Steinmeiers Kriegsrede im Vergleich zu Putins ausgestreckter Hand

Der Unterschied

Bundespräsident Steinmeier hat eine wahre Kriegsrede gehalten, die zeigt, worin der Unterschied zwischen der deutschen und der russischen Politik liegt.

Quelle: anti-spiegel

Bundespräsident Steinmeier und der russische Präsident Putin haben jeder eine ausführliche Rede zur nationalen und internationalen politischen und wirtschaftlichen Lage gehalten. Wer die Zeit investieren kann und will, dem rate ich, beide Reden aufmerksam zu lesen. Die Rede von Putin habe ich übersetzt, Sie können Sie hier finden. Die Rede von Steinmeier finden Sie hier sowohl im Video als auch zum Nachlesen.

Putin hat in seiner Rede klar zwischen der Politik des Westens und den Menschen im Westen getrennt, er hat den Menschen im Westen sogar ausdrücklich die Hand ausgestreckt. Putin hat die Politik des Westens kritisiert, er hat aber auch ausdrücklich zum Dialog und zur Suche von für beide Seiten akzeptablen Kompromissen aufgefordert. In seiner Rede hat Putin den russischen Standpunkt erklärt, er ist auf wirtschaftliche Zusammenhänge eingegangen und hat die geopolitischen Interessen der Kontrahenten verständlich dargelegt. Man muss nicht Putins Meinung sein, aber Putin hat Standpunkte genannt, über die man diskutieren kann. Es war, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, eine konstruktive Rede. Es war ein Gesprächsangebot zur Suche einer Lösung, um das Blutvergießen zu beenden.

Steinmeiers Kriegsrede

Steinmeiers Rede hingegen erinnert an „Blut und Tränen Reden“ des Zweiten Weltkriegs. Die Rede war emotional anstatt sachlich. Steinmeier hat versucht, die Menschen zu emotionalisieren, also sie aufzuhetzen, er hat ausdrücklich zum Kampf gegen alles Russische aufgerufen, wenn er zum Beispiel gesagt hat:

„Aber wenn wir auf das Russland von heute schauen, dann ist eben kein Platz für alte Träume. Unsere Länder stehen heute gegeneinander.“

Steinmeier und andere westliche Politiker machen keinen Unterschied zwischen den einfachen Menschen in Russland und ihrer Regierung. Manche tun das zwar noch in Worten, aber die getroffenen Maßnahmen (zum Beispiel das faktische Einreiseverbot für Russen in die EU) und die verkündeten Ziele, Russlands Wirtschaft zu zerschlagen (was für die Menschen in Russland eine Verelendung bedeuten würde), sprechen eine deutliche Sprache. Der Westen hat den (Wirtschafts-)Krieg nicht der russischen Regierung erklärt, sondern jedem einzelnen Menschen in Russland.

Steinmeier hat das in seiner Rede bestätigt. Wer Steinmeiers Rede gelesen oder gehört hat, der findet darin keinen Hinweis auf den Wunsch, eine Lösung am Verhandlungstisch zu suchen. Und es findet sich auch ausdrücklich kein Wort darin, das zeigen würde, dass Steinmeier sich um die einfachen Menschen in Russland sorgen würde.

Im Gegenteil: Steinmeier schwört die Deutschen in seiner Rede auf schwere Zeiten, auf Verzicht, auf Leid und Verarmung ein – alles mit dem Ziel, Russland zu schaden. Viele Formulierungen erinnern in beängstigender Weise an berühmte Durchhalteparolen, die wir in Geschichtsbüchern über den Zweiten Weltkrieg finden können.

Der Unterschied zwischen den beiden Reden könnte nicht deutlicher sein: Auf der einen Seite eine sachliche Rede, die Standpunkte, wirtschaftliche Zusammenhänge und geopolitische Interessen erklärt und zur Suche nach Lösungen und Kompromissen aufruft. Auf der anderen Seite eine Kriegsrede ohne jeden Hinweis auf den Wunsch nach einer friedlichen Lösung, dafür aber voll von Formulierungen, die zu Krieg, Verzicht, Waffenlieferungen und Kompromisslosigkeit aufrufen.

Lesen und vergleichen Sie die Reden selbst und überprüfen Sie, ob Sie meine Einschätzung teilen!

Steinmeier hat den Konflikt (mit) zu verantworten

Dass ausgerechnet Steinmeier eine solche Rede gehalten hat, ist bemerkenswert, denn er erinnert in seiner Rede mit keinem Wort an seine eigene Rolle in diesem Krieg zwischen Ost und West, als dessen Schauplatz und Instrument der Westen – unter ausdrücklicher Mitwirkung von Steinmeier – die Ukraine ausgewählt hat. Da viele die Rolle von Steinmeier gar nicht kennen, will ich aus Anlass seiner Rede noch einmal daran erinnern.

Der aktuelle Krieg hat seine Wurzeln im Maidan 2014. Ich werde im Anschluss an diese Ausführungen die entsprechenden Kapitel aus meinem Buch über die Ukraine-Krise 2014 zitieren, in denen die Ereignisse der entscheidenden Tage im Detail aufgezeigt werden.

Die heutigen Ereignisse sind ohne den Maidan weder verständlich, noch wären sie ohne den Maidan möglich gewesen. Der Maidan-Putsch (ja, es war ein Putsch, wie ich später belegen werde) hat in er Ukraine eine radikale Nazi-Regierung an die Macht gebracht, was nicht einmal meine Formulierung ist, sondern was man vor dem Maidan auch in Publikationen des Bundestages und der Stiftungen fast aller deutschen Parteien nachlesen konnte. Ein entscheidender Teil des Maidan war die Partei Svoboda, die sich zuvor noch „Sozial-Nationalistische Partei“ genannt hatte und deren Führer eine der Schlüsselfiguren des Maidan gewesen ist.

Mit deren Führer hat Steinmeier sich damals oft fotografieren lassen (siehe Titelbild). Nach den schweren Unruhen mit hundert Toten auf dem Maidan kam der damalige deutsche Außenminister Steinmeier zusammen mit seinen Kollegen aus Polen und Frankreich nach Kiew, wo unter ihrer Vermittlung Verhandlungen zwischen der Führung des Maidan und dem damaligen Präsidenten Janukowitsch stattfanden. Am Ende gab es eine Einigung, in der Janukowitsch faktisch die Macht abgab und Neuwahlen zustimmte. Im Gegenzug sollte der Maidan die Proteste einstellen. Die drei europäischen Außenminister haben diese Einigung als Garanten für deren Umsetzung unterzeichnet. Die politische Krise schien friedlich gelöst.

Aber dem war nicht so, denn in der folgenden Nacht stürmten die radikalen Kräfte des Maidan das Kiewer Regierungsviertel und übernahmen gewaltsam die Macht. Die Einigung hatte nur wenige Stunden gehalten und danach wurde der (laut OSZE) demokratisch gewählte Präsident unter Bruch der ukrainischen Verfassung gewaltsam gestürzt. Der Putsch war vollzogen und die radikalen Neonazis waren in Kiew an der Macht.

Die Aufgabe der Garanten der Einigung, also die Aufgabe von Steinmeier persönlich, wäre es gewesen, zu protestieren, die Putsch-Regierung nicht anzuerkennen und zu einer Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung und zur Umsetzung der erreichten Einigung aufzurufen, notfalls unter Androhung von Sanktionen. Sanktionen wären in diesem Falle gerechtfertigt gewesen, weil die drei europäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Polen die Einigung als Garanten für ihre Umsetzung unterschrieben hatten. Der Bruch der Einigung durch die ukrainischen Neonazis und der gewaltsame Putsch wurden jedoch schweigend und sogar wohlwollend anerkannt – auch von Steinmeier persönlich.

Die Neonazi-Regierung hat – noch bevor Wahlen stattgefunden hätten – das Militär in den Donbass geschickt und es auf die Menschen, die dort gegen den Putsch demonstriert haben, schießen lassen. Dabei wurden Panzer, Artillerie und Luftwaffe gegen unbewaffnete Zivilisten eingesetzt. Das begann im April 2014 und der Marschbefehl wurde dem Militär auf einer Sitzung des ukrainischen Sicherheitsrates gegeben, an der der damalige CIA-Chef in geheimer Mission teilgenommen hat.

Das war der Beginn des Krieges der ukrainischen Nazi-Regierung gegen die Zivilbevölkerung im Donbass, der danach acht Jahre angedauert hat, in denen Kiew keinen einzigen Punkt des im Februar 2015 unterzeichneten Minsker Abkommens umgesetzt hat. Sanktionen hat der Westen deswegen aber nicht gegen Kiew verhängt, sondern gegen Russland, das sich in den acht Jahren dafür eingesetzt hat, dass der Donbass – gemäß den im Minsker Abkommen festgelegten Bedingungen – Teil der Ukraine bleibt.

Auch dafür trägt Steinmeier ganz persönlich eine (Mit-)Verantwortung, denn er war bis 2017 als deutscher Außenminister Teilnehmer der Verhandlungen im Normandie-Format, in denen die Umsetzung des Minsker Abkommens erreicht werden sollte. Steinmeier hat weder den Bruch des von ihm als Garant unterzeichneten Abkommens vom Februar 2014, noch den darauf folgenden Putsch unter Beteiligung bekennender Nazis, noch die Entsendung des ukrainischen Militärs gegen unbewaffnete Zivilisten im Donbass, noch Kiews konsequente Verstöße gegen das Minsker Abkommen kritisiert.

Steinmeier, der als deutscher Bundespräsident nun seine Kriegsrede gehalten hat, hat daher das Blut von tausenden unschuldiger Zivilisten, die im Donbass von der ukrainischen Armee ermordet wurden, an seinen Händen kleben. Dass dieser Mann nun zum Krieg gegen Russland trommelt ist daher nur folgerichtig. Der wahre Charakter dieses Herrn ist der eines Mannes, der entweder bewusst Blut und Krieg sehen wollte, oder der eines Mannes, der zu feige war, aufzustehen und für den Frieden einzutreten, als er im Februar 2014 noch erhalten werden konnte. Oder zumindest auf die Umsetzung des Minsker Abkommen zu drängen, das im Falle seiner Umsetzung den Frieden bis Ende 2015 erreicht hätte. Steinmeier hätte auf die Umsetzung drängen und den Maidan-Regierungen mit dem Entzug aller finanziellen Hilfen drohen können, anstatt das Regime mit Milliarden Euro an Steuergeldern zu finanzieren.

Stattdessen hat Steinmeier das kriegslüsterne Nazi-Regime politisch und wirtschaftlich unterstützt. Wäre Steinmeier ein Mann mit Prinzipien, hätte er für den Frieden eintreten müssen. Hätte er sich damit im Westen, der das Maidan-Regime finanziert hat, nicht durchsetzen können, wäre die logische Konsequenz Steinmeiers Rücktritt gewesen. Wie er sich tatsächlich verhalten hat, sagt alles über den Charakter und den moralischen Kompass dieses Mannes.

Nun kommen wir zu den beiden Kapiteln aus meinem Buch über die Ukraine-Krise 2014 und zu den entscheidenden Tagen im Februar 2014, in denen der Grundstein für den heutigen Krieg gelegt wurde. Sollten Sie das Buch nicht gelesen haben, empfehle ich – ganz uneigennützig natürlich – es Ihnen nachdrücklich, denn zum Verständnis der heutigen Ereignisse ist es unverzichtbar, die Vorgeschichte zu kennen.

Noch ein Hinweis zu den gesetzten Quellen: Einige wurden später aus dem Netz gelöscht oder verändert. Wer sie trotzdem überprüfen möchte, kann sie im Internet-Archiv suchen.

Über 100 Tote auf dem Maidan – 18.-20. Februar

Am 17. Februar waren Klitschko und Jazenjuk in Deutschland und trafen Angela Merkel. Interessanterweise gab es dazu zwar eine Menge Berichte in den deutschen Medien, die russischen Medien hingegen berichteten hierüber praktisch nicht. Das Echo in der deutschen Presse war einhellig: Es wurde berichtet, dass Klitschko und Jazenjuk mit der Hoffnung auf konkrete Unterstützung wie z.B. Sanktionen gegen ukrainische Regierungsmitglieder nach Berlin kamen, dass Merkel dies jedoch ablehnte. So schrieb der „Spiegel“ am 17. Februar „Treffen mit Klitschko: Merkel weist Forderung nach Sanktionen gegen die Ukraine zurück“[1] und der deutsche Sender „N-TV“ berichtete am 18. Februar unter der Überschrift „Nach Berlin-Besuch – Klitschko und Jazenjuk mit leeren Händen“ über den Besuch und schrieb: „Die Oppositionsführer Jazenjuk und Klitschko kehren nach ihren Gesprächen in Berlin mit leeren Händen nach Kiew zurück. Hilfe aus Berlin gibt es schon deshalb nicht, weil die Opposition kein echtes Konzept vorlegen kann. In Kiew fliegen derweil wieder Brandsätze[2]

Interessant ist, dass es über diese Reise praktisch keine Berichte in der russischen Presse gab und auch später keine erschienen sind. Die in westlichen Medien immer wieder kritisierte „russische Propaganda“ hätte diesen Besuch und seinen zeitlichen Zusammenhang mit den blutigen Ereignissen auf dem Maidan ab 18. Februar hervorragend instrumentalisieren können. Es verwundert regelrecht, dass die russischen Medien diese Steilvorlage nicht aufgenommen haben.

