Ich bekomme immer wieder Mails mit der Frage, warum ich behaupte, Selenskys Amtszeit als Präsident sei abgelaufen und er sei daher nicht mehr legitimer Präsident der Ukraine. Also will ich das erklären.
Quelle: anti-spiegel
Leser fragen mich per Mail immer wieder, warum ich behaupte, Selenskys Amtszeit als ukrainischer Präsident sei abgelaufen und er sei daher nicht mehr legitimer Präsident der Ukraine. Immerhin gibt es in Deutschland Juristen, die argumentieren, dass seine Amtszeit weiterläuft, wenn wegen der Verhängung des Kriegsrechts in der Ukraine keine Wahlen abgehalten werden können.
Allerdings berufen einige davon sich auf die ukrainischen Gesetze über das Kriegsrecht, die allerdings uninteressant sind, weil die ukrainische Verfassung die Amtszeiten von Parlament und Präsident regelt. Wie in jedem anderen Land der Welt braucht es eine verfassungsmäßige Mehrheit, um daran etwas zu ändern, eine gesetzgeberische Mehrheit ist zu wenig, weshalb solche wichtigen Bestimmungen in jedem Land der Welt in der Verfassung und nicht in Gesetzen geregelt sind
Schauen wir uns also die ukrainische Verfassung an. Um es gleich zu sagen: Ja, in der ukrainischen Verfassung steht nicht explizit, dass Selenskys Amtszeit abgelaufen ist. Aber aus den Artikeln 83, 103 und 112 geht es trotzdem klar hervor.
Selensky hat sein Amt als Staatsoberhaupt am 20. Mai 2019 angetreten. Gemäß der ukrainischen Verfassung hätten die nächsten Präsidentschaftswahlen am 31. März 2024 stattfinden und das neue Staatsoberhaupt am 20. Mai 2024 seinen Amtseid ablegen müssen. Aufgrund des Kriegsrechts und der allgemeinen Mobilmachung wurden die Wahlen jedoch abgesagt. Selensky selbst erklärte, dass jetzt „nicht der richtige Zeitpunkt“ sei, Wahlen abzuhalten.
Die Verfassung der Ukraine sieht im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts eine Verlängerung der Amtszeit vor, allerdings nur für das Parlament, also die Werchowna Rada. Über eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten steht nichts in der ukrainischen Verfassung.
Da die Verlängerung der Amtszeit des Parlaments im Falle des Kriegsrechts in der Verfassung explizit erwähnt ist, bedeutet die explizite Nicht-Erwähnung einer Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten, dass seine Amtszeit, wie in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben, fünf Jahre dauert und danach endet.
Während des Kriegsrechts finden in der Ukraine keine Wahlen statt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Amtszeit des Präsidenten verlängert wird, weil davon nichts in der ukrainischen Verfassung steht. Dort ist nur eine Verlängerung der Amtszeit des Parlaments festgeschrieben.
Artikel 112 der ukrainischen Verfassung besagt, dass die Machtbefugnisse des Präsidenten nach seinem Ausscheiden aus dem Amt auf den Parlamentspräsidenten übergehen. Darüber hinaus werden durch das Kriegsrecht die Befugnisse des Parlaments erweitert.
Übrigens ist die Ukraine keine Präsidialrepublik, sondern eine parlamentarisch-präsidentielle Republik, was bedeutet, dass die Macht laut Verfassung eigentlich bei der Rada und nicht beim Präsidenten liegt. Allerdings wurde das in der Praxis schon unter Präsident Poroschenko ausgehebelt, der sich sowohl die Geheimdienste als auch die Generalstaatsanwaltschaft unterstellt hat, indem er als deren Chefs Leute einsetzte, die ihm gegenüber loyal waren. Damit hatte Poroschenko die faktisch Macht in der Ukraine und konnte beispielsweise auch gegen widerspenstige Abgeordnete vorgehen und hat sich so de facto das Parlament untertan gemacht.
Der Generalstaatsanwalt wird beispielsweise von der Rada eingesetzt, in der Poroschenkos Partei seinerzeit eine Mehrheit für Poroschenkos Kandidat finden konnte. Und Selensky hat das System nach seiner Wahl 2019 einfach kopiert und Ende August 2019, bei der konstituierenden Sitzung der damals neu gewählten Rada, ebenfalls seine Getreuen auf die wichtigsten Positionen des ukrainischen Machtapparates gesetzt.
Dass durch diese Tricks faktisch der Präsident die ukrainische Politik bestimmt hat, war und ist gemäß ukrainischer Verfassung legal, widerspricht aber dem Geist der ukrainischen Verfassung, laut der – ähnlich wie in Deutschland – das Parlament die Macht im Staat hat und die Regierung wählt, die diese Macht ausübt. Die faktische Machtfülle, die Poroschenko und Selensky ausgeübt haben, ist in der ukrainischen Verfassung nicht vorgesehen, aber praktisch möglich.
