß Parlamentspräsident Juan Guaidó sich am 23. Januar in der venezolanischen Hauptstadt Caracas zum Übergangsstaatschef ausrief. Am 23. Januar 1958 war der Divisionsgeneral Marcos Pérez Jiménez gestürzt worden, der das Land zuvor sechs Jahre lang mit diktatorischen Mitteln regiert hatte. Die Wahl des Datums zeigt, dass Guaidó den Coup schon länger geplant hat. Darauf deutet auch die sofortige Anerkennung durch die USA, Brasilien, Kolumbien, Peru, Ecuador oder Kanada hin.

    Venezuela befindet sich endgültig in einer revolutionären Situation. Für viele ausländische Beobachter stellt sich die Frage, wie es so weit kommen konnte. Nach Schätzungen der „Organisation erdöl-exportierender Länder” (OPEC) besitzt Venezuela nämlich mit rund 300 Milliarden Barrel noch vor Saudi-Arabien die größten bekannten Erdölreserven der Welt. Aus dem Orinoco-Delta werden immer wieder neue Lagerstätten gemeldet. Das Land müsste in Geld schwimmen, stattdessen herrschen Hunger und Not.

    Ressourcenfluch und Korruption

    Venezuela ist ein geradezu lehrbuchmäßiges Beispiel für den sogenannten Ressourcenfluch, der immer wieder Staaten mit großen natürlichen Reichtümern heimsucht. Wie Katar oder Norwegen könnte das Land an der südamerikanischen Karibikküste Eigentümer großer Staatsfonds sein und sich mit Investitionen in aller Welt auf die Zeit nach dem Öl vorbereiten. Doch die politischen Eliten Venezuelas ließen sich zum Aufbau eines korrupten und klientelistischen Systems verleiten, in dem selbst wichtigste Posten nach Loyalität gegenüber dem Machthaber und nicht nach Kompetenz besetzt wurden. Die Öleinnahmen wurden nicht für zukunftssichere Investitionen verwendet, sondern versickerten in der Bürokratie und im Militär. In der von der Organisation „Transparency International” erstellten Korruptionsrangliste lag Venezuela 2017 auf Rang 169 von 180 Staaten.

    Schon seit den zwanziger Jahren wird im Karibikstaat Öl gefördert, wobei US-amerikanische (Standard Oil, Esso) und niederländische (Shell) Konzerne die Vorreiter waren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollte Venezuela seinen nationalen Reichtum verständlicherweise vor allem für sich selbst nutzen. Die Nationalisierung der Ölindustrie führte 1976 zur Gründung der staatlichen Gesellschaft „Petróleos de Venezuela S.A.” (PDVSA). Lange Zeit galt „Petroven” als Paradebeispiel für einen solide geführten Staatskonzern. Noch bis Mitte der 90er Jahre wurde die PDVSA von Experten ähnlich hoch bewertet wie die wichtigsten westlichen Ölgesellschaften.

    1990 konnte der venezolanische Staatskonzern mit Citgo einen der größten damaligen US-amerikanischen Tankstellenbetreiber hundertprozentig übernehmen und errichtete in den USA eine Reihe von Raffinerien zur Verarbeitung des venezolanischen Schweröls. Die Regierungen des Karibikstaats verwendeten allerdings die Einnahmen aus dem Ölgeschäft nicht zur Armutsbekämpfung und versäumten, die extreme Einkommens- und Vermögensungleichheit wirksam einzudämmen.

    Für die Armen wurde Hugo Chávez, Kommandant der Fallschirmjäger in der Stadt Maracay am Valenciasee und glühender Bewunderer des Nationalhelden Simón Bolivar, zum Hoffnungsträger.

    Mythos Hugo Chávez

    Nach einem missglückten Putschversuch im Februar 1992 und einer zweijährigen Haftzeit gründete Chávez die Sammlungspartei „Bewegung der Fünften Republik” (MVR), die auch bürgerliche Kräfte einband. 1998 siegte er bei den Präsidentschaftswahlen mit 56 Prozent. Ein Jahr später stimmten die Venezolaner seinem wichtigsten Projekt zu, der „bolivarischen Verfassung”, die als Staatstyp eine Präsidialdemokratie vorsah, erweitert durch zahlreiche direktdemokratische Elemente.

    Der charismatische Chávez galt bald in ganz Südamerika als Widerstandsfigur gegen US-Einflussnahme und setzte als utopisches Fernziel die Einigung Lateinamerikas auf die politische Agenda. Bei der Armutsbekämpfung gelangen ihm, begünstig durch die seinerzeitige Explosion des Ölpreises, insbesondere zu Beginn seiner Regierungszeit Erfolge.

    ln Washington galt Venezuelas Präsident hingegen immer mehr als „Staatsfeind Nummer Eins”, der US-Fernsehprediger Pat Robertson rief sogar zur Ermordung des Politikers auf. Der Popularität von Chávez tat dies keinen Abbruch, in drei weiteren Präsidentschaftswahlen wurde er mit Ergebnissen zwischen 55 und 62 Prozent jeweils klar wiedergewählt. Einen Putschversuch 2002, in dessen Vorbereitung die Bush-Regierung verwickelt gewesen sein soll, überstand er.

