
Von Pepe Escobar (free21)
Warten auf die Oreshniks,
während das Istanbuler Kabuki Theater „nicht negativ“ weitergeht
Das war die Stimmung in informierten Kreisen in Moskau – nur wenige Stunden vor dem erneuten Kabuki-Theater in Istanbul zu den „Verhandlungen“ zwischen Russland und der Ukraine. Drei wichtige Punkte.
- Der Angriff auf russische strategische Bomber – Teil der nuklearen Triade – war eine gemeinsame Operation der USA und Großbritanniens. Insbesondere des MI6. Die gesamten technischen Investitionen und die Strategie wurden von diesem Geheimdienst-Duo bereitgestellt.
- Es ist völlig unklar, ob Trump wirklich das Sagen hat – oder nicht. Dies wurde mir gestern Abend von einer hochrangigen Quelle aus dem Geheimdienst bestätigt; er fügte hinzu, dass der Kreml und die Sicherheitsdienste alle Möglichkeiten aktiv untersuchen – insbesondere, wer die endgültige Freigabe erteilt habe.
- Nahezu allgemeiner Konsens: Entfesselt die Oreshniks. Und dazu noch eine Welle ballistischer Raketen.
Wie zu erwarten war, kam und ging das Kabuki-Theater in Istanbul wie ein billiges Spektakel. Die ukrainischen Delegation erschien komplett in Militäruniformen und Verteidigungsminister Umarov konnte nach dem kurzen Treffen von einer Stunde und 15 Minuten auf einer chaotischen Pressekonferenz nicht einmal mittelmäßiges Englisch sprechen. Das türkische Außenministerium beschrieb das Kabuki-Theater episch als „nicht negativ“ zu Ende gegangen.
Es wurde nichts Strategisches oder politisch Wesentliches besprochen: nur Gefangenenaustausche. In Moskau herrschte zudem die Meinung, dass der russische Verhandlungsführer Medinsky ein Ultimatum hätte stellen sollen, nicht ein Memorandum. Dies wurde, wie zu erwarten war, vom Bettler von Banderastan als Ultimatum interpretiert; tatsächlich aber überreichte Medinsky den Ukrainern ein de facto Roadmap-Memorandum in drei Abschnitten mit zwei Optionen für die Bedingungen eines Waffenstillstands und 31 Punkten, von denen viele bereits seit Monaten von Moskau detailliert dargelegt worden waren.
Beispiele: Die erste Option für einen Waffenstillstand sollte ein vollständiger Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus der DVR (Donezker Volksrepublik), der LVR (Lugansker Volksrepublik), Cherson und Saporischschja innerhalb von 30 Tagen sein; die internationale Anerkennung der Krim, des Donbass und Noworossija als Teil Russlands; die Neutralität der Ukraine; die Abhaltung von Wahlen in der Ukraine und die anschließende Unterzeichnung eines Friedensvertrags, der durch eine rechtsverbindliche Resolution des UN-Sicherheitsrats (Hervorhebung von mir) gebilligt wird; sowie ein Verbot der Aufnahme und Stationierung von Atomwaffen.
All das wird natürlich niemals von den Terroristen in Kiew, den sie kontrollierenden Neonazi-Gruppen und den verschiedenen, zersplitterten, kriegstreiberischen Unterstützern des Westens akzeptiert werden. Die SMO (Spezielle Militäroperation) wird also weitergehen. Möglicherweise bis 2026. Zusammen mit weiteren Versionen des Istanbul-Kabuki Theaters: Das nächste Treffen dürfte Ende Juni stattfinden.
Das aktuelle Kabuki-Theater ist übrigens die letzte Chance für Kiew, ein gewisses Maß an – zerbrechlicher – „Souveränität“ zu bewahren. Wie Außenminister Lawrow wiederholt betont hat, wird alles auf dem Schlachtfeld entschieden werden.
Wie man den New START-Vertrag zerstört
Nun zum Angriff auf einen Zweig der strategischen Triade Russlands – der die westlichen Propagandamedien in eine stratosphärische Hysterie versetzte.
Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, warum Russland seine strategischen Bomber ungeschützt auf dem Rollfeld stehen ließ. Weil dies eine Auflage des New-START-Vertrags ist, der 2010 unterzeichnet und bis Februar nächsten Jahres verlängert wurde (wo er angesichts der jüngsten Ereignisse wohl begraben werden kann).
Der New START-Vertrag sieht vor, dass strategische Bomber für „nationale technische Verifizierungsmittel (NTM) wie Satellitenbilder sichtbar sein müssen, um eine Überwachung durch die andere Vertragspartei zu ermöglichen“. Ihr Status – ob mit Atomwaffen bestückt oder für konventionelle Zwecke umgerüstet – sollte also jederzeit überprüfbar sein. Eine „Überraschung“ durch einen Erstschlag soll somit ausgeschlossen werden.
Diese Operation hat im Alleingang etwas zerstört, was bis jetzt ein ehrbares Relikt des Kalten Krieges war und durch einen einfachen Mechanismus den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert hat. Die dabei an den Tag gelegte Rücksichtslosigkeit ist unfassbar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die höchsten Machtkreise Russlands – vom Kreml bis zum Sicherheitsapparat – fieberhaft daran arbeiten, herauszufinden, ob Trump eingeweiht war oder nicht. Und wenn nicht, wer hat dann die endgültige Entscheidung getroffen?
Kein Wunder, dass die oberste Führungsebene bislang schweigt.
Eine Quelle aus Sicherheitskreisen teilte mir mit, dass es US-Außenminister Marco Rubio war, der Lawrow angerufen hat – und nicht umgekehrt –, um sein Beileid für den Terroranschlag auf die Eisenbahnbrücke in Brjansk auszudrücken. Die strategischen Bomber wurden mit keinem Wort erwähnt. Parallel dazu verfolgte der ehemalige Platoon-Kommandeur im Irak, der dann Fox-News-Kommentator und schließlich Chef des Pentagon wurde, die Drohnenangriffe auf die russischen Stützpunkte in Echtzeit (Gemeint ist US-Verteidigungsminister Pete Hegseth, Anm. d. Red.).
Zur Wirksamkeit solcher Angriffe – jenseits der fröhlich verbreiteten Kriegspropaganda: Mehrere widersprüchliche Schätzungen deuten darauf hin, dass möglicherweise drei strategische Bomber vom Typ Tu-95MS – bekannt als „The Bears“ – auf der Belaya-Basis in Irkutsk getroffen wurden, wobei einer davon teilweise beschädigt wurde, sowie drei weitere T-22M3, von denen zwei irreparabel beschädigt wurden. Bei den drei Tu-95MS scheint das Feuer lokal begrenzt gewesen zu sein, sodass sie möglicherweise repariert werden können.
Auf dem Stützpunkt Olenya in Murmansk wurden möglicherweise vier weitere Tu-95MS sowie eine An-12 getroffen.
Bis zum vergangenen Wochenende verfügte Russland über 58 Tu-95MS. Selbst wenn fünf davon endgültig verloren sind, sind das weniger als 10% ihrer Flotte. Und dabei sind 19 Tu-160 und 55 Tu-22M3M noch nicht einmal mitgezählt. Von den fünf Stützpunkten, die angegriffen werden sollten, waren die Attacken nur bei zwei erfolgreich.
Diese Verluste – so schmerzhaft sie auch sein mögen – werden weitere Angriffe der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte nicht beeinträchtigen.
Beispiel: Die Standardwaffe einer T-95MSM ist der Marschflugkörper X-101. Maximal 8 pro Einsatz. Bei den jüngsten Angriffen wurden nicht mehr als 40 Raketen gleichzeitig abgefeuert. Das bedeutet, dass nur 6 Tu-95 im Einsatz waren. Russland benötigt also tatsächlich nur 6 flugbereite Tu-95MSM, um Angriffe in derselben Intensität wie in den vergangenen Tagen und Wochen durchzuführen. Tu-160 werden bei den jüngsten Angriffen darüber hinaus gar nicht eingesetzt.