Sowohl Poroschenko als auch Selensky haben dank diesen Maßnahmen die Politik der Ukraine bestimmt, weil sie dank der Herrschaft über Geheimdienste und Generalstaatsanwaltschaft die Macht hatten, gegen etwaige Abweichler vorzugehen. Und solche Skandale, bei denen der ukrainische Geheimdienst widerspenstige Abgeordnete überwacht hat und offensichtlich politisch motivierte Strafverfahren gegen widerspenstige Abgeordnete eingeleitet wurden, waren (und sind) in der Ukraine an der Tagesordnung.
Aber zurück zur Frage von Selenskys Legitimität.
Auch Dmitri Tabatschnyk, einer der Väter der ukrainischen Verfassung, hat erklärt, dass Selensky seit dem 20. Mai 2024 illegitimer Präsident ist. Er erklärte:
„Da ich die Normen der Verfassung kenne, kann ich sagen, dass gemäß Artikel 103 der Verfassung und der Erklärung des Verfassungsgerichts, die sehr klar erklärt, gilt: Die Amtszeit des Präsidenten wird ausschließlich durch die Artikel der Verfassung bestimmt. Man kann sagen, dass Selensky nach dem 20. Mai nicht mehr der legitime Staatschef der Ukraine ist. <…> Gemäß der Verfassung kann es keine andere Interpretation geben: Selensky ist ein illegitimer Staatschef der Ukraine, das ergibt sich eindeutig aus den Normen der Verfassung.“
Putin hat mehrmals erklärt, dass Russland aus diesem Grunde keinen Friedensvertrag mit Selensky unterschreiben wird, weil künftige ukrainische Regierungen zu Recht darauf verweisen könnten, dass Selensky dazu nicht berechtigt war, und den Friedensvertrag für nichtig erklären könnten. Aus diesem Grund fordert Russland Neuwahlen in der Ukraine, damit ein Friedensvertrag von einer unbestritten legitimen Regierung und einem unbestritten legitimen Präsidenten unterzeichnet werden kann.
Nun übersetze ich die entsprechenden Artikel der ukrainischen Verfassung, wobei ich die wichtigen Passagen fett gedruckt kenntlich mache.
In Artikel 83 wird festgelegt, dass die Amtszeit der Rada im Falle des Kriegsrechts verlängert wird.
Artikel 83
Die ordentlichen Sitzungen der Werchowna Rada der Ukraine beginnen am ersten Dienstag im Februar und der erste Dienstag im September jedes Jahres.
Außerordentliche Sitzungen der Werchowna Rada der Ukraine werden mit Angabe der Tagesordnung vom Vorsitzenden der Werchowna Rada der Ukraine auf Ersuchen des Präsidenten Ukraine oder auf Antrag von mindestens einem Drittel der Volksabgeordneten der verfassungsmäßigen Zusammensetzung der Werchowna Rada der Ukraine einberufen.
Im Falle der Bekanntgabe eines Dekrets des Präsidenten der Ukraine über die Einführung des Kriegsrechts oder Ausnahmezustands in der Ukraine oder ihren einzelnen Teilen wird die Werchowna Rada der Ukraine wird innerhalb von zwei Tagen ohne Einberufung zusammentreten.
Im Falle des Ablaufs der Amtszeit der Werchowna Rada der Ukraine während der Laufzeit des Kriegsrecht oder Ausnahmezustandes bleiben ihre Befugnisse bis zum ersten Tag der Sitzung der neugewählten Werchowna Rada, die nach der Aufhebung des Kriegsrechts oder Ausnahmezustands gewählt wurde, bestehen.
Das Verfahren für die Arbeit der Werchowna Rada der Ukraine wird durch die Verfassung der Ukraine und Vorschriften der Werchowna Rada der Ukraine festgelegt.
In der Werchowna Rada der Ukraine wird basierend auf den Ergebnissen der Wahlen und auf der Grundlage der Vereinbarung der politischen Positionen eine Koalition der Mehrheit der Parlamentsfraktionen der Volksabgeordneten der Ukraine gebildet.
Die Koalition der Parlamentsfraktionen in der Werchowna Rada der Ukraine wird im Laufe eines Monats nach der Eröffnung der ersten Sitzung der Werchowna Rada der Ukraine, die nach regulären oder außerordentlichen Wahlen zur Werchowna Rada der Ukraine gewählt wurde, oder innerhalb eines Monats ab dem Datum der Beendigung der Aktivitäten einer Koalition der Parlamentsfraktionen in der Werchowna Rada der Ukraine gebildet.