Die Ereignisse begannen sich dann ab dem 18. Februar zu überschlagen.

Schon am 17. Februar berichteten ukrainische Medien, dass der Rechte Sektor seinen Einheiten Kampfbereitschaft befohlen habe und dies mit einem für den nächsten Morgen geplanten „friedlichen Angriff“ auf das Parlament begründete. Wozu man sich bei einem „friedlichen Angriff“ kampfbereit machte, ist in diesem Zusammenhang eine gute Frage. Und da sich Beobachter der ukrainischen Presse diese Frage stellten, wurde für den nächsten Tag mit Zusammenstößen gerechnet. Nur in der westlichen Presse gab es dazu keine Berichte und es erschien dann im Westen so, als wären die Zusammenstöße der nächsten Tage überraschend gekommen.

Der Rechte Sektor entstand im November zu Beginn des Maidan als Zusammenschluss radikal-nationalistischer Gruppen und bildete die „Selbstverteidigungskräfte“ des Maidan. Am 22. Februar schrieb die „Welt“ in einer Analyse unter der Unterschrift „Die radikale ukrainische Gruppe Rechter Sektor“ über die Organisation[3]. In dem Artikel hieß es: „Erstmals trat die paramilitärische Organisation bei Protesten Ende November in Kiew in Erscheinung“ Es handele sich dabei um Selbstverteidigungskräfte, „die meist an vorderster Front agieren und die Barrikaden bewachen. Landesweit schätzt die Gruppierung selbst das Mobilisierungspotenzial auf 5000 Menschen, Tendenz stark steigend.Die Mitglieder sind für ihr martialisches Auftreten bekannt. Sie tragen Tarnfleckuniformen, Helme und Skimasken. Anführer Dmitri Jarosch gibt offen zu, über Schusswaffen zu verfügen. «Es sind genug, um das ganze Land zu verteidigen», sagte der 42 Jahre alte Philologe aus der Stadt Dnjeprodserschinsk dem US-Magazin «Time» Anfang Februar.

Um die Bewachung der Rada und die Anstrengungen der ukrainischen Polizei, einen Durchbruch der Demonstranten zur Rada zu verhindern, richtig einzuordnen, darf man nicht vergessen, dass z.B. auch in Deutschland in der „Bannmeile“ um das Regierungsviertel ein Demonstrationsverbot besteht (§ 16 VersG, § 1 BefBezG). Demonstrationen und Versammlungen in den Bannmeilen um Bundestag, Bundesrat und Landtage sind in Deutschland grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmefällen zulässig, wenn keine Störung zu erwarten ist, was vor allem an sitzungsfreien Tagen gilt. Es ist schwer vorstellbar (und im Übrigen gesetzwidrig), dass die Polizei in Berlin tausende vermummter, gewaltbereiter und mindestens mit Pflastersteinen und Molotow-Cocktails bewaffneter Demonstranten ungestört zum Bundestag ziehen lassen würde, während dort eine wichtige Grundgesetzreform beraten wird.

Am Morgen des 18. Februar kam es zu schweren Zusammenstößen vor der Rada als Demonstranten die Polizeisperren um die Rada durchbrechen wollten. Die Polizei setzte Tränengas und Blendgranaten ein, die Demonstranten warfen Steine und Molotow-Cocktails auf die Polizei und zündeten Fahrzeuge an.

Hintergrund der Unruhen war eine Sitzung in der Rada, in der die Verfassung von 2004 wiederhergestellt werden sollte, die dem Präsidenten weniger Rechte zugesteht, als die nach der Wahl Janukowytschs im Jahre 2010 in Kraft gesetzte Verfassung. Der Parlamentspräsident lehnte dies ab und schlug eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der Verfassungsänderungen vor.

Wieder ist das Presseecho interessant.

Der Schweizer „Tagesanzeiger“ berichtete unter der Überschrift „Straßenschlacht fordert 25 Tote“ von Gesprächen zwischen Opposition und Janukowitsch und zitiert Klitschko und Jazenjuk damit, dass die Gespräche gescheitert seien[4]. Und zitierte dann den Präsidenten: „Die Oppositionsführer hätten die «Grenzen überschritten», indem sie im Machtkampf auf den Druck der Straße setzten und «die Leute zu den Waffen rufen», sagte Janukowitsch in der Nacht in einer Rede an die Nation. Die «Schuldigen» für die Gewalt würden vor Gericht gestellt werden. «Die Oppositionsführer haben das Prinzip der Demokratie verletzt, wonach man die Macht durch Wahlen erhält und nicht durch die Straße»

Der „Spiegel“ veröffentlichte allein am 18. Februar vier Artikel zum Maidan. Die Überschriften lauteten „Ukraine-Krise: Tote bei Krawallen in Kiew – Regierung stellt Ultimatum“, „Eskalation in der Ukraine: Klitschko bricht Krisentreffen mit Janukowitsch ergebnislos ab“, „Ukraine-Krise: Frauen und Kinder sollen den Maidan verlassen“ und „Straßenschlachten in Kiew: Molotow-Cocktails gegen Janukowytschs Parteizentrale“, wobei der Schwerpunkt auf den Unruhen lag[5] [6] [7] [8]

Die ukrainische „Segodnya“, die schon am Vortag von den Vorbereitungen auf den „friedlichen Angriff“ berichtet hatte, schrieb am Nachmittag des 18. Februar unter der Überschrift „“Friedlicher Angriff“ – erste Ergebnisse“ und berichtete: „In der Opposition hofft man, heute die Verfassung von 2004 zurückzuholen. Der am Morgen begonnene „friedliche Angriff“ der Demonstranten mit dem Ziel, dem Parlament einen Ausweg aus der politischen Krise aufzuzwingen ist schnell in lokale Zusammenstöße umgeschlagen und dann im weiteren Verlauf in massive Zusammenstöße im Regierungsviertel eskaliert“. Leider ist dieser Artikel heute nicht mehr online.

In einem weiteren Artikel, der heute ebenfalls nicht mehr im Netz ist zu finden ist, zitierte dieselbe Zeitung die Justizministerin Lukasch mit den Worten „Der Protest, der von der Opposition gestern als friedliche Aktion angekündigt wurde, begann als bewaffneter Angriff von Extremisten. Die Opposition ignorierte die Aufrufe von Präsident Janukowytsch und führenden Politikern der EU, USA und Russlands zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes

Auch die Fotos zu den Artikeln unterschieden sich, so bildete die deutsche Presse vor allem Demonstranten in verschiedenen Situationen bei den Unruhen ab während russische und ukrainische Zeitungen Bilder von Polizisten zeigten, die sich gegen Angriffe schützten oder blutend am Boden lagen.

Die Vorgänge in der Rada zu den Verfassungsänderungen fanden in der deutschen Presse nur am Rande Erwähnung, während sie in der russischen und ukrainischen Presse deutlicher thematisiert wurden.

Noch interessanter ist aber, dass der Schwerpunkt der deutschen Berichterstattung mit der Gewalt begann, während die ukrainischen und russischen Medien bereits mit den Vorbereitungen auf den „friedlichen Angriff“ begannen und thematisierten, dass er von Anfang nicht als friedlich geplant war.

Am Abend widersprachen sich die Meldungen. Einerseits forderte Klitschko Frauen und Kinder auf, den Maidan zu verlassen, da Gewalt nicht mehr ausgeschlossen werden könne und die Polizei bereitete sich auf einen Räumungsversuch des Maidan vor. Andererseits verkündete der Parlamentspräsident ein geplantes Treffen zwischen Janukowytsch und der Opposition für 11 Uhr am nächsten Morgen. Beides fand statt: Sowohl die Straßenschlachten auf dem Maidan in der Nacht, als auch Gespräche am nächsten Tag.

Im Archiv der ukrainischen „Vesti“ ist ein sehr ausführlicher Newsticker[9] zu den Ereignissen dieser Tage zu finden, der an diesem 18. Februar um 19.55 Uhr den Beginn des Sturmes auf den Maidan meldete. Auch diverse Fernsehstationen berichteten live und es waren bürgerkriegsähnliche Straßenschlachten zu sehen, bei denen die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Blendgranaten vorging, während die Demonstranten Pflastersteine, Feuerwerkskörper und Molotow-Cocktails warfen. Auf youtube gibt es unzählige Videos, die auch Demonstranten zeigen, die mit Pistolen und Gewehren auf die Polizei schießen. Jedoch ist es unmöglich, diesen Videos ein genaues Datum zuzuordnen.

Die ukrainische Ausgabe von „RIA-Novosti“ berichtete unter der Überschrift „Auf Kiews Straßen brennt ein gepanzertes Fahrzeug – Eurmaidan am 19. Februar“ von den Straßenschlachten und fügte dem Artikel auch ein Video bei. Man konnte dort lesen: „Bei einer weiteren Attacke versuchte die Polizei die Barrikaden mit einem gepanzerten Fahrzeug zu durchbrechen. Aber nachdem das Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit in die Barrikaden gefahren war, bewarfen die Protestierenden es mit Molotow-Cocktails. Das Panzerfahrzeug brannte wie eine Fackel.“[10]

Im Zuge der Unruhen brach ein Feuer im Gewerkschaftshaus aus, welches 20 Stunden in Flammen stand und komplett ausbrannte bevor es gelöscht werden konnte. Der stellvertretende Vorsitzende von Jazenjuks „Vaterlandspartei“ Sobolev berichtete zunächst von über 40 Menschen, die dort lebend verbrannt seien, seine Partei dementierte dies später auf ihrer Website und meldete „bei dem Feuer wurde niemand verletzt.“

Sowohl westliche als auch russische und ukrainische Medien berichten übereinstimmend von 25 Toten als Folge der Ausschreitungen.

Am 19. Februar war es in Kiew nach der „Blutnacht“ („Spiegel“ am 19. Februar) vergleichsweise ruhig und Regierung und Opposition einigten sich auf einen Waffenstillstand. Dafür kam es zu Unruhen und Besetzungen von Regierungsgebäuden in anderen Städten im Westen der Ukraine.

Obwohl Regierung und Opposition einen Waffenstillstand beschlossen hatten, kam es am 20. Februar wieder zur Eskalation, denn der Rechte Sektor und andere radikale Gruppen lehnten den Gewaltverzicht ab.

Die Straßenschlachten vom 20. Februar mit mindestens 60 Toten und hunderten Verletzten waren der Grund für den Rücktritt Janukowytschs. Wer die Verantwortung für die Eskalation und die über 60 Toten trägt, soviel sei schon vorweggenommen, ist bis heute nicht geklärt. Da die Ereignisse dieses Tages eines der Schlüsselereignisse in der Ukraine-Krise sind, versuche ich diesen Tag möglichst genau zu beleuchten.

Am Morgen des 20. Februar rückten Demonstranten vom Maidan aus in Richtung Regierungsviertel vor. Dabei wurde die Polizei inklusive der Spezialeinheit Berkut zurückgedrängt. Ab 9 Uhr fielen Schüsse und es gibt Tote und Verletzte auf beiden Seiten.

Die „Iswestia“ schrieb am 20. Februar unter der Überschrift „Jetzt ist wirklich Krieg“ über die Situation: „Die Kiewer Demonstranten haben sich die ganze Nacht auf die Räumung des Maidan durch Polizei und Berkut vorbereitet, die sie für den frühen Donnerstagmorgen erwarteten.[11]

Die Zeitung beschrieb dann die Bewaffnung der Demonstranten mit Molotow-Cocktails und ähnlichem. Weiter schrieb sie: „Doch anstatt der Polizei begannen die Demonstranten selbst den Angriff, indem sie eine vollständige taktische Operation durchführten … Der Angriff der Janukowytsch-Gegner kam gleichzeitig von zwei Seiten: Von der Institutski-Straße und von der Kreschatka-Straße. Die Polizei zieht sich zurück … und versucht die Angreifer zuerst mit Gummigeschossen, dann mit scharfer Munition aufzuhalten. Von Seiten der Demonstranten wird das Feuer erwidert: sie haben Jagd-, Sport- und Scharfschützengewehre.

