Ukraine: «Kritik an der US/Nato-Politik wird extrem zensuriert»

Glenn Greenwald WRAP
Investigativjournalist Glenn Greenwald © WRAP

Glenn Greenwald (infosperber)

Man dürfe kaum fragen, wer vom Stellvertreterkrieg profitiert und wer den Preis dafür zahlt, meint der Journalist Glenn Greenwald.

upg. Wenn Krieg herrscht, sehen sich Medien manchmal plumper und häufig ausgeklügelter Propaganda und Falschinformationen gegenüber. Das fängt bei der Wortwahl an und hört mit verdeckten Operationen und (auch militärischen) Täuschungsmanövern auf. Entsprechend vorsichtig und stets mit genauen Quellenangaben sollten Medien berichten – und zwar über Angaben und Handlungen aller Seiten. Zum Propagandakrieg gehört auch, Informationen der Gegenseite zu unterdrücken und unerwünschte Stimmen zu diffamieren. Infosperber geht davon aus, dass seine Leserinnen und Leser die Berichte grosser Medien bereits kennen. Die meisten schätzen es, dass wir ergänzend Beiträge wie diesen von Glenn Greenwald* übernehmen und zur Diskussion stellen.

Umfassendes Zensurregime westlicher Staaten und Konzerne

Wenn man Nachrichten, Informationen oder Perspektiven erfahren möchte, die der vorherrschenden Sichtweise der USA/Nato auf den Krieg in der Ukraine widersprechen, muss man gründlich suchen. [Red. Über Satelliten und Kabelfernsehen ist der staatliche Fernsehsender RT nicht mehr zu empfangen. Nur im Internet.] Und es gibt keine Garantie, dass diese Suche erfolgreich sein wird. Das liegt daran, dass das Zensurregime von Staaten und Konzernen, das im Westen in Bezug auf diesen Krieg eingeführt wurde, atemberaubend schnell und weitreichend ist.

Nahezu täglich werden Nachrichtenagenturen, unabhängige Plattformen und einzelne Bürger, die sich nicht an die Regeln hält, aus dem Internet verbannt. Anfang März, kaum eine Woche nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, verbot die Europäische Union unter Berufung auf «Desinformation» und «öffentliche Ordnung und Sicherheit», die staatlichen russischen Nachrichtensender RT und Sputnik in Europa zu empfangen. In einem, wie Reuters es nannte, «beispiellosen Schritt» wurden alle Fernseh- und Online-Plattformen per Gesetz von der Ausstrahlung von Inhalten dieser beiden Sender ausgeschlossen.

Schon vor dieser staatlichen Zensuranweisung hatten Facebook und Google diese Sender verboten, und Twitter kündigte sofort an, dies ebenfalls zu tun, um dem neuen EU-Gesetz zu entsprechen.

Doch was «beispiellos» war, ist inzwischen alltäglich, ja sogar normal geworden. Jede Plattform, die sich dem Angebot von Nachrichten oder alternativen Perspektiven widmet, welche für die Nato unbequem sind, hat garantiert eine sehr kurze Lebenserwartung. Weniger als zwei Wochen nach dem EU-Beschluss kündigte Google an, alle mit Russland verbundenen Medien weltweit freiwillig zu verbieten, was bedeutet, dass US-Amerikaner und alle anderen Nichteuropäer nun nicht mehr in der Lage sind, diese Kanäle auf YouTube zu sehen, wenn sie dies wünschen.

Dieses Zensurregime ist so produktiv, dass es praktisch unmöglich ist, zu zählen, wie viele Plattformen, Agenturen und Einzelpersonen wegen des «Verbrechens» der Äusserung von Ansichten, die als «pro-russisch» gelten, verbannt wurden. Unterdessen verbannte Twitter, wie üblich ohne Erklärung, plötzlich einen der informativsten, zuverlässigsten und sorgfältigsten Dissidenten-Accounts namens «Russians With Attitude». Der Account wurde Ende 2020 von zwei englischsprachigen Russen gegründet und ist seit Beginn des Krieges in seiner Popularität geradezu explodiert: von etwa 20‘000 Followern vor der Invasion auf mehr als 125‘000 Follower zum Zeitpunkt der Sperrung durch Twitter. Ein dazugehöriger Podcast mit demselben Namen erfreute sich ebenfalls grosser Beliebtheit und kann, zumindest derzeit, noch auf Patreon gehört werden

Ein Informationsbedarf wäre vorhanden

Im Westen gibt es einen klaren, nachweisbaren Hunger nach Nachrichten und Informationen, die von westlichen Nachrichtenquellen verbannt werden. Das räumte die Washington Post ein, als sie über das «beispiellose» Verbot von RTSputnik und anderen russischen Nachrichtenquellen durch Big Tech berichtete: «In den ersten vier Tagen der russischen Invasion in der Ukraine stiegen die Zuschauerzahlen von mehr als einem Dutzend staatlich unterstützter russischer Propagandakanäle auf YouTube auf ein ungewöhnlich hohes Niveau.»