Die Koalition der Parlamentsfraktionen in der Werchowna Rada der Ukraine macht dem Präsidenten der Ukraine gemäß dieser Verfassung Vorschläge zur Kandidatur des Premierminister der Ukraine sowie in Übereinstimmung mit dieser Verfassung Vorschläge für Kandidaten für das Ministerkabinett der Ukraine.
Die Grundsätze der Gründung, der Organisation der Tätigkeit und der Beendigung der Tätigkeit von Koalitionen von Parlamentsfraktionen in der Werchowna Rada der Ukraine werden gemäß der Verfassung der Ukraine und der Geschäftsordnung der Werchowna Rada der Ukraine geregelt.
Eine parlamentarische Fraktion in der Werchowna Rada der Ukraine, zu der die Mehrheit der Volksabgeordneten der Ukraine aus der verfassungsmäßigen Zusammensetzung der Werchowna Rada der Ukraine gehören, hat das in dieser Verfassung vorgesehene Recht auf eine Koalition von Parlamentsfraktionen in der Werchowna Rada der Ukraine.
In Artikel 103, der die Wahl und Amtszeit des Präsidenten regelt, gibt es keine Bestimmung, die seine Amtszeit während des Kriegsrechts verlängert, sondern eine Festlegung der Amtszeit auf fünf Jahre.
Artikel 103
Der Präsident der Ukraine wird von den Bürgern auf der Grundlage allgemeiner, gleicher und direkter Wahlen bei geheimer Stimmabgabe für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt.
Zum Präsidenten der Ukraine kann ein Bürger der Ukraine gewählt werden, der das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet hat, das Wahlrecht besitzt, sich während der zehn Jahre vor dem Wahltag in der Ukraine aufgehalten hat und die Amtssprache beherrscht.
Ein und dieselbe Person darf nicht mehr als zwei Amtsperioden nacheinander Präsident der Ukraine sein.
Der Präsident der Ukraine darf kein anderes Vertretungsmandat haben, kein Amt in den Organen der Staatsgewalt und öffentlichen Vereinigungen bekleiden sowie keine andere besoldete Tätigkeit oder unternehmerische Tätigkeit ausüben und nicht Mitglied des Leitungsorgans oder Aufsichtsrates eines Unternehmens sein, dessen Zweck die Erzielung von Gewinn ist.
Die ordentliche Wahl des Präsidenten der Ukraine findet am letzten Sonntag im März des fünften Jahres der Amtszeit des Präsidenten der Ukraine statt. Im Falle der vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Präsidenten der Ukraine findet die Wahl des Präsidenten der Ukraine innerhalb von 90 Tagen nach dem Datum der Beendigung der Amtszeit statt.
Artikel 112 regelt, wer im Falle der vorzeitigen Beendigung einer Präsidentschaft die Amtsgeschäfte übernimmt.
Artikel 112
Im Falle einer vorzeitigen Beendigung der Befugnisse des Präsidenten der Ukraine gemäß den Artikeln 108, 109, 110 und 111 dieser Verfassung wird die Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ukraine für den Zeitraum bis zur Wahl und Amtseinführung des neuen Präsidenten der Ukraine dem Vorsitzenden der Werchowna Rada der Ukraine übertragen.
Der Vorsitzende der Werchowna Rada der Ukraine darf während der Ausübung seiner Pflichten als Präsident der Ukraine die in den Absätzen 2, 6–8, 10–13, 22, 24, 25, 27 und 28 des Artikels 106 der Verfassung der Ukraine vorgesehenen Befugnisse nicht ausüben.
Die Schwäche der ukrainischen Verfassung besteht darin, dass sie nicht explizit erwähnt, wer die Amtsgeschäfte des Präsidenten übernimmt, wenn seine Amtszeit während des Kriegsrechts endet, während Neuwahlen nicht vorgesehen sind. Man geht daher davon aus, dass Artikel 112 entsprechend gilt und der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte übernimmt.
Diese Schwäche der ukrainischen Verfassung kann allerdings kaum so interpretiert werden, dass die Amtszeit des Präsidenten in diesem Falle weiterläuft, weil die Verfassung seine Amtszeit klar auf fünf Jahre festlegt und im Gegensatz zum Parlament keine Verlängerung während des Kriegsrechts vorsieht.
Aber selbst, wenn man das anders interpretieren sollte, zeigt diese Schwäche der ukrainischen Verfassung, dass die Frage der Legitimität von Selensky als Präsident mindestens umstritten ist, weshalb Russlands Position, einen Friedensvertrag nur mit einer unbestritten legitimen Regierung und einem unbestritten legitimen Präsidenten der Ukraine abzuschließen, mehr als begründet ist.
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