Evaluierung der Maximalstrategie
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels ist die unvermeidbare, verheerende Reaktion Russlands noch nicht genehmigt worden. Die Lage ist äußerst ernst. Selbst wenn es stimmt, dass der US-Präsident nicht informiert wurde – und das wollen der Kreml und die Sicherheitsdienste unbedingt sicherstellen, bevor sie die Hölle auf Kiew niederregnen lassen –, sind die Konturen einer NATO-Operation – USA/Großbritannien – unter direkter Leitung des Geheimdienstduos CIA/MI6 klar erkennbar, wobei Trump eine plausible Ausrede angeboten wird und die Ukraine massiv gegen das START-Protokoll verstößt.
Hätte Trump diese Angriffe genehmigt, wäre dies nichts weniger als eine Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an Russland gewesen. Das wahrscheinlichste Szenario bleibt also, dass Trump von den Neokonservativen, die sich in privilegierten Bunkern verstreut über den Beltway aufhalten, überrumpelt wurde.
Genauso wie der Angriff auf das Frühwarnradarsystem Woronesch-M im Mai letzten Jahres passt ein Angriff auf Russlands strategische Bomber in das Szenario, das russische System zunehmend anzugreifen, um es vor einem nuklearen Erstschlag außer Gefecht zu setzen. Angehende Dr. Strangeloves spielen seit Jahrzehnten in ihren wildesten Träumen mit diesem Szenario.
Wie aus zuverlässigen Quellen bestätigt wurde, herrscht in den höchsten Machtkreisen Russlands die Auffassung vor, dass es sich um eine PR-Aktion handelt, die eine harte – möglicherweise nukleare – Reaktion Russlands erzwingen sollte, verbunden mit dem Rückzug Moskaus aus dem Istanbuler Kabuki-Theater.
Bislang reagiert Russland recht methodisch: mit totalem Schweigen, einer umfassenden Untersuchung und der Teilnahme an der Prozedur in Istanbul.
Es steht jedoch außer Frage, dass die – unvermeidliche – Reaktion eine maximale Strategie erfordern wird. Wenn die Reaktion im Einklang mit Russlands eigener aktualisierter Nukleardoktrin steht, riskiert Moskau, die fast einstimmige Unterstützung des Globalen Südens zu verlieren.
Wenn die Reaktion verhalten ausfällt, wird es zu massiven innenpolitischen Gegenreaktionen kommen. Es herrscht nahezu Einigkeit darüber, dass „die Oreshniks entfesselt werden müssen“. Die russische Öffentlichkeit hat es satt, Zielscheibe wiederholter Terroranschläge zu sein. Die Stunde der Entscheidung rückt näher.
Das bringt uns zum ultimativen Dilemma. Die russische Führung überlegt, wie sie den kriegstreiberischen Westen besiegen kann, ohne einen Dritten Weltkrieg auszulösen. Inspiriert von China könnte eine Lösung in einer Allianz aus einem Remix von Sun Tzu und Lao Tze liegen. Es muss einen Weg – oder mehrere Wege – geben, um die Fähigkeit und den Willen eines strategielosen, nihilistischen Feindes zu zerstören, einen endlosen Krieg zu führen.
Dieser Text wurde zuerst am 03.06.2025 auf www.strategic-culture.su unter der URL <https://strategic-culture.su/news/2025/06/03/waiting-for-oreshniks-while-istanbul-kabuki-proceeds-not-negatively/> veröffentlicht. Lizenz: Pepe Escobar, Strategic Culture, CC BY-NC-ND 4.0
Autor: Pepe Escobar
der aus Brasilien stammt, ist unabhängiger geopolitischer Analsyt und war Korrespondent für die Asia Times sowie als Analyst für The Real News tätig. Seit Mitte der 80iger Jahre lebte und arbeitete er als Auslandskorrespondent in London, Paris, Mailand, Los Angeles sowie Singapur/Bangkok. Seit dem 11.9.2001 hat er sich umfassend mit den Regionen Pakistan, Afghanistan, Zentralasien, China, Iran, Irak und dem weiteren mittleren Osten beschäftigt.
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