Man beachte, dass dieses Zensurregime einseitig und, wie üblich, ganz auf die US-Aussenpolitik abgestimmt ist. Westliche Nachrichtenagenturen und Social Media wurden seit Beginn des Krieges mit pro-ukrainischer Propaganda und Lügen überschwemmt. Ein Artikel der New York Times von Anfang März brachte es in seiner Überschrift sehr treffend auf den Punkt: «Fakten und Mythenbildung vermischen sich im Informationskrieg der Ukraine»Axios erkannte diese Tatsache mit ähnlichem Understatement an: «Ukraine misinformation is spreading – and not just from Russia.»

Mitglieder des US-Kongresses verbreiteten schadenfroh Fälschungen, die sich bei Millionen von Menschen viral verbreiteten, ohne dass zensurfreudige Unternehmen aus dem Silicon Valley etwas dagegen unternommen hätten. Das ist keine Überraschung: Alle Kriegsteilnehmer nutzen Desinformation und Propaganda, um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu manipulieren, und das schliesst sicherlich alle direkten und stellvertretenden Kriegsteilnehmer im Krieg in der Ukraine ein.

Die Zensur und das Faktenchecking gehen nur in eine Richtung

Dennoch werden pro-ukrainische Desinformationen, Propaganda und Lügen kaum bis gar nicht zensiert – weder von westlichen Staaten noch von Monopolen im Silicon Valley. Die Zensur und das Faktenchecking gehen nur in eine Richtung: alle Stimmen zum Schweigen zu bringen, die als «pro-russisch» gelten, unabhängig davon, ob sie Desinformationen verbreiten. Der Twitter-Account «Russians With Attitude» wurde zum Teil populär, weil er manchmal Russland kritisierte, zum Teil, weil er vorsichtiger mit Fakten und viralen Behauptungen umging als die meisten US-Medienkonzerne, und zum Teil, weil es so wenige Medien gibt, die bereit sind, Informationen anzubieten, die das untergraben, was die US-Regierung und die Nato uns über den Krieg glauben machen wollen.

Ihr Vergehen, wie das Vergehen so vieler anderer verbannter Berichte, war nicht Desinformation, sondern Skepsis gegenüber der US/Nato-Propagandakampagne. Anders ausgedrückt: Es ist nicht «Desinformation», sondern eher eine falsche Sichtweise, die zum Schweigen gebracht werden soll.

Man kann so viele Lügen und so viele Desinformationen verbreiten, wie man will, solange sie dazu dienen, die Nato-Agenda in der Ukraine voranzubringen. Was man jedoch nicht tun kann, ist, den Nato/Ukraine-Propagandarahmen in Frage zu stellen, ohne ein sehr hohes Risiko der Verbannung einzugehen.

Es ist nicht überraschend, dass die Konzerne des Silicon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopolisten wie Google und Amazon suchen und erhalten routinemässig äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsstaat, einschliesslich der CIA und der NSA.

«Abweichler» werden verunglimpft

Aber eine Frage bleibt: Warum ist es so dringend notwendig, die wenigen abweichenden Stimmen zum Krieg in der Ukraine zum Schweigen zu bringen? Dieser Krieg hat die etablierten Flügel beider US-Parteien und praktisch die gesamten Medien in einem Gleichschritt vereint, wie es ihn seit den Tagen und Wochen nach dem 11. September nicht mehr gegeben hat. Man kann die Zahl der prominenten Persönlichkeiten aus Politik und Medien, die bereit waren, auch nur geringfügig von diesem parteiübergreifenden Konsens in Washington abzuweichen, an beiden Händen abzählen – eine Abweichung, die sofort Verunglimpfungen in Form von Angriffen auf den eigenen Patriotismus und die eigene Loyalität nach sich zieht.

Warum hat man solche Angst davor, diese isolierten und dämonisierten Stimmen überhaupt zu Wort kommen zu lassen?