    Sein Tod am 5. März 2013 katapultierte den vorherigen Außenminister Nicolás Maduro in den Präsidentenpalast Miraflores in Caracas, der jedoch nie das Format seines Vorgängers erreichte. Die Präsidentschaftswahl im April 2013 gewann er nur knapp, bei den Parlamentswahlen des Jahres 2015 errang die Opposition zwei Drittel der Mandate. Maduro regiert sein Land seitdem per Dekret. Als er 2017 eine neue Verfassunggebende Versammlung einberief, überschritt er seine Kompetenzen, denn dafür hätte es eines entsprechenden Volksbegehrens bedurft.

    Angst vor einer US-lntervention

    Die Staats- und Wirtschaftskrise hat in Venezuela in den letzten Jahren dramatische Züge angenommen. Der einstige Goldesel PDVSA meldet seit Jahren rückläufige Ölförderungen. Seine Führungsetage ist mit Günstlingen Maduros besetzt und das Unternehmen nicht einmal zu nötigen Ersatzinvestitionen in der Lage. Da Erdöl aber das letzte relevante Exportgut ist, breiten sich Armut und Hyperinflation aus, die Kindersterblichkeit hat sich vervielfacht, eine Massenfluchtbewegung überrollt die Nachbarn Brasilien und Kolumbien. Die Situation wurde durch eine weitere Verschärfung der US-Sanktionen in den letzten beiden Jahren nochmals angeheizt, und die Selbstproklamation Guaidós zum Übergangspräsidenten führt nun zu einer weiteren Eskalation in dem krisengeschüttelten Land.

    Venezuela ist offensichtlich Objekt eines geopolitischen Tauziehens. Während die USA Guaidó sofort anerkannt haben, sehen Russland, China, der Iran, die Türkei, Kuba, Mexiko und Bolivien in Maduro weiterhin den legitimen Regierungschef. Es geht in diesem geopolitischen Kräftemessen weniger um Menschenrechte und Demokratie als vielmehr um den Zugriff auf die weltgrößten bekannten Erdölreserven.

    Im vergangenen Herbst meldete die „New York Times”, dass bei einem Treffen zwischen oppositionellen venezolanischen Offizieren und der US-Regierung unter Donald Trump die Frage eines bewaffneten Sturzes von Maduro erörtert worden sei. Die US-Seite habe allerdings reserviert reagiert, zumal auch der Opposition in Venezuela Verbindungen zum Drogenhandel und massive Menschenrechtsverstöße vorgehalten werden.

    Der Isolationist und Republikaner Ron Paul kommentierte am Montag: „Presseberichten zufolge war Vizepräsident Mike Pence (1)  so sehr in interne venezolanische Angelegenheiten involviert, dass er Guaidó tatsächlich drängte, sich zum Präsidenten zu ernennen, und die Unterstützung der USA versprach. Das ist nicht nur dumm, es ist auch sehr gefährlich. Ein venezolanischer Bürgerkrieg würde zu Massensterben und noch mehr wirtschaftlichem Elend führen! Ein Regimewechsel in Venezuela ist seit langem Ziel der US-Politik. Die USA führen Wirtschaftskriege praktisch seit der Erstwahl von Maduros Vorgänger Hugo Chavez 1998. Das Ziel der US-Sanktionen und weiterer wirtschaftlicher Maßnahmen gegen Venezuela (und andere Länder im Fadenkreuz Washingtons) ist es, das Leben der Bürger so zu erschweren, dass sie sich erheben und ihre Führer stürzen. Aber natürlich müssen sie, sobald sie dies tun, diese Führer durch jemanden ersetzen, der von Washington genehmigt wurde.”

    Diplomatie ist gefragt

    Eine US-lntervention würde Venezuela in einem ähnlichen Ausmaß destabilisieren wie den Irak und Libyen. Sowohl Russland als auch China, die in den vergangenen zehn Jahren Milliardensummen in den Karibikstaat investiert haben, würden sich zu einer Reaktion genötigt sehen.

    Guaidó hat nicht einmal das oppositionelle Parlament vollständig auf seiner Seite. Der Sozialdemokrat Edgar Zambrano, immerhin erster Vizepräsident der Nationalversammlung, ordnete die Selbstproklamation als „rechtlich unsicher“ ein. Außerdem scheint diese noch keine große Eigendynamik entfaltet zu haben. Es gibt jedenfalls bislang keine Anzeichen, dass das Militär als der eigentliche Machtfaktor die Seiten wechselt.

    Maduro seinerseits hat bisher auf den „Plan Zamora” verzichtet, eine Notstandsverordnung, die den Streitkräften die Niederschlagung der Proteste erlauben würde. Noch ist die Tür für eine Verhandlungslösung offen, der einzige realistische Weg für eine friedliche Beilegung der Staatskrise. Deutschland und die EU sollten ihre diplomatischen Bemühungen darauf konzentrieren, einen Bürgerkrieg abzuwenden statt in transatlantischer Treue den schwer einschätzbaren Guaidó anzuerkennen.  Willy Perk

    1)   https://en.wikipedia.org/wiki/Mike_Pence
    Michael Richard Pence was born June 7, 1959, in Columbus, Indiana, one of six children of Nancy Jane (née Cawley) and Edward Joseph Pence Jr., who ran a group of gas stations. (dem eine Gruppe von Tankstellen gehörte!!!)

     

  2. "Der globale Hegemon ist gebrochen; er ist gestürzt und kann nicht mehr aufstehen."

    Die sind noch lange nicht gefallen!

    Aber wenn sie fallen, werden sie eine Schneise der Verwüstung schlagen.

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