Der Newsticker der ukrainischen „Vesti“ berichtete vom Beginn der Angriffe ab 9.11 Uhr. Um 9.15 Uhr bereits „Berkut läuft die Institutski-Straße hoch, die Polizei setzt Wasserwerfer ein und schießt“, 9.24 Uhr „Innenministerium: Scharfschützen schießen auf die Polizei“, 9.39 Uhr „Auf dem Maidan wurden 23 Angehörige des Berkut verwundet“ In dem Newsticker ist auch ein fast 15-minütiger Mitschnitt des Funkverkehrs der Polizei veröffentlicht, der am 20. Februar auf youtube erschien. Die Echtheit ist nicht bewiesen, aber eine Fälschung innerhalb von Minuten nach den Vorkommnissen und in dem Chaos dieses Tages ist zumindest unwahrscheinlich. In diesem Mitschnitt sprachen die Polizisten von Scharfschützen im Hotel „Ukraina“, dem Hauptquartier der Opposition. Darauf wird später noch einzugehen sein.

„UNIAN“ titelt in einer Kurzmeldung um 9.34 Uhr „Berkut bei der Rada – Panik, sie schreien, dass die Demonstranten scharfe Munition haben“ und schrieb: „Der Berkut bei der Rada ist in Panik, die Spezialeinheiten ziehen sich zurück Richtung Metro Arsenalnaya. Wie der Korrespondent der UNIAN berichtet, schreien sie, dass die Demonstranten scharfe Patronen haben …Wie UNIAN berichtete, sind die Demonstranten heute gegen 9 Uhr in Kolonnen zum Angriff auf die Ordnungskräfte übergegangen. Der Berkut hat sich zur Olginska-Straße zurückgezogen und setzt weiterhin Tränengasgranaten ein. Auf der Institutski-Straße sind ca. 3.000 Demonstranten[12]

Am Abend berichtete „UNIAN“ unter der Überschrift „Auf dem Maidan schießen Scharfschützen auf Verwundete, die Kugeln durchschlagen Schutzwesten“ und zeigte dort einen Beitrag des ukrainischen TV-Senders „TSN“, in dem von Schüssen sowohl von Seiten der Polizei berichtet wurde, als auch von Schüssen aus dem Hotel Ukraina, welches als Hauptquartier der Opposition fungierte und damit fest ihrer Hand war.[13]

Zusammenfassend kann man sagen, dass russische und ukrainische Medien sehr detailliert über die Unruhen berichteten. Aus diesen Berichten geht hervor, dass die Unruhen von den Demonstranten begonnen wurden. In der westlichen Presse stand der Fokus auf politischen Fragen und dem Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten, aber nur wenige Artikel beschäftigten sich detailliert mit den Unruhen, und dabei hauptsächlich mit der Zahl der Opfer, kaum jedoch mit den Ereignissen im Detail. Dass der Ausgangspunkt für die Unruhen der Angriff von Seiten der Demonstranten war, wurde nur vereinzelt in Nebensätzen erwähnt.

So schrieb das „Manager Magazin“ am 20. Februar unter dem Titel „Das Sterben auf Kiews Straßen geht weiter“ in einem Artikel: „Während EU-Vermittler mit Präsident Janukowitsch um eine politische Lösung ringen, sterben die Menschen auf dem Maidan in Kiew. Die Lage ist außer Kontrolle. Scharfschützen und Polizei feuern offenbar gezielt in die Menge … Die ukrainische Staatsmacht hat Scharfschützen gegen die Demonstranten eingesetzt. Unklar war zunächst, welches Ministerium den Befehl zum gezielten Töten gab. Nach den bisher schwersten Straßenkämpfen mit mindestens 39 Toten ordnete das Innenministerium an, Sicherheitskräfte könnten landesweit mit scharfer Munition gegen radikale Demonstranten vorgehen.[14]

Anschließend befasste sich der Artikel mit den politischen Fragen der Entwicklung und erst am Ende kam noch der Hinweis „Wenige Stunden, nachdem am Mittwochabend von Regierung und Oppositionsführung vereinbarten Gewaltverzicht waren radikale Demonstranten am Morgen ins Regierungsviertel vorgedrungen. Sie vertrieben die dort stationierten Sicherheitskräfte, wie örtliche Medien berichteten.

Interessant sind hier die Formulierungen. Während deutlich geschrieben wurde, die Polizei feuere in die Menge, wurde über den bewaffneten Angriff der Demonstranten und ihre Schüsse auf die Polizei nur geschrieben, die Demonstranten hätten die Sicherheitskräfte „vertrieben“, ohne auf Details einzugehen.

Da die westlichen Medien bei den Unruhen einen Schwerpunkt darauflegten, dass die Polizei an diesem Tag die Erlaubnis bekam, scharfe Munition einzusetzen, lohnt sich ein Blick auf den Hintergrund. Im Gegensatz zu der Formulierung des „Manager Magazins“, dass es unklar gewesen wäre, wer den Befehl gegeben hat, war es in Wahrheit eindeutig: Es war Innenminister Sachartschenko. Die ukrainische Zeitung „Glavred“ veröffentlichte um 15.55 Uhr ukrainischer Zeit, also 14.55 deutscher Zeit, einen Artikel mit der Überschrift: „Die Miliz bekam Waffen und Schießerlaubnis: „Der Befehl von Sachartschenko““[15].Dort wurde der Befehl zitiert, er galt „zum Schutz der Bürger, deren Leben und Unversehrtheit in Gefahr sind und zur Befreiung von Geiseln; zur Selbstverteidigung bei Angriffen auf Polizisten oder ihre Familienangehörigen, wenn ihr Leib und Leben in Gefahr sind; zur Verteidigung gegen Angriffe auf bewachte Objekte, Wohnhäuser, staatliche und öffentliche Gebäude und Organisationen und auch zur Befreiung solcher

Weiter schrieb die Zeitung: „Sachartschenko erklärte, dass die Entscheidung, einen solchen Befehl zu unterschreiben, gefallen sei, nachdem heute „gezielt mit scharfer Munition auf Polizisten geschossen wurde. Mit Schussverletzungen sind schon 29 Polizisten in Krankenhäusern, es gibt Tote, die Gesamtzahl der Opfer ist zweistellig.“

Außerdem war in dem Artikel das Video einer Ansprache des Innenministers zu sehen, in der er seine Entscheidung begründete und der Befehl wurde auf der Internetseite des Innenministeriums veröffentlicht. Er war also einem interessierten Journalisten zugänglich und auch an jenem Tag keineswegs „unklar“, wer den Befehl gegeben hatte.

Der kritisierte Befehl begründete sich also mit dem bewaffneten Angriff der Demonstranten, was in keinem Beitrag in Deutschland thematisiert wurde. Es stellt sich die Frage, ob die deutsche Polizei überhaupt einen Befehl des Innenministers braucht, um sich gegen Angriffe mit Schusswaffen durch Schusswaffeneinsatz zu verteidigen und wen in einem solchen Fall die Medien in Deutschland kritisieren würden: Die angegriffene Polizei oder die angreifenden Demonstranten.

Der „Spiegel“ schrieb am 20. Februar unter dem Titel „Gewalt in der Ukraine: „Waffenruhe gebrochen – Tote bei neuen Kämpfen in Kiew“ über die Auseinandersetzungen: „Widersprüchliche Angaben gibt es darüber, wer trotz der erst am Mittwoch vereinbarten Waffenruhe die Gewalt erneut anheizte. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko machte die Polizei für den Bruch des vereinbarten Gewaltstopps verantwortlich. „Wir sehen die Situation außer Kontrolle““ sagte Klitschko nach einem Treffen mit den Außenministern aus Deutschland, Polen und Frankreich in Kiew. Doch bereits während der Nacht hatten Demonstranten ihrerseits Feuerwerkskörper in Richtung der Sicherheitskräfte abgeschossen. Auf dem Maidan sollen Redner die Parole ausgegeben haben, dass der Waffenstillstand aufgehoben sei.[16]

Davon, dass die Unruhen – nach übereinstimmenden und zeitnahen Angaben der örtlichen Medien – mit dem Angriff der Demonstranten begannen, fand sich auch hier nichts. Wenn es nicht wahr gewesen wäre, hätte man es erwähnen und widerlegen können. Aber stattdessen wurde es schlicht nicht erwähnt.

Der Newsticker im „Spiegel“ an diesem Tag begann erst um 11.25 Uhr, also 12.25 Uhr ukrainischer Zeit mit der Meldung „Bereits gestern haben wir Sie mit einem Liveticker zur Situation auf dem Maidan auf dem Laufenden gehalten. Auch heute bleiben wir mit Meldungen, Fotos und Tweets nah am Geschehen. Unser Korrespondent Benjamin Bidder ist weiterhin vor Ort[17]

Danach folgten einige widersprüchliche Meldungen über die Zahl der Toten bevor über den Korrespondenten um 12.18 Uhr folgende Meldung kam: „“Ich habe den Beginn der Kämpfe nicht gesehen, mir kamen aber panische Polizisten entgegen. Augenzeugen haben berichtet, dass die ersten Schüsse vom Maidan ausfielen. Andere sagen, dass Scharfschützen von Dächern gefeuert haben“ schreibt unser Korrespondent Benjamin Bidder per E-Mail

Um 12.31 Uhr kam die Meldung „YouTube-Videos zeigen Bilder von Schießereien in Kiew. Hier ist der Link zu einem Video, das die schonungslose Brutalität zeigt, mit der die Sicherheitskräfte vorgehen

Über die Anfänge der Unruhen gegen 9 Uhr ukrainischer Zeit fehlte in dem Newsticker jede Information. Es stellt sich die Frage, warum der Newsticker erst knapp dreieinhalb Stunden nach Beginn der Schießereien einsetzte und warum die erste Meldung des Korrespondenten erst viereinhalb Stunden danach kam und im Grunde nur aussagte, dass er nichts gesehen hat. Wie die Artikel z.B. aus der „Iswestia“ vom Vortag zeigten, war eine Zuspitzung am Morgen erwartet worden, wenn auch von Seiten der Staatsmacht, sodass der Korrespondent doch eigentlich am Ort des zu erwartenden Geschehens hätte sein müssen. Stattdessen meldete er sich erst um 13.18 Uhr Ortszeit mit der inhaltslosen Meldung, er habe den Beginn der Kämpfe nicht gesehen.

Hier kann man zum ersten Mal eine starke Diskrepanz zwischen den Medien in West und Ost beobachten, die auch im weiteren Verlauf der Krise ins Auge stechen wird. An diesem Tag wurde im Westen der Eindruck erweckt, die Miliz und der Berkut hätten geschossen und wenn überhaupt nur in Nebensätzen oder am Ende von Artikeln auf den Angriff von Seiten der Demonstranten eingegangen. In Russland und der Ukraine wurde detailliert auf die Ereignisse eingegangen und man sah, dass der Angriff der Demonstranten der Auslöser für die Eskalation war. Wer wann auf wen geschossen hat, ist immer noch ungeklärt. Im Folgenden wollen wir nun die verschiedenen Versionen der Ereignisse beleuchten.

Auf YouTube wurde ein abgehörtes Telefonat zwischen Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet veröffentlicht, in dem beide einige Tage später die Lage in der Ukraine besprachen[18]. Zu den Schüssen erzählte Paet, der gerade von einem Besuch in Kiew zurückgekommen war, von Gesprächen mit der Ärztin und Bürgerrechtlerin Olha Bohomolez in Kiew, die ihm erzählt hatte, dass die Schüsse ihrer Meinung nach von der Opposition abgegeben worden seien und nicht von der Polizei, hierzu berief sie sich zum Einen auf Zeugenaussagen und zum anderen auf Ihre Erfahrung als Ärztin, denn die Kugeln, die bei den Operationen herausoperiert wurden, seien alle identisch gewesen. Für Ashton war dies offensichtlich neu und beide waren sich einig, dass dies untersucht werden müsse.

