Warum ich unserer Politik nicht mehr vertrauen kann …

von Karl Müller (zeit-fragen)

George Orwells 1948 vollendeter und wohl berühmtester Roman «1984» ist seit meiner Jugend ein Orientierungspunkt der politischen Kritik gewesen. Damals wusste ich noch nicht, dass Orwell ein englischer Sozialist war, der auf der Seite von Trotzkisten im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, dort in Konflikt mit den Kräften aus Moskau geraten war, nach dem Krieg für den britischen Geheimdienst arbeitete, Kollegen aus seinem Umfeld als Kommunisten denunzierte und ab 1950 im vom CIA finanzierten «Kongress für kulturelle Freiheit» mitwirkte.
Seit seinem Spanienaufenthalt hatte Orwell Kritik an der Sowjetunion geübt. Die Romane «Farm der Tiere» und «1984» galten schon zu meiner Schulzeit als eingängige Werke der literarischen Kritik an Kommunismus und Totalitarismus. Diese Kritik hatte mich als junger Mensch sehr angesprochen, damals war ich ein entschiedener Kritiker des nationalsozialistischen und des kommunistischen Totalitarismus. Das ist geblieben.

«Neusprache» in Orwells «1984» und im Jahr 2016

Verloren habe ich hingegen meine damals fast völlig unkritische Haltung gegenüber der Politik des «Westens» – ich war ein braves Kind des Kalten Krieges. Und wenn ich heute wieder Orwells Ausführungen im Roman «1984» lese, die der Romanhandlung nachgefügt sind und die sich mit der Konstruktion und der Bedeutung der «Neusprache» befassen, dann denke ich nicht mehr zuerst an das Jahr 1948 und die damaligen weltpolitischen Verhältnisse, sondern unweigerlich an unsere heutige Politik im eigenen Land, die ja vorgibt, gegen jede Art von Totalitarismus zu sein, in Tat und Wahrheit aber genau das praktiziert, was Orwell trotz allen Paradoxien seines eigenen Lebens doch so treffend charakterisiert hat.
Konkret: Die Lektüre der Rede der deutschen Kanzlerin Angela Merkel vom 23. ­November 2016 im Deutschen Bundestag hat mich sofort wieder an George Orwells Mächtige erinnert, nur dass Frau Merkel es noch viel perfider macht und es nicht um einen Roman geht, sondern um unsere Wirklichkeit.
George Orwell hatte geschrieben: «Die Neusprache war die in Ozeanien eingeführte Amtssprache und zur Deckung der ideologischen Bedürfnisse des Engsoz [Englischen Sozialismus] erfunden worden. Sie hatte nicht nur den Zweck, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und geistige Haltung zu sein, die den Anhängern des Engsoz allein angemessen war, sondern darüber hinaus jede Art anderen Denkens auszuschalten. Wenn die Neusprache erst ein für allemal angenommen und die Altsprache vergessen worden war (etwa im Jahr 2050), sollte sich ein unorthodoxer – das heisst ein von den Grundsätzen des Engsoz abweichender Gedanke – buchstäblich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist.»

Merkel ist perfider

Orwell schreibt dann weiter, dass Worte wie Ehre, Gerechtigkeit, Moral oder Demokratie aus dem Wortschatz der Neusprache verbannt wurden – da ist Frau Merkel in der Tat perfider; sie benutzt weiterhin solche Wörter, meint aber etwas ganz anderes.
So zitierte sie eingangs ihrer Rede den südamerikanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa: «Die Bereitschaft, mit denen zusammenzuleben, die anders sind, war vielleicht der aussergewöhnlichste Schritt auf dem Weg des Menschen zur Zivilisation, ein Schritt, welcher der Demokratie vorausging und sie überhaupt erst möglich gemacht hat.» Aber sie zitierte, um ihre eigene Politik, vor allem wohl ihre Migrationspolitik, gleich zu Beginn ihrer Rede erneut zu rechtfertigen. Vielleicht auch ihr Bekenntnis zum Respekt vor der «Vielfalt» der «sexuellen Orientierungen», den sie auch dem neuen US-Präsidenten abverlangen möchte. Ob der berühmte süd­amerikanische Schriftsteller das mit seinem Zitat so gemeint hatte?