Profiteure sind die Machtzentren in den USA

Die Antwort scheint klar zu sein. Die Vorteile dieses Krieges für mehrere wichtige Machtzentren in Washington kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Die Milliarden von Dollar an Hilfsgeldern und Waffen, die von den USA an die Ukraine geschickt werden, fliessen so schnell und scheinbar wahllos, dass es schwierig ist, sie zu verfolgen. «Biden bewilligt 350 Millionen Dollar Militärhilfe für die Ukraine», meldete Reuters am 26. Februar; «Biden kündigt 800 Millionen Dollar Militärhilfe für die Ukraine an», meldete die New York Times am 16. März; am 30. März lautete die Schlagzeile von NBC: «Biden kündigt an, dass die Ukraine zusätzliche 500 Millionen Dollar an Hilfe von den USA erhält»; Reuters meldete: «Die USA kündigen weitere 750 Millionen Dollar an Waffen für die Ukraine an, sagen Beamte». Absichtlich haben diese gigantischen Zahlen längst jede Bedeutung verloren und rufen kaum noch Fragen, geschweige denn Einwände hervor.

Es ist offensichtlich, wer von dieser Orgie der Militärausgaben profitiert. Reuters berichtete, dass «das Pentagon am Mittwoch führende Vertreter der acht grössten US-Waffenhersteller einlädt, um die Fähigkeit der Industrie zu erörtern, den Waffenbedarf der Ukraine zu decken, falls der Krieg mit Russland Jahre dauern sollte». Zu den Teilnehmern dieses Treffens, bei dem es um die Notwendigkeit geht, die Waffenproduktion für den Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu erhöhen, gehört auch der Konzern Raytheon, der sich glücklich schätzen kann, den pensionierten General Lloyd Austin als Verteidigungsminister zu haben. In diese Position war er  aus dem Raytheon-Vorstand aufgestiegen.

Es ist praktisch unmöglich, sich ein Ereignis vorzustellen, das für die Waffenindustrie günstiger ist als dieser Krieg in der Ukraine:

  • Die Nachfrage nach Waffen ist in die Höhe geschnellt, nachdem die russische Invasion am 24. Februar Waffenlieferungen der USA und ihrer Verbündeten an die Ukraine auslöste. Es wird erwartet, dass bei dem erwähnten Treffen sowohl die Versorgung als auch die Planung für einen längeren Krieg diskutiert werden, sagten die Quellen gegenüber Reuters unter der Bedingung der Anonymität.
  • Es wird erwartet, dass bei dem Treffen sowohl Nachschub als auch die Planung für einen längeren Krieg besprochen werden. Das Weisse Haus teilte mit, dass es seit der Invasion mehr als 1,7 Milliarden Dollar an Sicherheitsunterstützung für die Ukraine bereitgestellt hat, darunter über 5‘000 Panzerabwehr-Lenkwaffen Javelins vom Konzern Lockheed Martin und mehr als 1‘400 Flugabwehrraketen Stingers vom Konzern Raytheon.

Auftrieb für die Kriegstreiberbande der Nation

Diese permanente Machtfraktion [der militärisch-industrielle Komplex] ist bei weitem nicht die einzige, die vom Krieg in der Ukraine profitiert und deren Gewinne umso höher ausfallen, je länger der Krieg dauert. Die Lobbys des US-Sicherheitsstaates, der Neokonservativen der Demokratischen Partei und ihrer Medienverbündeten haben sich seit den glorreichen Tagen von 2002 nicht mehr so gut entwickelt. Chris Hayes, einer der lautstärksten Befürworter der Demokraten auf dem TV-Sender MSNBC, schwärmte, dass der Krieg in der Ukraine den Glauben und das Vertrauen in die CIA und die Geheimdienstgemeinschaft mehr als jedes andere Ereignis der letzten Zeit wiederbelebt habe – und das zu Recht, wie er sagte: «Die letzten Wochen waren für die US-Geheimdienste wie der Irak-Krieg in umgekehrter Form.»

Man kann kaum eine Mainstream-Zeitung lesen oder einen Nachrichtensender sehen, ohne dass die extremste Kriegstreiberbande der Nation, die Neocons – David Frum, Bill Kristol, Liz Cheney, Wesley Clark, Anne Applebaum, Adam Kinzinger – als weise Experten und heldenhafte Krieger für die Freiheit gefeiert werden.