Als das Gespräch am 5. März von Unbekannten auf YouTube veröffentlicht wurde, schrieb der „Spiegel“ unter der Überschrift „Scharfschützen auf dem Maidan: Heikles Telefonat zwischen Ashton und estnischem Minister veröffentlicht“ darüber: „Die neue ukrainische Regierung wolle die Todesschüsse während der Proteste in Kiew offenbar nicht aufklären, sagte Paet … Er bestätigte am Mittwoch die Echtheit des Mitschnitts … In Russland lief das Telefonat als Top-Nachricht bei der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Der staatliche Nachrichtensender Rossyia-24 übersetzte Teile des Gesprächs ins Russische und behauptete, die EU habe nun Beweise dafür, dass dieselben Scharfschützen auf Demonstranten und Polizei geschossen hätten. Eine solche Interpretation wies die estnische Regierung am Mittwochabend scharf zurück[19]

Gennadi Moskal, zu diesem Zeitpunkt Abgeordneter in der Rada für die „Vaterlandspartei“ von Jazenjuk und Timoschenko, gab der ukrainischen „Gaseta“ am 6.März ein Interview unter dem Titel „Gennadi Moskal: Die Scharfschützen bekamen von der Regierung den Befehl, gleichzeitig auf Protestler und Polizisten zu schießen“[20]. Es sei mit Gewehren vom Typ Fort 500 geschossen worden. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass die Fort 500, eine Pump Gun ukrainischer Produktion und kein Scharfschützengewehr ist, das nur auf ca. 40 Meter zielgenau ist[21]. Nichts desto trotz ist es aber möglich, mit dieser Waffe auch auf größere Entfernung zu schießen und dabei z.B. in einer Menschenmenge trotzdem (Zufalls)Treffer zu erzielen. Jedoch würde dies bedeuten, dass zumindest für diese Opfer eine Identifizierung der benutzten Waffe problemlos möglich wäre, denn eine ballistische Untersuchung kann eine Kugel dem konkreten Gewehr zuordnen, mit dem sie abgeschossen wurde. Und da Waffen bei der Ausgabe an Polizisten registriert werden, wäre auch der Schütze problemlos feststellbar. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch hierzu bis heute nichts veröffentlicht.

In der Sendung „Monitor“ der ARD vom 10. April 2014 wurde der Frage, wer geschossen hat, ebenfalls nachgegangen und in Kiew recherchiert[22]. In dem Beitrag wurde dargestellt, dass auf der Institutski-Straße die Einschusslöcher in Bäumen auf Schüsse aus den oberen Etagen des Hotels Ukraina, also des Hauptquartiers der Opposition hinwiesen und dies wurde mit Laserpointern, die aus den Einschusskanälen auf Fenster des Hotels wiesen, dargestellt. Weiter wurden Videos gezeigt, in denen Männer in Hotelzimmern aus dem Fenster schossen und die Reporter überzeugten sich vor Ort, dass diese Aufnahmen tatsächlich im Hotel Ukraina aufgenommen worden waren. Auch Zeugen kamen zu Wort, die von Beschuss sowohl von der Polizei als auch aus dem Hotel berichten. Die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft wurde kritisiert, da offensichtlich noch nicht einmal die Spurensicherung abgeschlossen war, aber der Staatsanwalt schon die Schuldigen aus den Reihen des Berkut benannte. In einem Interview mit dem neuen Generalstaatsanwalt beschuldigte dieser den Berkut der Schüsse und auf die Frage, was er zu den Schüssen aus dem Hotel Ukraine sage, kam die Antwort „wir ermitteln noch“. Darüber hinaus kamen Anwälte der Opfer zu Wort, also Anwälte von Leuten, die ursprünglich auf Seiten der Demonstranten waren und dabei angeschossen wurden, die nun die neue Regierung und Staatsanwaltschaft heftig kritisierten, da ihnen keinerlei Zugang zu Akten, Gutachten oder Ermittlungsergebnissen gewährt wurde. Und sie warfen den Zuständigen Vertuschung vor.

Dieser Kritik schlossen sich im Laufe des Jahres auch unabhängige Organisationen an, die die Ermittlungen Kiews kritisierten. Dies waren z.B. das UNHCR und der Europarat, wie wir später noch sehen werden. Die genannten Bäume mit den Einschusslöchern wurden im Laufe des Jahres 2014 gefällt und stehen nicht mehr vor dem Hotel Ukraina.

Am 3. April hielt der von der neuen Regierung eingesetzte Chef des Geheimdienstes SBU Nalywajtschenko zusammen mit dem neuen Generalstaatsanwalt Machnizkyj die Pressekonferenz, über die „Monitor“ berichtet hatte. Darüber schrieb die ukrainische „Vesti“ unter der Überschrift „Wer tötete wie auf dem Maidan? Die Version der Streitkräfte“[23]. Laut „Vesti“ war die gesamte ukrainische Presse inklusive Fernsehen und Radio anwesend und schrieb: „Als erstes erzählte der Chef des SBU von der Beteiligung Russlands an den Massenmorden in Kiew. Nach den Worten von Nalywajtschenko waren auf dem Schießplatz des SBU Mitarbeiter des FSB (russischer Geheimdienst), die angeblich an der Planung und Durchführung der sogenannten „Anti-Terror-Operation“ beteiligt waren“ Auch Machnizkyj beschuldigt die Sicherheitskräfte des Berkut der Todesschüsse: „In diesem Moment verstecken sich die Täter der Todesschüsse von Berkut und Alfa auf der Krim.““

Schon die Sendung „Monitor“ hatte von Generalstaatsanwalt Machnizkyj und dieser Pressekonferenz berichtet und sich gewundert, wie schon Schuldige präsentiert werden konnten, während offensichtlich nicht einmal die Spurensicherung beendet war. Der Generalstaatsanwalt war aktives Mitglied der rechtsradikalen und nationalistischen Partei „Swoboda“, während Nalywajtschenko bis 2006 im diplomatischen Dienst der Ukraine war, bevor er sich in verschiedenen Parteien politisch betätigte. Zum diesem Zeitpunkt im April 2014 war er Mitglied der Partei „Udar“ von Klitschko und Abgeordneter der Rada. Den Gründer des Rechten Sektors, Dmitri Jarosch, kannte er aus jahrelanger Zusammenarbeit und gemeinsam wurden sie auch von dem mit dem Rechten Sektor verbündeten rechtsradikalen „Orden“ „Trisub“ unterstützt.

„Trisub“ nennt auf seiner Homepage als Losung „Gott, Ukraine, Freiheit“, als Schlachtruf „Heil Ukraine! Heil den Helden!“ und nennt als seine Ideologie „Ukrainischen Nationalismus“[24]. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnete „Trisub“ als „teils ultrakonservativen, teils neonazistischen nationalistischen Extremistenzirkel[25] Es wundert ein wenig, dass im Westen die Frage, wer da nun als Generalstaatsanwalt in Kiew für den Rechtsstaat eintreten sollte, weder von der Presse noch von den Regierungen gestellt wurde. Es war mit Machnizkyj ein Mitglied von Parteien und „Orden“, die von offizieller Seite in Deutschland als nicht nur „nationalistisch“ sondern sogar als “neonazistisch“ eingestuft wurden.

Es gibt noch weitere Versionen, so äußerten sich Janukowytsch, Sachartschenko (Innenminister unter Janukowytsch) und Jakimenko (Chef des Geheimdienstes unter Janukowytsch) im März aus dem russischen Exil und beschuldigten die Opposition, aus verschiedenen von ihnen besetzten Gebäuden geschossen zu haben. Sie alle nannten als Verantwortlichen Andrij Parubij, den „Kommandanten des Maidan“, der in der neuen Regierung Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine wurde, Walentyn Nalywajtschenko, den erwähnten neuen Chef des Geheimdienstes und andere.

Die Tatsache, dass sich die alte und neue Regierung gegenseitig beschuldigten, ist wenig überraschend. Dennoch seien der Vollständigkeit halber beide Positionen hier auch erwähnt.

In den deutschen Medien verschwanden die Schüsse vom Maidan schnell aus den Schlagzeilen und mit ihnen auch die Schuldfrage. Nicht einmal die Tatsache, dass der neue Generalstaatsanwalt Oleh Machnizkyj ein Mitglied der „Swoboda“ war, also einer von der Bundesregierung als rechtsradikal eingestuften Partei, wurde in den deutschen Leitmedien thematisiert. Trotz intensiver Suche konnte ich keinen Artikel in den wichtigsten deutschen Medien zu diesem Thema finden. Bestenfalls Erwähnungen in Nebensätzen.

Es ist jedoch nicht unwichtig, wer in Kiew die Ermittlungen zu den Todesschüssen vom Maidan leitete. Dass dies Machnizkyj tat bedeutete, dass er auch gegen seine eigenen Parteigenossen hätte ermitteln müssen. Schließlich wurden die Schützen auf Seiten der Opposition, wenn man voraussetzt, dass es solche gegeben haben kann, genau in den Reihen der Radikalen von „Swoboda“ und Rechtem Sektor vermutet. Schließlich wäre in dem Fall Andrij Parubij als „Kommandant des Maidan“ und zuständig für dessen „Selbstverteidigungskräfte“, einer der möglicherweise Verdächtigen gewesen. Und auch Parubij hat seine politischen Wurzeln in der „Swoboda“.

Die Frage zu den Schüssen auf dem Maidan ist nicht, ob die Polizei geschossen hat. Spätestens nachdem Innenminister Sachartschenko den Einsatz von Schusswaffen am späten Vormittag des 20. Februar autorisiert hat, hat die Polizei sicher geschossen. Auch dazu gibt es reichlich Material auf YouTube, genauso wie von Demonstranten, die mit verschiedenen Pistolen und Gewehren geschossen haben. Aber auf den Videos lässt sich der genaue Zeitpunkt der Aufnahmen nicht feststellen.

Die wichtige Frage ist, ob auch die Demonstranten oder andere mit ihnen verbündete Kräfte mit Scharfschützen aus besetzten Gebäuden geschossen haben. Und nicht zuletzt, ob die Demonstranten bei ihrem Angriff zuerst geschossen haben, wie der Newsticker der „Vesti“ und andere russische und ukrainische Medien nahelegten. Dies würde bedeuten, dass die Polizei auf Waffeneinsatz auch mit dem Einsatz von Waffen reagiert hat und dass der Innenminister einen objektiven Grund hatte, den Einsatz von Schusswaffen zu erlauben.

Leider liegen bis heute keine offiziellen Ermittlungsergebnisse zu den Schüssen auf dem Maidan vor. In den deutschen Medien fanden die Schüsse noch einmal breitere Erwähnung, als die Sendung „Monitor“ im April den genannten Beitrag brachte. Danach berichtete erst wieder am 23.September 2014 das „Handelsblatt“ unter der Überschrift „Wer waren die Todesschützen vom Maidan?“ darüber und schrieb: „Das auf Initiative des Europarats zur Untersuchung der gewaltsamen Zwischenfälle eingesetzte internationale Beratergremium … will offenbar noch in diesem Monat über den Ermittlungsstand informieren. Das geht aus einer dem Handelsblatt (Online-Ausgabe) vorliegenden Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion-Abgeordneten Sevim Dagdelen hervor. „Die Veröffentlichung eines Zwischenberichts über die bisherige Tätigkeit des Gremiums wird für Ende September erwartet“, schreibt der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD) … Laut Roth beschränkt sich das Mandat des Gremiums allerdings lediglich darauf, „zu kontrollieren, ob die Untersuchung der gewaltsamen Zusammenstöße durch die ukrainischen Behörden den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht“.[26]

Am gleichen Tag schrieb der „Focus“ in seinem Newsticker zur Ukraine-Krise um 15.03 Uhr: „Die Arbeit der vom Europarat nach den gewaltsamen Zusammenstößen auf dem Kiewer Maidan und in anderen ukrainischen Städten eingesetzten Expertengruppe kommt nur schleppend voran. Dies geht aus einem Zwischenbericht von Mitte September hervor, den der Europarat auf seiner Website veröffentlicht hat. Demnach mussten die drei Experten des Europarats einen Ende Juni geplanten Arbeitsbesuch in der Ukraine verschieben, weil die dortigen Behörden nicht fristgerecht alle angeforderten Informationen geliefert hatten. Der Besuch fand schließlich in der ersten Septemberhälfte statt. Die Gesandten des Europarats trafen dort Mitglieder der Regierung, des Parlaments und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen. Ihre Arbeit will die Arbeitsgruppe nun bis Ende November abschließen – falls sie bis dahin die noch ausstehenden Informationen erhält. Ihren Abschlussbericht will sie Anfang kommenden Jahres vorlegen.[27]

Bleibt hinzuzufügen, dass bis heute die „noch ausstehenden Informationen“ von Kiew nicht geliefert worden sind und dass auch das UNHCR dies immer wieder kritisierte.

Die von der Übergangsregierung versprochene Aufklärung der Vorgänge an jenem Tag mit über hundert Toten ist bis heute nicht geschehen und niemand nimmt daran Anstoß. Das Thema interessiert im Westen mittlerweile nur noch Experten.