Ein Angriff auf die Meinungsfreiheit

Dann geht Frau Merkel auf die Veränderungen im «medialen Umfeld» ein und beklagt, dass die Mainstream-Medien mit ihrer «Sorgfaltspflicht der Journalisten» nicht mehr ausschliesslich wahrgenommen würden, sondern es heute auch viele Bürger gibt, «die Medien wahrnehmen, die auf ganz anderen Grundlagen basieren [also ohne ‹Sorgfaltspflicht›], die weniger kontrolliert werden [aber künftig sollen?]». Denn es sei heute so, dass «Fake-Seiten, Bots, Trolle Meinungsbilder verfälschen können» und «dass heute sich selbst regulierende Meinungsverstärkungen durch bestimmte Algorithmen stattfinden».
Die Antwort auf das Fragezeichen der eckigen Klammer findet sich im nächsten Absatz der Rede: «Um Menschen zu erreichen, um Menschen zu begeistern, müssen wir mit diesen Phänomenen umgehen und, wo notwendig, sie auch regeln.» (Hervorhebung durch Verfasser)
Hat Frau Merkel hier nicht eher die Parole übernommen, die der zurückgetretene US-amerikanische Geheimdienst-Chef James Clapper Anfang des Jahres ausgegeben und die am Tag von Merkels Rede auch das Europäische Parlament beschlossen hat: Alles, was uns nicht passt, ist Fake – und nichts als russische Propaganda und von Russland gesteuert! Dagegen wollen wir nun mit allen Mitteln kämpfen!

Der Feind sind die «Populisten»

Im darauffolgenden Absatz wird der Gegner zu Hause identifiziert: «Diese Sorge um Stabilität wird natürlich auch verstärkt durch das, was um uns herum passiert. Populismus und politische Extreme nehmen in westlichen Demokratien zu.» Frau Merkel ist zwar für «Streitkultur» – «Aber es muss im Geiste des Respekts vor der Würde des jeweils anderen stattfinden. Das ist das Wesentliche, und das passiert eben an vielen Stellen nicht mehr.»
Kurz darauf wird Frau Merkel konkret: «Wir haben im Zusammenhang mit der Krim und der Ukraine den Bruch des Völkerrechts und die Verletzung der territorialen Integrität eines Landes zu konstatieren.» Zwei Sätze weiter behauptet sie: «Die Situation in Syrien, insbesondere wenn man das sieht, was in Aleppo passiert, macht uns jeden Tag beklommen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Es gibt sehr viele Indizien dafür, dass hier bewusst Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen bombardiert werden. Mit Verlaub. Das ist international verboten. Das ist strafrechtlich zu verfolgen.» Und auch hier wird der Gegner identifiziert: «Das muss das Assad-Regime auch wissen. Und es ist sehr bedauerlich, dass Russland dieses Regime unterstützt, meine Damen und Herren.»

Warum schweigt Frau Merkel zur Wirklichkeit im Osten Europas …

Aber warum hat Frau Merkel nichts darüber gesagt, wie es zur heutigen Situation im Osten Europas gekommen ist? Warum nicht erwähnt, dass sich Nato und EU immer weiter in Richtung russischer Grenze ausgebreitet haben und es das strategische Konzept, zumindest das der USA, war, über Russlands Rohstoffreichtum verfügen zu wollen? Nachdem man von seiten der EU und der USA in den neunziger Jahren genau die Kräfte in Russ­land unterstützt hat, die das Land immer weiter geschwächt haben! Wieso hat Frau Merkel nicht gesagt, dass es im Februar 2014 einen von ihrer Regierung unterstützten und gewaltsamen verfassungswidrigen Regierungswechsel in Kiew gegeben hat? Mit dem die überwältigende Mehrheit der russischstämmigen Bewohner der Halbinsel Krim und auch die Mehrheit der russischstämmigen Bewohner im Osten der Ukraine nicht einverstanden waren! Warum zieht sie es erst gar nicht in Erwägung, dass die russische Regierung befürchten musste, dass gewalttätige Anhänger der Aufständischen in Kiew auch in Richtung Krim unterwegs waren, dorthin, wo Russland einen wichtigen Flottenstützpunkt hat? Warum würdigt Frau Merkel mit keinem Wort, dass es dank russischer Truppen gelungen ist, eine gewaltsame Auseinandersetzung auf der Krim zu verhindern? Warum erwähnt sie nicht, dass eine überwältigende Mehrheit der Bewohner der Krim in einer Volksabstimmung für eine Unabhängigkeit von der Ukraine und für eine Mitgliedschaft in der Russischen Föderation gestimmt hat? Und so weiter und so fort.

… und in Syrien?