Dieser Krieg dient sehr gut der permanenten politischen und medialen Klasse in Washington. Und obwohl es wochenlang ein Tabu war, dies auszusprechen, ist es jetzt mehr als klar, dass das einzige Ziel, das die USA und ihre Verbündeten in Bezug auf den Krieg in der Ukraine verfolgen, darin besteht, ihn so lange wie möglich hinauszuzögern. Es gibt nicht nur keine ernsthaften diplomatischen Bemühungen der USA, den Krieg zu beenden, sondern das Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass dies nicht geschieht. Das sagen sie jetzt ausdrücklich, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum.

Kriegsziel: Von der «Verteidigung der Ukraine» zur «Schwächung Russlands»

Red. Trita Parsi, Mitbegründer und Executive Vice President des Quincy Institute for Responsible Statecraft, schrieb am 6. Mai:
Bidens Andeutungen eines Regimewechsels am 26. März («Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben»), die Aussage am 20. April der Pressesprecherin des Weissen Hauses, Jen Psaki, die USA strebten eine strategische Niederlage Russlands an, oder die Aussage Verteidigungsministers Lloyd Austin, das Ziel der USA sei es, «Russland zu schwächen» und zu bestrafen, um es der Fähigkeit zu berauben, in andere Länder einzumarschieren, … sind eine gefährliche Entwicklung, an deren Ende eine direkte Konfrontation mit dem atomar bewaffneten Russland steht.

Die Vorteile eines endlosen Kampfes in der Ukraine sind ebenso immens wie offensichtlich. Der Militärhaushalt schiesst in die Höhe. Die Erzfeinde Russland und Putin werden bestraft. Sie bleiben in einen Krieg verwickelt, unter dem die Ukrainer am meisten leiden.

*Glenn Greenwald

Der Journalist Glenn Greenwald war Verfassungsrechtler und ist Autor von vier New York Times-Bestsellern zu Politik und Recht. Er erhielt den Online Journalism Award 2010 für seine investigative Arbeit, mit der er über die missbräuchlichen Haftbedingungen von Chelsea Manning berichtete. Für seine NSA-Reportage aus dem Jahr 2013, bei der er mit seiner Quelle Edward Snowden zusammenarbeitete, erhielt er den George Polk Award for National Security Reporting. Die von ihm geleitete NSA-Berichterstattung für The Guardian wurde 2014 mit dem Pulitzer-Preis für öffentliche Dienstleistungen ausgezeichnet. Im Jahr 2019 erhielt er den Sonderpreis des Vladimir-Herzog-Instituts für seine Berichterstattung über die Regierung Bolsonaro und die allgegenwärtige Korruption innerhalb der Staatsanwaltschaft, die zur Inhaftierung des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva führte. Im Oktober 2020 trat er bei The Intercept zurück, um sich wieder dem unabhängigen Journalismus zu widmen. Seither kann man Greenwalds Beiträge auf Substack abonnieren.

Dieser Artikel erschien auf Substack.com.

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1 Kommentar

  1. Um sich wirtschaftlich über Wasser zu halten, braucht die Ukraine in den nächsten drei Monaten rund 15 Milliarden Euro, also fünf Milliarden Euro im Monat. Damit sollen etwa Renten bezahlt, die Versorgung der Binnenflüchtlinge sichergestellt oder andere kriegsbedingte Kosten beglichen werden. Die USA haben sich verpflichtet, für ein Drittel des Finanzbedarfs der Ukraine in den kommenden drei Monaten aufzukommen, und die restlichen zwei Drittel wird nach einem Bericht des Magazins „Politico“ die Europäische Union übernehmen.

    Wie „Politico“ unter Berufung auf Diplomaten schreibt, plant die EU-Kommission das Geld für Kiew in Form von gemeinsamen EU-Schulden aufzubringen. Für die von der Europäischen Kommission aufgenommenen Schulden sollen dann die Mitgliedstaaten garantieren. „Das ähnelt dem sogenannten SURE-Programm, das während der Pandemie verwendet wurde, um Mittel für Kurzzeitarbeitslose zu sammeln, sagten die Diplomaten“, berichtet „Politico“. Damals verlangte die Kommission Garantien in Höhe von 25 Milliarden Euro, um 100 Milliarden Euro aufzubringen.

    Das Vorhaben der EU-Kommission ist nicht unumstritten. Denn einige Länder, darunter Deutschland, Österreich und Griechenland, forderten die Kommission auf, vor der Vorlage ihres Plans am 18. Mai alternative Finanzierungsoptionen bereitzustellen. Jedenfalls will die französische Präsidentschaft die Angelegenheit Ende Mai zur Diskussion stellen, damit die Staats- und Regierungschefs sie erörtern können.

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