Es bleibt festzuhalten: Die Todesschüsse auf dem Maidan waren der Grund für den Umsturz und brachten die neue Regierung ins Amt. Und diese neue Regierung wurde seitdem dafür kritisiert, dass sie diese Todesschüsse nicht aufklärt, teilweise sprach das UNHCR in seinen Berichten zur Aufklärung von Todesfällen sogar von Vertuschung durch Kiew. Wenn alles so eindeutig wäre, wie Kiew behauptet, dann dürfte es doch nicht schwierig sein, die geforderten Berichte zu übergeben und die Beschuldigten anzuklagen. Nichts davon ist bis heute geschehen.

Und diese offenen Fragen zu über 100 Toten allein auf dem Maidan waren dem „Focus“ und den meisten anderen deutschen Medien im September trotz der Kritik des Europarates keinen eigenen Artikel wert. Gleiches galt für die neun Berichte des UNHCR. Im Kapitel „Menschenrechte“ werde ich detailliert darauf eingehen.

Die russischen Medien berichteten wesentlich öfter über die Todesschüsse vom 20. Februar und stellten ebenfalls die Schuldfrage und sahen die neue Regierung in Kiew in der Bringschuld. Es wurde in Russland offensiv thematisiert, dass die Schuldfrage unklar war und dass es viele Hinweise auf Scharfschützen auf Seiten der Opposition gab. Andere russische Medien gaben den Demonstranten des Maidan die Schuld an den Todesschüssen. Da wären die Meldungen der Experten des Europarates eigentlich etwas, was man in Russland hätte medial ausschlachten können. Interessanterweise fand sich jedoch Ende September keine Meldung über die Kritik des Europarates an Kiew in Russland. Gleiches gilt auch hier für die Berichte des UNHCR: Russlands „Propaganda“ hat allein vom UNHCR neun Mal Vorwände geliefert bekommen, die Todesschüsse zu thematisieren. Trotzdem ist dies kaum geschehen. Wenn es in Russland „Propagandisten“ gibt, dann machen sie keinen „guten Job“.

Die politischen Nachrichten an diesem 20. Februar rückten in der russischen und ukrainischen Berichterstattung in den Hintergrund, Hauptthema waren die Vorgänge auf der Straße. In der deutschen Berichterstattung nahmen sie weit mehr Raum ein.

Die politisch wichtigste Nachricht in den östlichen Medien war, dass die Rada am Abend den Beschluss fasste, dass die Polizei unverzüglich alle Gewaltanwendung stoppen solle und dass Schusswaffengebrauch nach Inkrafttreten der entsprechenden Anweisung eine Straftat darstellte. Die Entscheidung fiel mit 236 zu 2 Stimmen, wobei offensichtlich viele Abgeordnete nicht anwesend waren, denn die Rada hatte 450 Abgeordnete. Dazu schrieb die ukrainische Ausgabe der „RBK“ unter der Überschrift „Die Rada stimmte für den Abzug der Bewaffneten aus Kiew“: „Für diese Anweisung stimmten alle Oppositionsfraktionen, Abgeordnete, die die Partei der Regionen verlassen hatten und auch ein Teil der Abgeordneten, die noch in der Partei der Regionen geblieben sind[28]

Hierzu ist anzumerken, dass am 20. und 21. Februar viele Abgeordnete die „Partei der Regionen“, also die Partei Janukowytschs, verließen. Dies war ein weiteres bestimmendes Thema in den ukrainischen und russischen Nachrichten in diesen Tagen.

Von den Entscheidungen der Rada berichtete am Abend des 20. Februar auch „Die Presse“ aus Österreich unter der Überschrift „Parlament beschloss Ende des „Anti-Terror-Einsatzes“ und schrieb: „Am Donnerstagabend soll sich der Präsident der Ukraine Viktor Janukowitsch bereiterklärt haben, noch in diesem Jahr Wahlen abzuhalten. Janukowitsch soll sein Einverständnis bei seinem Treffen mit EU-Außenministern gegeben haben, sagte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk am Abend in Warschau. Außerdem sei die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit binnen zehn Tagen vereinbart wordenDas ukrainische Parlament hat indes fast einstimmig ein Ende des „Anti-Terror-Einsatzes“ im Land beschlossen. Die Abgeordneten verlangten, dass sich alle Einheiten in ihre Kasernen zurückziehen, wie Fernsehsender am Donnerstagabend live berichteten. Zudem untersagten die Parlamentarier fast einstimmig den Einsatz von Schusswaffen. Anwesend waren 238 Abgeordnete von offiziell 450.[29]

Der „Spiegel“ thematisierte im Lauf des Tages immer wieder die politischen Fragen. Eine Zusammenfassung der verschiedenen Artikel brachte er unter der Überschrift „Eskalation in der Ukraine: Die Lage in Kiew im Überblick“ und gab einen kurzen Überblick über die Positionen der Ukraine, der EU, Russlands und der USA. Zur EU schrieb der „Spiegel“: „Am Donnerstag reisten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens zu Gesprächen nach Kiew. Sie verhandelten mit Vertretern der Opposition und Präsident Janukowitsch. Anschließend präsentierten sie einen Fahrplan für eine politische Lösung des Konflikts. Im Lauf der nächsten Monate sollen eine Übergangsregierung gebildet, eine Verfassungsreform begonnen und Parlaments- und Präsidentenwahlen abgehalten werden. Nun hängt alles an der Zustimmung von Regierung und Opposition.[30]

Des Weiteren brachte der „Spiegel“ an diesem Tag noch ein Interview mit Marina Weisband unter der Überschrift „Marina Weisband auf dem Maidan: „Kaum einer nimmt Klitschko ernst““[31]. Die Politikerin der Piratenpartei ist gebürtige Ukrainerin und wird aufgrund dieser Tatsache gerne in Talkshows und Interviews als Expertin zu den Vorgängen in der Ukraine befragt. Sie bestätigte die Aussage von Frau Krone-Schmalz, dass Klitschko in der Ukraine nicht die wichtige Rolle spielt, die ihm die Medien in Deutschland zuschrieben. Im „Spiegel“ sagt Weisband: „Klitschkos Rolle wird in Deutschland sehr überschätzt. Die Oppositionsparteien sind Teil des Euromaidans, aber nicht die Speerspitze. Klitschko wird als Figur kaum ernst genommen. Ich selbst habe niemanden getroffen, der von ihm begeistert war. Er spricht kaum ukrainisch, sagt bei seinen Auftritten nur wenige Sätze. Die Leute sind gegen Korruption auf der Straße und nicht für oder gegen eine Partei. Das ist zumindest mein Eindruck von vor Ort.

Wie Recht sie mit dieser Einschätzung über Klitschko und seine Rolle in der Zukunft behalten sollte, wird sich schon bald zeigen. Im Übrigen findet man in sozialen Netzwerken in der Ukraine eine unzählbare Menge an Witzen über Klitschkos Reden, Interviews und Aussagen, weil er Ukrainisch kaum beherrscht und auch auf Russisch oft nicht in der Lage zu sein scheint, seine Gedanken formulieren zu können, was ungezählte Vorlagen für Häme liefert und ihn – diplomatisch ausgedrückt – als nicht allzu intelligent erscheinen lässt.

Das „Manager Magazin“ schrieb an jenem Tag unter der Überschrift „Das Sterben auf Kiews Straßen geht weiter“ über die politischen Entwicklungen des Tages: „Die Bundeskanzlerin habe die Bereitschaft der EU erklärt, Gespräche von Regierung und Opposition zu unterstützen. Sie habe Janukowitsch dringend geraten, dieses Angebot anzunehmen. … Der russische Außenminister Sergej Lawrow warf dagegen dem Westen Erpressung in der Ukraine-Frage vor. Präsident Wladimir Putin wollte auf Bitte Janukowitsch einen Vermittler nach Kiew schicken. … Die ukrainische Führung warnte die EU vor Strafmaßnahmen. „Sanktionen würden die Situation verschärfen, sie wären Öl ins Feuer“ sagte Präsidialamtschef Andrej Kljujew. „Bei Sanktionen droht die Gefahr, dass das Land in zwei Teile zerbricht.“ Die USA verhängten bereits Einreiseverbote für 20 Ukrainer, die für die Gewalttaten in der Nacht zum Mittwoch verantwortlich seien.[32]

Außerdem steuerte der „Spiegel“ an diesem Tag unter dem Titel „Kampf um die Ukraine: Schachspiel im Minenfeld“ noch eine interessante Analyse bei[33]. Der Autor Uwe Klußmann führte aus, um welche geopolitischen Interessen es in dem Konflikt seiner Ansicht nach ging. Demnach ging es „längst nicht nur um ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union“ oder„um die Zukunft eines von Korruptionsvorwürfen umwitterten Präsidenten.“ In Wirklichkeit sei es um„Geopolitik, darum, welche Machtzentren in Europa und dem eurasischen Raum dominieren“ gegangen. Dann kam Herr Klußmann im „Spiegel“ zu einem Thema, dem später hier im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist, dem Buch „Die einzige Weltmacht“:„Mit einem Schachbrett hat der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski diesen Raum verglichen. … US-Geopolitiker Brzezinski würde Russland gern mattsetzen. In seinem Werk „The Grand Chessboard“ (Titel der deutschen Ausgabe: „Die einzige Weltmacht“) schreibt er, „ohne die Ukraine“ wäre Russland „im Wesentlichen ein asiatischer imperialer Staat“, der sich mit Konflikten in Zentralasien herumschlagen müsse. Mit der Kontrolle über die Ukraine und ihren großen Ressourcen jedoch, so der Ex-Präsidentenberater, wäre die Russische Föderation ein „mächtiger imperialer Staat“ Eine Gefahr sieht der amerikanische Stratege in einer „deutsch-russischen Abmachung“ und einer „Verständigung zwischen Europa und Russland mit dem Ziel, Amerika vom Kontinent zu verdrängen““ Dies wäre, laut Herr Klußmann im „Spiegel“, eine bis heute gültige US-Strategie: „Die USA wollen Russland auch in seiner unmittelbaren Nachbarschaft so weit wie möglich zurückdrängen. Spielen die Europäer dabei etwa in der Ukraine mit und verschlechtern sich deren Beziehungen zu den Russen, kann dies den USA nur recht sein. Der berühmte Ausspruch der US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland „Fuck the EU“ ist vor diesem Hintergrund kein Ausrutscher, sondern ein logischer, wenn auch etwas vulgärer Ausdruck von Geopolitik.

Das hier zitierte Buch „Die einzige Weltmacht“ aus dem Jahre 1997 ist vor dem Hintergrund der Krise in der Ukraine hochaktuell und manchmal scheint es fast, als hätte Brzezinski diesen Konflikt mit hellseherischen Fähigkeiten vorhergesehen. Oder als würde sein Drehbuch punktgenau umgesetzt. Daher muss ich dem Buch „Die einzige Weltmacht“ in diesem Buch am Ende ein eigenes Kapitel widmen.

Machtwechsel in Kiew – ab 21. Februar

In Kiew war es am 21. Februar deutlich ruhiger als am Vortag. Der Tag war geprägt von Verhandlungen zwischen Janukowytsch und der Opposition, an denen auch die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs sowie der russische Vermittler Wladimir Lukin teilnahmen. Schon am frühen Morgen gab es Meldungen über eine Einigung, die jedoch immer wieder dementiert wurden, weil die Opposition immer wieder neue Nachverhandlungen forderte. Ihre zentrale Forderung nach einem sofortigen Rücktritt Janukowytschs konnte sie nicht durchsetzen. Bis es schließlich zur Unterschrift kam, mussten die westlichen Außenminister immer wieder gesondert mit der Opposition verhandeln und auch auf den Maidan fahren um den „Maidan-Rat“, einen Zusammenschluss aus den verschiedenen protestierenden Gruppen, zu überzeugen.

Die ukrainische „Vesti“ und der „Spiegel“ brachten zeitgleich die ersten Nachrichten über eine Einigung, „Vesti“ um 8.58 Uhr ukrainische Zeit und der „Spiegel“ um 7.56 deutsche Zeit, was aufgrund des Zeitunterschiedes von einer Stunde praktisch zeitgleich war. „Vesti“ titelte „Einigung über Ausweg aus der Krise auf der Bankova“[34] und der „Spiegel“ titelte „Krise in der Ukraine: Präsident Janukowitsch verkündet Einigung mit Opposition“[35]. Beide berichteten von einer Einigung und der geplanten Unterzeichnung um 12 Uhr Ortszeit, jedoch zeigte sich schnell, dass diese Hoffnung verfrüht war, denn um 10.16 Uhr veröffentlicht der „Spiegel“ einen neuen Artikel unter der Überschrift „Machtkampf in der Ukraine: EU-Diplomaten erwarten noch heute Kompromiss“ und schrieb „Das ukrainische Präsidialamt verkündet eine Lösung der Krise, doch die Opposition will nachverhandeln. Die EU zeigt sich vorsichtig optimistisch – im Lauf des Tages könnte ein Kompromiss stehen.[36]

Wie schwierig die Verhandlungen an dem Tag waren, kann man schon daran sehen, dass allein bei „Spiegel-Online“ an jenem Tag acht Artikel zum Stand der Verhandlungen, der Unterzeichnung und den zu erwarteten Folgen veröffentlicht wurden. Hinzu kamen allein beim „Spiegel“ noch zusätzliche Artikel zu Timoschenko und ihrer zu erwartenden Haftentlassung, auf die wir auch noch eingehen werden.