Und die Situation in Syrien und in Aleppo?
Warum erwähnt Frau Merkel nicht, wer den Krieg nach Syrien getragen hat und warum dieser Krieg im Jahr 2011 gerade nach Syrien getragen wurde? Es gibt gut belegte Antworten auf diese Fragen. Der Schweizer Daniele Ganser hat sie in seinem neuen Buch («Illegale Kriege») zusammengetragen. Auch im neuen Buch des Australiers Tim Anderson («Der schmutzige Krieg gegen Syrien») gibt es Antworten. Der deutsche Journalist Michael Lüders («Wer den Wind sät») ist diesen Fragen auch nachgegangen. Frau Merkel aber schweigt darüber. Warum geht sie nicht auf die Frage ein, woher die bisherigen Besatzer und gewalttätigen Eroberer von Ost-Aleppo das Recht genommen haben, dies zu tun, Gewalt anzuwenden und Staatsgewalt an sich zu reissen? Warum nicht auf die Frage, woher diese Kräfte ihre Waffen haben und wer sie immer weiter damit versorgt? Warum geht sie mit keinem Wort darauf ein, was wirklich in Aleppo und anderswo in Syrien passiert ist?
Jeder Krieg ist grauenhaft, und auch der Krieg um Aleppo ist grauenhaft. Niemand darf das beschönigen. Aber was tut denn Frau Merkel, um diesen Krieg zu beenden? Warum setzt sie sich nicht dafür ein, dass zuerst einmal alle diejenigen die Waffen niederlegen, die für den Waffengebrauch keinerlei Recht haben? Oder ist Frau Merkel unter die «Revolutionäre» gegangen, die nichts mehr von Legalität, Staatsgewalt und staatlichem Gewaltmonopol halten? Warum ist sie nach wie vor mit denen verbündet, die den Terrorismus im Nahen Osten seit Jahrzehnten fördern? Warum äussert sie sich nicht zu dem, was ihr Parteikollege Jürgen Todenhöfer in Erfahrung gebracht hat, als er vor ein paar Wochen mit einem Terroristen von al-Nusra in Ost-Aleppo gesprochen und das Interview im «Kölner Stadt-Anzeiger» am 26. September («Die Amerikaner stehen auf unserer Seite») veröffentlicht hat?
Und warum war Frau Merkel 2003 ganz offen für den Krieg gegen den Irak? Warum sagt sie kein Wort zu dem Grauen des dortigen Krieges? Warum nicht zumindest heute, wo sie die Verletzung des Völkerrechts beklagt, ein Wort des aufrechten Bedauerns über ihr damaliges Eintreten für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg? Und warum sagt sie mit keinem Wort etwas zu den andauernden verheerenden Folgen dieses Krieges?
Und so weiter und so fort.

Darum kann ich unserer Politik nicht mehr vertrauen!

George Orwell sah in der «Neusprache» ein Machtmittel des Engsoz – eines totalitären Staates im Krieg mit einer anderen Grossmacht. Auch heute geht es um viel mehr als Lügen, um mehr als moralisches Versagen.
Aber es geht auch darum, sich aufrecht hinzustellen. Frau Merkel ist kein «böser» Mensch. Frau Merkel und ihresgleichen können sich auch ändern. Aber wie ist das zu bewerkstelligen? Und zuerst: Wie sind sie und ihresgleichen zu stoppen? Wie ist zu erreichen, dass sie nach so vielen Jahren des ­politischen Versagens ihre politischen Ämter niederlegen müssen? Wie können sie ersetzt werden? Und wie soll statt dessen künftig regiert werden? Und so weiter und so fort.
Das sind Fragen für alle Deutschen, und es sind Menschheitsfragen. Allein mit Gegenmacht sagen die einen. Johann Wolfgang von Goethes «Iphigenie» hat etwas anderes vorgelebt: Entschlossene und unbeugsame Humanität hat Macht und Gewalt gestoppt und Humanität erwirkt. Ich kann nicht der Richter über den richtigen Weg sein. Nur, einfach so zuschauen ist unerträglich.

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1 Kommentar

  1. Das Gefühl der Krise ist allgegenwärtig, das Vertrauen in die Politik zerstört und die Demokratie geschwächt, die populistischen Stimmen werden immer lauter und es ist, als suchten immer mehr Menschen angesichts der Vielzahl und  Unübersichtlichkeit der Probleme nach Lösungen. Das Misstrauen gegenüber dem Volk hat in der Demokratie ja eine lange Tradition. Aber was ist eine demokratische Regierungsform schon wert, wenn sie ihr Volk für dumm hält? Ist es nicht so, dass gerade eine solch paternalistische Haltung das Anzeichen einer deformierten Demokratie ist, die den populistischen Protest erst recht hervorruft? Ist es denn nicht so, dass die meisten politischen Entscheidungen unter dem Einfluss massiver Propaganda getroffen werden und wir uns aus dieser Manipulation befreien müssen durch eine lebendige Gegenöffentlichkeit? Lassen wir dieses Indoktrinieren zu, ohne es zu kommunizieren, stabilisieren wir die Macht der Angst die uns und unser Urteilsvermögen schwächen soll. Wir wollen diese Zustände nicht hinnehmen.

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