Während die Verhandlungen liefen und ständige Meldungen über Erfolge und anschließende Relativierungen die Nachrichten bestimmten, berichtete die ukrainische Zeitung „Timer“ am Mittag unter der Überschrift „Janukowitsch initiiert vorgezogene Präsidentschaftswahlen und die Rückkehr zur Verfassung von 2004“ und zitierte dort Janukowytsch mit den Worten „An diesen tragischen Tagen, an denen die Ukraine so schwere Verluste erlitten hat, an denen Menschen auf beiden Seiten der Barrikaden gestorben sind, sehe ich es als meine Pflicht an, im Gedenken an sie zu sagen: Nichts ist wichtiger, als Menschenleben. Wir müssen nun alle erdenklichen Schritte gehen, um den Frieden in der Ukraine wieder herzustellen … Ich erkläre, dass ich vorgezogene Präsidentschaftswahlen initiiere. Ich initiiere auch die Rückkehr zur Verfassung von 2004 mit einer Machtverschiebung zu Gunsten einer parlamentarischen Republik. Ich rufe dazu auf, eine Regierung des Nationalen Vertrauens zu bilden.[37]

Diese Erklärung wurde auch auf der Webseite des Präsidenten veröffentlicht.

Im Prinzip hatte Janukowitsch damit die wichtigsten Forderungen der Opposition erfüllt, mit Ausnahme seines eigenen sofortigen Rücktritts.

An dieser Stelle sei auch noch einmal an die unterschiedlichen Vorstellungen von Klitschko und Jazenjuk zur Verfassungsänderung erinnert. Die Rückkehr zur Verfassung von 2004, die nun angekündigt wurde, bedeutete nebenbei einen Sieg für Jazenjuk, der nun hoffen konnte, als zukünftiger Premierminister der mächtigste Mann in der Ukraine zu werden, nachdem die Verfassungsänderung den Präsidenten weitgehend entmachten würde. Warum Klitschko dem nun zustimmte, nachdem er noch vor einem Monat eine andere Position vertreten hatte, werden wir vielleicht nie erfahren. Tatsache ist aber, dass spätestens damit seine Tage als einer der führenden Politiker des Landes gezählt waren. Falls er dies überhaupt jemals gewesen war, denn die Wahlergebnisse seiner Partei und auch die Äußerungen von Experten wie Marina Weisband oder Gabriele Krone-Schmalz zeigten auf, dass er in der Ukraine nicht den Status genoss, den ihm die deutsche Presse in den Monaten des Maidan zugeschrieben hatte. Jedenfalls, soviel sei vorweggenommen, war er nun kein landesweit führender Politiker mehr und reihte sich später bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in die Reihe der Unterstützer von Poroschenko ein und wurde selbst „nur“ Bürgermeister von Kiew aber eben nicht Präsident, Premierminister oder auch nur Minister. In der Landespolitik war er von nun an weitgehend entmachtet.

Wie schwierig der Verhandlungen waren, zeigte ein Beitrag aus dem Newsticker des „Focus“ von dem Tag: „17.02 Uhr: Derzeit kursiert ein Video im Internet, das den polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski zeigt. Er ist dabei im Gespräch mit Vertretern der Opposition, noch vor der anschließenden Einigung zwischen den Aktivisten und Präsident Janukowitsch. Eindringlich warnt er die Ukrainer, dem Deal mit der Regierung zuzustimmen. „Wenn Ihr das nicht unterschreibt, wird das Kriegsrecht ausgerufen, dann kommt die Armee. Ihr werdet alle sterben!“[38]

Das Video ist auf der Seite des „Focus“ ebenfalls zu sehen.

Leider ist der Text des Abkommens, das dann unterzeichnet wurde, nicht mehr auf Deutsch auf der Seite des Auswärtigen Amtes zu finden, es gibt dort nur noch die englische Version. Anscheinend sind die weiteren Entwicklungen dem deutschen Außenministerium so peinlich, dass es den deutschen Text des Abkommens von seiner Seite genommen hat.

Das Abkommen[39], welches schließlich um 16.00 Uhr Ortszeit unterschrieben wurde, im Wortlaut:

„1. Dass innerhalb von 48 Stunden nach der Unterzeichnung des Vertrages ein Sondergesetz erlassen, unterzeichnet und verkündet wird, welches die Verfassung von 2004 wieder einführt. Die Unterzeichner erklären ihre Absicht, eine Koalition und innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden

2. Den sofortigen Beginn der Arbeit zu einer Verfassungsreform, welche die Befugnisse des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments neu regelt. Die Verfassungsreform soll im September 2014 abgeschlossen sein.

3. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen finden statt, sobald die neue Verfassung angenommen wurde, jedoch nicht später als Dezember 2014. Neue Wahlgesetze werden verabschiedet und eine neue Zentrale Wahlkommission wird auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit und gemäß den Regeln der OSZE und Venedig-Kommissiongebildet werden.

4. Die gemeinsame Untersuchung der jüngsten Gewaltakte. Die Behörden werden dabei von der Opposition und dem Europarat überwacht.

5. Die Behörden werden den Ausnahmezustand nicht verhängen. Die Behörden und die Opposition werden die Anwendung von Gewalt unterlassen. Das Parlament wird eine dritte Amnestie erlassen, die Amnestie wird den gleichen Bereich illegaler Aktionen abdecken wie die Amnestie vom 17. Februar 2014. Beide Parteien werden ernsthafte Anstrengungen zur Normalisierung des Lebens in den Städten und Dörfern, durch den Rückzug aus Verwaltungs- und öffentlichen Gebäuden und durch Entsperren von Straßen, Parkanlagen und Plätzen, unternehmen. Illegale Waffen sollten dem Innenministerium innerhalb von 24 Stunden nach in Kraft treten des Sondergesetzes, gemäß Punkt 1 dieses Dokuments, übergeben werden. Nach dieser Frist fallen alle Fälle von illegalem Transport und Lagerung von Waffen wieder unter die Gesetze der Ukraine. Die Behörden und die Opposition werden die Konfrontation verringern. Die Regierung wird die Ordnungskräfte nur für den physischen Schutz von öffentlichen Gebäuden nutzen.

6. Die Außenminister von Frankreich, Deutschland, Polen und der Repräsentant des Präsidenten von Russland rufen dazu auf, die Gewalt und die Konfrontation sofort zu beenden.“

Heute wissen wir, dass dieses Abkommen von der damaligen Opposition und neuen Regierung in fast allen Punkten gebrochen wurde. Die in Punkt 2 geforderten Verfassungsreformen hat es bis heute nicht gegeben, lediglich die Verfassung von 2004 wurde in Kraft gesetzt. Die in Punkt 3 genannten vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurden abgehalten, ohne vorher eine neue Verfassung verabschiedet zu haben. Die Untersuchungen der „jüngsten Gewaltakte“, die in Punkt 4 vereinbart war, wurde ebenfalls bis heute nicht abgeschlossen, der Europarat meldet keine nennenswerten Fortschritte. Und die Entwaffnung der illegal bewaffneten Kräfte des Maidan wurde nie durchgeführt, wie wir noch sehen werden.

Aber das konnte zu diesem Zeitpunkt natürlich noch niemand wissen.

Die Reaktionen in der deutschen Presse waren daher einhellig positiv und vielzählig, praktisch jedes Medium vermeldete schnell die Einigung, jedoch nur wenige berichteten auch sofort von den Gegnern des Abkommens. Zumindest an diesem Tag entstand in Deutschland zunächst der Eindruck, dass das Schlimmste nun vorbei wäre.

Die russischen und ukrainischen Medien thematisierten das Abkommen weit weniger, dort lag der Fokus auf der Gefahr weiterer Gewalt von Seiten der radikalen Gegner des Kompromisses und auf anderen Entwicklungen, wie den vorgezogenen Wahlen, Rücktritten von Beamten, Politikern, die die Regierungspartei von Janukowitsch verließen und ähnlichem.

Wieder war der schon zitierte Newsticker der „Vesti“ am schnellsten und verkündete um 16.00 Uhr Ortszeit: „Die Bewegung Rechter Sektor, der radikale Flügel des Maidan, bezeichnet die Ankündigung von Janukowitsch, vorzeitige Neuwahlen abhalten zu lassen als „Augenwischerei“ und erklärte, die Nationale Revolution fortzusetzen“ Und erst fünf Minuten später kam die Meldung: „Die drei Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjahnybok unterschreiben mit Präsident Janukowitsch eine Vereinbarung zur Beilegung der Krise in der Ukraine

Die Reaktionen auf die Vereinbarung waren dann etwas später auch in Deutschland nicht mehr überall so hoffnungsvoll, wie in den ersten Berichten. Die ersten Berichte über die Kritiker der Vereinbarung erschienen in Deutschland am späten Abend. Dort wurde die kategorische Ablehnung des Abkommens durch den Rechten Sektor thematisiert. So titelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am Abend „Ein Land im Umbruch“ und schrieb: „Pfiffe und Buhrufe: Einige aufgebrachte Demonstranten sind dennoch nicht zufrieden. Als Vitali Klitschko die Entwicklungen des Tages auf dem Maidan als „sehr wichtig“ beschreibt, bricht die Menge in ein Pfeifkonzert aus. Ein maskierter Mann stürmt ans Mikrofon und fordert Janukowytschs Rücktritt bis Samstagmorgen um 10 Uhr. „Sonst greifen wir mit Waffen an!“[40]

Auch der „Spiegel“ schrieb spät am Abend unter dem Titel „Proteste in Kiew: Radikale stellen Janukowitsch Ultimatum“ detaillierter über den Widerstand des Rechten Sektors: „Aufgebrachte Demonstranten in Kiew haben die Einigung der Opposition mit der Regierung am Freitagabend abgelehnt. Dmitrij Jarosch, Anführer der radikalen Splittergruppe Rechter Sektor, kündigte auf dem Maidan an, die Waffen nicht niederzulegen, bevor Präsident Wiktor Janukowitsch nicht zurücktrete. Nationalistische Aktivisten bekamen Applaus für ihre Ankündigung, am Samstagvormittag das Präsidialamt zu stürmen, falls Janukowitsch bis dahin nicht gegangen sein sollte. Tausende Demonstranten auf dem Maidan riefen „Tod dem Verbrecher!“[41]

Die „Neue Züricher Zeitung“ schrieb am 22. Februar unter dem Titel „Ungewissheit bis zum Schluss“ in einem kurzen Artikel von dem Hin und Her des 21. Februar und führte aus: „Noch am Nachmittag stimmte die Werchowna Rada für die Absetzung von Innenminister Sachartschenko – und leitete auch die Umsetzung weiterer Punkte des Abkommens in die Wege. Der «Rechte Sektor», eine weitere radikale Gruppierung der Aktivisten, erklärte allerdings, weiter für die Absetzung Janukowytschs kämpfen zu wollen. Auch auf russischer Seite scheinen nicht alle Fragen ausgeräumt. Anders als die EU-Vertreter Steinmeier und Sikorski unterschrieb der russische Unterhändler Lukin das Abkommen zwischen Opposition und Regierung nicht.[42]

Hier fehlte der Hinweis, dass auch der französische Außenminister nicht unterschrieb, da er vor der Unterzeichnung nach China weiterreiste.

Schon am 21. Februar hatte auch die „Deutsche Welle“ unter der Überschrift „Steinmeier: Über Ukraine nicht zu früh freuen“ geschrieben, dass Russland nicht unterschrieben hatte: „Putin hatte zu den Verhandlungen in Kiew einen eigenen Vermittler entsandt. Der Diplomat Wladimir Lukin unterzeichnete das ausgehandelte Abkommen allerdings nicht. Dies bedeute aber nicht, dass Russland nicht an einem Kompromiss interessiert sei, sagte Lukin. … Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte die EU in einem Telefonat mit Ashton auf, die „radikalen Kräfte“ zu verurteilen, die für den Gewaltausbruch und die Todesopfer in der Ukraine verantwortlich seien.[43]

Die Antwort auf die Frage, warum der russische Vertreter Lukin seine Unterschrift verweigerte, gab das Internetportal „news.ru“, welches unter „Lukin erklärte, warum Moskau die Anti-Krisen-Vereinbarung nicht unterschrieb“ von einem Fernsehinterview bei „Rossia 1“ vom 22. Februar berichtete[44]. Dort warf Lukin die Frage auf, warum Ausländer überhaupt eine innerukrainische Vereinbarung unterschreiben sollten und welche Rolle sie dabei spielten und fragte: „„Inwieweit kontrollieren diese drei Leute (die EU-Außenminister) die Situation?“ Er wies darauf hin, dass es jetzt wichtig sei, die Bedingungen zu erfüllen: entwaffnen und die Straßen räumen. „Darum in einer solchen Situation eine Vereinbarung zu unterschreiben, bei der man nicht weiß, welche Personen und Kräfte diese dann umsetzen sollen … Werden das dann Deutschland zusammen mit Frankreich und Polen realisieren? Die brennen auch nicht gerade vor Freude darauf“ (gemeint ist die Verantwortung für die Umsetzung des Abkommens, Anm. d. Verf.) erklärte er. In dieser Situation unterstrich er, eine solche Vereinbarung zu unterschreiben, sei nicht zielführend. Obwohl die Vereinbarung selbst ein Kompromiss gewesen sei, der „irgendeinen friedlichen Weg“ freimachen könnte, wie er hinzufügte. „Leider ist der Weg aber bisher nicht realisiert“

Bundesaußenminister Steinmeier lobte Lukin am 22. Februar für seine Mitarbeit, wie der „Spiegel“ unter dem Titel „Ukraine Vermittlung: Steinmeier lobt Russland“ schrieb: „Bundesaußenminister Steinmeier lobt Russlands Rolle bei den diplomatischen Verhandlungen in der Ukraine. Der Emissär von Präsident Wladimir Putin habe sehr konstruktiv mitverhandelt, sagte der SPD-Politiker dem SPIEGEL: „Der russische Vertreter hat Brücken bauen geholfen und immerhin den Text paraphiert.[45]

Die russischen und ukrainischen Medien meldeten an diesem Tag auch viele andere politische Ereignisse. So traten viele Politiker aus der „Partei der Regionen“ von Präsident Janukowytsch aus, einige hochrangige Beamte legten ihre Ämter nieder und die Rada brachte im Eiltempo die Verfassungsänderung auf den Weg und erließ ein Gesetz, dass die Freilassung von Julia Timoschenko ermöglichte. Außerdem wurden alle Ordnungskräfte aus Kiew abgezogen.

Bei der Berichterstattung über das Abkommen jedoch überwogen bei russischen und ukrainischen Medien die Bedenken, ob damit die Gewalt ein Ende hätte, denn der bewaffnete und radikale Rechte Sektor wollte es nicht anerkennen.

Schon um 16.06 Uhr, also zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, brachte die ukrainischen „RBK“ einen Artikel mit der Überschrift „Rechter Sektor unzufrieden mit dem Abkommen“, der heute nicht mehr im Netz steht, und zitierte eine Erklärung des Rechten Sektors: „Wenn wir die Erklärung von Janukowitsch lesen, müssen wir als offensichtliche Fakten konstatieren, dass das verbrecherische Regime das Ausmaß seiner Bosheit noch nicht ausreichend realisiert hat.

Später am Abend berichtete das ukrainische Portal „comments.ua“ in einem Artikel, der ebenfalls nicht mehr online ist: „Auf der Bühne des Maidan erklärte Jarosch, dass der Rechte Sektor die Waffen nicht niederlegt und die besetzten Gebäude nicht räumt, solange die „wichtigste Forderung, der Rücktritt Janukowytschs“ nicht erfüllt ist

In der Nacht stürmten die Kämpfer des rechtsextremen Rechten Sektors dann das Regierungsviertel, da dies nach dem Abzug der Polizei aus Kiew nun unbewacht war. Darüber berichtete noch in der Nacht die „Ukrainskaya Prawda“ unter der Überschrift „Parubij: Der Maidan kontrolliert nun ganz Kiew“ und schrieb über einem Auftritt Parubijs auf dem Maidan, bei dem er verkündete, dass nun das Regierungsviertel und diverse andere Gebäude von den „Selbstverteidigungskräften“ besetzt seien, wobei diese zu diesem Zeitpunkt bereits paramilitärisch organisiert waren, wie schon Wochen vorher immer wieder gemeldet wurde, denn er benannte die jeweils aktiven „Hundertschaften“ mit ihren Nummern: „Die 15. Hundertschaft (bewacht) das Innenministerium. Wir haben den Polizisten gesagt, dass sie die Seiten wechseln können. Und wir sind bereit, zusammen mit ihnen zu patrouillieren, aber sie müssen ein gelb-blaues Band anlegen. Dann gehören sie zu uns und dienen dem Maidan“ erklärte der Kommandant“. Auch dieser Artikel ist nicht mehr online.

Am 22. Februar tagte die Rada unter turbulenten Bedingungen. Nachdem sich die Polizei am Vortag zurückgezogen und in der Nacht die Selbstverteidigungskräfte des Maidan das Regierungsviertel gestürmt hatten, mussten die Abgeordneten auf dem Weg in die Rada durch Gruppen bewaffneter und mit Metallschilden ausgerüsteter Maskierter gehen. An der Sitzung der Rada nahmen nur 258 von 450 Abgeordneten teil, was sich auch mit der Einschüchterung durch die maskierten Bewacher der Rada erklären lässt.

Westliche Medien berichteten zwar über diese Bewachung, unterließen es aber, die Frage aufzuwerfen, ob hier nicht möglicherweise eine Einschüchterung der Abgeordneten vorlag und ob Abstimmungen unter solchen Umständen überhaupt anerkannt werden können. Dass diese Frage durchaus berechtigt ist, zeigt folgender Vergleich: Man stelle sich einmal vor, die Abgeordneten des Bundestages müssten vor einer wichtigen Abstimmung durch die Reihen von maskierten und bewaffneten Autonomen oder Hooligans gehen, die sich auch in den Gängen des Bundestages und im Plenarsaal selbst aufhalten, während gleichzeitig keinerlei Polizei anwesend ist. Dass Abgeordnete, die Positionen vertreten, die den Maskierten nicht gefallen, einer solchen Sitzung fernbleiben bzw. aus Angst so abstimmen, wie es die Maskierten wollen, dürfte nicht überraschen. Ob dann aber die Ergebnisse solcher Abstimmungen legitim sind, wenn Teile der Abgeordneten aus Angst nicht erscheinen oder möglicherweise nicht frei abstimmen können, ist eine berechtigte Frage.

Dass kaum mehr als die Hälfte der Abgeordneten anwesend war, wurde in Deutschland nicht thematisiert. Der „Spiegel“ schrieb dazu an jedem Tag unter der Überschrift „Der Nachrichtenüberblick: Janukowitsch verliert die Macht“ und brachte Fotos von den Bewachern des Parlaments[46]. Im Artikel hieß es dazu lediglich: „Sogenannte Selbstverteidigungskräfte bewachen das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei im Zentrum der Hauptstadt

Auch im Newsticker des „Spiegel“ gab es keine Berichte über die Einschüchterung der Abgeordneten. Gleiches galt auch für alle anderen Medien. Stattdessen wurde an jenem Tag überall die Frage aufgeworfen, wo Janukowitsch untergetaucht war.

Russische und ukrainische Medien hingegen berichteten über Einschüchterungen der Abgeordneten. So schrieb z.B. die ukrainische „Lenta“ am 23. Februar unter der Überschrift „Abgeordnete der Swoboda haben Donja zusammengeschlagen“ und führte aus: „Die Abgeordneten Juri Sirotjuk und Leonti Martynjuk der Fraktion der Swoboda haben den fraktionslosen Abgeordneten Alexander Donja zusammengeschlagen. Das berichtet ein Mitarbeiter des Opfers, wie UNN mitteilt. Die Attacke fand am Samstag dem 2 Februar auf der Toilette der Rada statt. Nach Angaben seines Mitarbeiters liegt Donja mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus.[47]

Auch die russische Zeitung „nakanune“ berichtete über die Vorfälle. Sie schrieb am 26. Februar in einem langen Artikel unter der Überschrift „Warum die Kiewer Regierung nicht als legitim bezeichnet werden kann“ über die Vorkommnisse, die zu dem Regierungswechsel geführt haben und führte aus: „“Ich rief meinen Freund Vitali Gruschevski an“ berichtete am 22. Februar der Abgeordnete Oleh Zarjow „er antwortete nicht. Dann rief ich seinen Mitarbeiter an, der mir erzählte, dass Vitali Gruschevski vor dem Parlament zusammengeschlagen worden ist. Einigen Abgeordneten wurden die Stimmkarten abgenommen und diese Karten werden bei Abstimmungen benutzt. … Im Saal fehlen auch Simonenko und viele andere vorher zusammengeschlagene Abgeordnete“ … „Die Abgeordneten der Kommunistischen Partei sind von Kämpfern des „Euromaidan“ festgesetzt worden“, teilt der Politologe Konstantin Dolgov auf seiner Facebook Seite mit. „Die Fraktion der Kommunistischen Partei ist im Moment in Gefangenschaft der Eurofaschisten! Im Parlament wird heute mit ihren Karten abgestimmt, aber das sind nicht sie selbst. Viele, einschließlich Simonenko, sind zusammengeschlagen worden. …“ schrieb Dolgov. Die Information wird von dem Politologen Vladimir Kornilov bestätigt, der in seinem Blog die Frage stellt, warum den ganzen Samstag bei Abwesenheit der Abgeordneten mit ihren Stimmkarten abgestimmt wurde. „Wer hat im Saal Petr Simonenko, Alexander Goluba und andere Abgeordnete der Kommunisten gesehen?“ fragt Kornilov „Auf den Plätzen der Kommunisten saßen den ganzen Tag maximal 7-8 Leute (Sie können sich auf dem Foto davon überzeugen) … Aber sehen Sie die Abstimmungsergebnisse! Für die Einsetzung von Turtschynow, für die Freilassung von Timoschenko, für die Absetzung Janukowytschs haben über 30 Abgeordnete der Kommunisten gestimmt, einschließlich der abwesenden Simonenko und Goluba“ Zur Bestätigung seiner Worte hat Kornilov ein Foto der Sitzung vom 22. Februar gepostet, auf dem die leeren Sitze der Kommunisten zu sehen sind. Aber das Sitzungsprotokoll vermerkt bei fast allen Abstimmungen über 30 Stimmen der Kommunisten.“[48]

Es folgten noch weitere Berichte über Unregelmäßigkeiten und Verstöße gegen das Parlamentsreglement und andere Angriffe auf Abgeordnete, darunter der schon erwähnte Herr Donja. Dann folgte:„„Und Oleh Zarjow schreibt am 24. Februar: „Die freie Meinungsäußerung vieler Abgeordneter muss ernsthaft angezweifelt werden. Abgeordnete der Partei der Regionen und ihre Familien wurden bedroht, sie sind verängstigt. Die Leute werden unter Druck gesetzt“

Man könnte dies als übertriebene russische Propaganda abtun, zumal sich hiervon nichts in den westlichen Medien fand. Aber ausgerechnet das schon erwähnte abgehörte Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet bestätigt diese Meldungen. Paet erwähnte gegenüber Ashton, dass Abgeordnete auch noch Tage später auf der Straße vor dem Parlament zusammengeschlagen wurden und Ashton schien darüber nicht überrascht zu sein. Auch über bewaffnete Maskierte, die im Regierungsviertel patrouillierten und sicher keine Polizisten waren, sprach er.

Jedenfalls stimmte die Rada an diesem Tag einer ganzen Reihe von Gesetzen zu, unter anderem der Freilassung Timoschenkos als auch der Absetzung Janukowytschs.

Die Absetzung Janukowytsch wird bis heute von Putin als „bewaffnete Machtergreifung“ oder „verfassungswidriger Staatsstreich“ bezeichnet. Daher lohnt sich ein Blick in die ukrainische Verfassung[49], um zu prüfen, ob dies Propaganda oder zumindest teilweise wahr ist. Artikel 108 regelt, unter welchen Umständen eine Präsidentschaft vorzeitig enden kann und nennt vier Gründe: „1) Rücktritt; 2) Verhinderung der Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen; 3) Amtsenthebung in einem Amtsenthebungsverfahren; 4) Tod“.

Da Janukowitsch einen Rücktritt abgelehnt hatte, gesundheitliche Gründe nicht vorlagen und er nicht gestorben war, musste er gemäß Verfassung per Amtsenthebungsverfahren abgesetzt werden. Dies wird in Artikel 111 geregelt: „Der Präsident der Ukraine kann wegen des Begehens von Hochverrat oder eines anderen Verbrechens vom Parlament der Ukraine in einem Amtsenthebungsverfahren vorzeitig des Amtes enthoben werden. Die Frage der Amtsenthebung des Präsidenten der Republik in einem Amtsenthebungsverfahren wird von der Mehrheit der durch die Verfassung bestimmten Anzahl der Mitglieder des Parlaments der Ukraine initiiert.

Anschließend wird das Prozedere definiert: Einrichtung einer Untersuchungskommission mit Staatsanwalt und Sonderermittler, dann muss auf Basis der Untersuchung ein Beschluss über eine Anklageerhebung fallen, dann ist eine Prüfung der Angelegenheit durch das Verfassungsgericht vorgesehen und erst danach eine Abstimmung in der Rada, bei der mindestens 75% der Abgeordneten für die Amtsenthebung stimmen müssen. Interessanterweise bezog sich die Rada dann in ihrem Gesetz zur Absetzung von Janukowitsch auf den Artikel 112 der Verfassung, der aber nichts mit der Amtsenthebung zu tun hat, sondern nur regelt, dass der Premierminister in der Übergangszeit bis zur Wahl eines neuen Präsidenten die Amtsgeschäfte führt. Wobei hier zu beachten ist, dass dies ab 1996 galt, 2004 geändert wurde, diese Änderung aber vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, womit wieder die ursprüngliche Version von 1996 in Kraft trat.

Auch gegen diesen Artikel verstieß die Rada übrigens, indem sie nicht den (amtierenden) Premierminister zum Übergangspräsidenten ernannte, sondern den gerade neu eingesetzten Parlamentspräsidenten Turtschynow, der damit seine Ernennung gleich selbst unterschreiben konnte. Um dies verfassungskonform aussehen zu lassen, setzte sie sich über die Entscheidung des Verfassungsgerichtes von 2010 hinweg und hob die Entscheidung kurzerhand auf.

Da an jenem Tag jedoch nur eine Abstimmung zur Amtsenthebung stattfand, ohne die in der Verfassung vorgesehenen Vorbereitungen (Untersuchungskommission, Bericht, Prüfung durch Verfassungsgericht, etc.), muss die Absetzung Janukowitsch als verfassungswidrig bezeichnet werden. Hinzu kommt, dass die in der Verfassung vorgesehene Mehrheit von 75% der Stimmen für eine Absetzung nicht erreicht wurde. Für seine Absetzung stimmten 328 der 450 Abgeordneten, das sind allerdings nur 73%. Daher wurde objektiv das Amtsenthebungsverfahren verletzt, die nötige Mehrheit im Parlament nicht erreicht und sich in dem Gesetz über die Absetzung auch noch auf einen Artikel der Verfassung berufen, der mit Absetzung des Präsidenten nichts zu tun hat. Das sind drei objektive Brüche der Verfassung, weshalb die Absetzung Janukowytschs nach den Buchstaben des Gesetzes illegal und ein Bruch der Verfassung war.

Dies thematisierte der „Spiegel“ am 6. März in seiner Rubrik „Münchhausen-Check“ und setzte sich mit der Argumentation Russlands auseinander, dass Putin Janukowytsch noch als Präsidenten sah und die neue Regierung „illegitim“ nannte[50]. Dabei kam der Spiegel zu dem Fazit: „Betrachtet man den Präsidentschaftswechsel in der Ukraine „rein juristisch“, hat Putin recht. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich ist – und es ist eine noch andere, ob Putin einen glaubwürdigen Anwalt des Rechtsstaats abgibt. Note: dennoch ein Gut

Ob man der Argumentation des „Spiegel“ folgen möchte, dass in „revolutionären Zeiten“ Verfassung und Gesetze eines Landes vernachlässigt werden können, darf jeder für sich entscheiden. Da sich der Westen und mit ihm die deutschen Medien und Politiker jedoch im weiteren Verlauf des Konfliktes immer wieder auf die ukrainische Verfassung beriefen, wenn es z.B. um die Abspaltung der Krim ging, stellt sich die Frage, warum die Verfassung bei den „revolutionären Zeiten“ in Kiew vernachlässigt werden konnte, aber in den „revolutionären Zeiten“, die danach auf der Krim anbrachen jedoch geachtet werden sollte. Auch spielt es bei der Analyse dieser Frage kaum eine Rolle, ob man in „Putin einen glaubwürdigen Anwalt des Rechtsstaats“ sehen kann oder nicht. Eine berechtigte Frage, wie die nach der Einhaltung der ukrainischen Verfassung, wird nicht dadurch entwertet, dass sie von Leuten gestellt wird, die einem möglicherweise politisch unsympathisch sind. Die Frage selbst bleibt berechtigt und es stellt sich eher die Frage, warum die westlichen Medien dieser Frage nicht energischer nachgegangen sind, wo sie doch sonst stets – völlig berechtigt – die Einhaltung von Recht und Gesetz einfordern.

Auch die „Huffington Post“ kam am 10 März zu dem gleichen Ergebnis wie der „Spiegel“ in seinem „Münchhausen-Check“, als sie über die Unterstützung der neuen Regierung durch die britische Regierung berichtete[51]. Dabei zitierte sie zunächst Außenminister William Hague: „Ex-Präsident Janukowitsch hat erst seinen Posten und dann das Land verlassen und die Entscheidung, ihn durch den Übergangspräsidenten zu ersetzen wurde von der Rada getroffen, mit einer großen Mehrheit, auch aus seiner eigenen Partei, wie von der Verfassung verlangt, daher ist es falsch, die Legitimierung der neuen Regierung in Frage zu stellen

Danach kommentierte die Zeitung: „Das erweckt den Eindruck, als wären die Prozeduren, die die ukrainische Verfassung für eine Amtsenthebung des Präsidenten vorschreibt, eingehalten worden, obwohl dies in Wahrheit nicht der Fall ist und daher ist die neue Regierung in Kiew illegitim

Inzwischen wird oft argumentiert, dass Janukowytschs Flucht aus Kiew eine Ausnahmesituation geschaffen hätte, in der man ihn auf diesem Wege absetzen konnte. In der Verfassung ist dies nicht vorgesehen. Und wenn ein Präsident oder eine Regierung mit Waffengewalt aus der Hauptstadt oder gar dem Land vertrieben wird, ist dies in jedem Land der Welt etwas, was als „Putsch“ bezeichnet wird. So etwas dann als quasi-juristische Rechtfertigung zu nutzen, ist – gelinde gesagt – eine abenteuerliche Argumentation.

Die weiteren Nachrichten an diesem Tag beschäftigten sich mit der Freilassung Timoschenkos, die am gleichen Abend noch auf dem Maidan eine Rede hielt, in der sie zur Fortsetzung des Kampfes aufrief.


[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-trifft-vitali-klitschko-und-arsenij-jazenjuk-in-berlin-a-954069.html

[2] http://www.n-tv.de/politik/Klitschko-und-Jazenjuk-mit-leeren-Haenden-article12297306.html

[3] http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/thema_nt/article125103098/Die-radikale-ukrainische-Gruppe-Rechter-Sektor.html

[4] http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Strassenschlacht-fordert-25-Tote/story/12069986?track

[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-mehrere-tote-bei-krawallen-in-kiew-a-954218.html

[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/maidan-in-kiew-klitschko-bricht-treffen-mit-janukowitsch-ab-a-954306.html

[7] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-frauen-und-kinder-sollen-den-maidan-verlassen-a-954283.html

[8] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-angriffe-auf-janukowitschs-parteizentrale-a-954138.html

[9] http://vesti-ukr.com/politika/37955-demonstracija-sily-pod-verhovnoj-radoj-hronika-sobytij

[10] http://rian.com.ua/video/20141118/359652755.html

[11] http://izvestia.ru/news/566299#ixzz2uehYiMLg

[12] http://www.unian.net/politics/886919-pod-vr-u-berkuta-panika-oni-krichat-o-boevyih-patronah-u-mitinguyuschih.html

[13] http://www.unian.net/politics/887308-na-maydane-snayperyi-otstrelivayut-ranenyih-puli-probivayut-bronejiletyi-video.html

[14] http://www.manager-magazin.de/politik/artikel/a-954743.html

[15] http://glavred.info/politika/miliciya-poluchila-oruzhie-i-razreshenie-strelyat-prikaz-glavy-mvd-271672.html

[16] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-tote-bei-neuen-krawallen-in-kiew-nach-bruch-der-waffenruhe-a-954583.html

[17] http://www.spiegel.de/politik/ausland/liveticker-die-lage-in-der-ukraine-a-954619.html

[18] https://www.youtube.com/watch?v=cVF89aY0MzY

[19] http://www.spiegel.de/politik/ausland/krise-in-der-ukraine-telefonat-mit-ashton-abgehoert-a-957159.html

[20] https://zn.ua/internal/gennadiy-moskal-odnovremenno-snaypery-poluchili-ot-vlasti-ukazanie-rasstrelivat-ne-tolko-protestuyuschih-no-i-milicionerov-_.html

[21] http://world.guns.ru/shotgun/ua/fort-500-e.html

[22] https://www.youtube.com/watch?v=TUBdYX0I35g

[23] http://vesti-ukr.com/strana/45785-kto-i-kak-ubival-ljudej-na-majdane

[24] http://banderivets.org.ua/deklaratsiya-nashyh-pryntsypiv.html

[25] http://www.bpb.de/internationales/europa/ukraine/185496/analyse-die-ukrainische-radikale-rechte-die-europaeische-integration-und-die-neofaschistische-gefahr

[26] http://www.handelsblatt.com/politik/international/ermittler-legen-bericht-vor-wer-waren-die-todesschuetzen-vom-maidan/10738792.html

[27] http://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise-ukraine-als-thema-auf-der-un-generaldebatte_id_4152733.html

[28] http://www.rbc.ua/rus/news/politics/rada-progolosovala-za-vyvod-voennyh-formirovaniy-iz-kieva-20022014221100

[29] http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1565493/Parlament-beschloss-Ende-des-AntiTerrorEinsatzes?_vl_backlink=/home/index.do

[30] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-die-lage-in-kiew-und-die-haltung-von-eu-russland-und-usa-a-954728.html

[31] http://www.spiegel.de/politik/ausland/marina-weisband-ueber-maidan-und-protest-in-kiew-a-954479.html

[32] http://www.manager-magazin.de/politik/artikel/a-954743.html

[33] http://www.spiegel.de/politik/ausland/kampf-um-die-ukraine-schachspiel-im-minenfeld-a-954527.html

[34] http://vesti-ukr.com/strana/38709-na-bankovoj-dogovorilis-o-soglashenii-po-vyhodu-iz-krizisa

[35] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-praesident-janukowitsch-verkuendet-einigung-mit-opposition-a-954777.html

[36] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-janukowitsch-verwirrt-mit-aussage-zu-einigung-a-954810.html

[37] http://timer.od.ua/news/yanukovich_initsiiruet_dosrochnie_prezidentskie_vibori_i_vozvrat_k_parlamentskoy_respublike_526.html

[38] http://www.focus.de/politik/ausland/proteste-in-der-ukraine-jetzt-kontrolliert-der-maidan-ganz-kiew_id_3635171.html

[39] https://www.auswaertiges-amt.de/blob/260130/db4f5326f21530cad8d351152feb5e26/140221-ukr-erklaerung-data.pdf

[40] http://www.faz.net/aktuell/politik/die-ereignisse-im-ueberblick-ein-land-im-umbruch-12814871.html

[41] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-maidan-demonstranten-fordern-janukowitsch-ruecktritt-a-955007.html

[42] http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ungewissheit-bis-zum-schluss-1.18248963

[43] http://www.dw.de/steinmeier-über-ukraine-nicht-zu-früh-freuen/a-17450428

[44] http://www.newsru.com/russia/22feb2014/lukin_print.html

[45] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-mission-steinmeier-lobt-russland-a-955114.html

[46] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-kiew-janukowitsch-entgleitet-die-macht-a-955044.html

[47] http://lenta.lviv.ua/other/2014/02/23/33797.html

[48] http://www.nakanune.ru/articles/18678/

[49] http://www.verfassungen.net/ua/verf96-i.htm

[50] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-faktencheck-putin-und-der-legitime-praesident-a-957238.html

[51] http://www.huffingtonpost.co.uk/david-morrison/ukraine-willliam-hague_b_4933177.html

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