Von Fedor Lukjanow, Vorsitzender des Rates für Außen-und Verteidigungspolitik
Quelle: www.kommersant.ru, Übersetzung: fit4Russland
Die Welt hat noch immer nicht gelernt, den gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten richtig „zu deuten“. Es wird wohl aber so langsam Zeit dafür…
In früheren, ruhigeren Zeiten gab es im Sommer in der internationalen Arena eine Ruhephase — so eine Art politischen Urlaubs. Jetzt fällt das Auf-eine-Pause-warten wohl aus, die politischen Ereignisse entwickeln sich weiterhin schnell und dichter als zuvor. Wenn wir traditionell versuchen, die Bilanz der hinter uns liegenden Arbeitssaison in der Weltpolitik auszuwerten, besteht kein Zweifel daran, wer dort Hauptfigur ist, wer „Superstar“ der globalen Show.
US-Präsident Donald Trump dominiert alle Genres: Er ist bestimmend in den Nachrichten, Diskussionen, Parodien, Posts in sozialen Netzwerken, analytischen Notizen und geheimen Berichten. Die Handlungen und Taten des US-Präsidenten bestimmen die Weltatmosphäre und diktieren die globale Tagesordnung.
Die Vereinigten Staaten sind seinetwegen in eine Art der Isolierung geraten— nur sehr wenige Verbündete unterstützen den Kurs von Trump. Doch genau diese erzwungene (zielgerichtete) Absonderung der USA betont noch deutlicher ihre derzeitige Macht, ihre Rolle und ihre Möglichkeiten im internationalen System. Erbitterte Kritiker und Gegner von Trump zucken ratlos die Achseln und müssen seine Aktivitäten ohnmächtig hinnehmen.
Ein Begriff, der oft in Bezug auf Trump benutzt wird, ist Unberechenbarkeit. Genau das wird heute als wichtigste Quelle der Instabilität in der Welt betrachtet. Diese Einschätzung ist jedoch paradox.
Dem Präsidenten kann man zwar viele Dinge vorwerfen – angefangen mit Leichtsinn und Starrköpfigkeit bis hin zu Unverfrorenheit und Unwissen, aber keinesfalls Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Er macht im wesentlichen solche Schritte, die konsequent aus seinem Wahlprogramm stammen, mit dem er letztendlich das höchste Amt im Staate erlangte. Keiner der Schritte von Trump, nicht einmal jene, welche die größten „Shit“stürme in anderthalb Jahren seiner Präsidentschaft verursacht haben, kam völlig unerwartet.
Die Absage bezüglich des Freihandelsabkommens TTIP und der Verträge mit dem Iran, beginnende Handelskriege mit den großen Volkswirtschaften der Welt, mit allen, und seine harte Migrationspolitik, der Kampf gegen NATO-Verbündeten, die nicht anteilig korrekt für die Bündnis-Kosten aufkommen wollen, die Verschiebung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem und die regelmäßige Anwendung (oder Drohung der Anwendung) von staatlicher Gewalt, seine Steuersenkungen und die Erhöhung der militärischen Ausgaben – all dies ist nicht nur nachlesbar im Präsidentschafts-Wahlprogramm des Kandidaten Donald Trump enthalten, sondern steht auch seit vielen Jahren in seinen Reden, Artikeln, Büchern und Interviews.
Als neulich der ehemalige US-Präsidenten Berater für strategische Fragen, Steve Bannon, in einem Interview mit der BBC sagte, dass er glaube, dass Mr. Trump nie gelogen hätte, verursachte dies geradezu eine Explosion von spöttischen Kommentaren. Donald Trumps Bild, das von seinen unzähligen Gegner behauptet wird, ist das eines skrupellosen Demagogen, der zu lügen pflegt, wann immer er es braucht. Und dieses Bild wird durch die Tatsache bestätigt, dass zu Präsident Trump die russische Redewendung „Zunge ohne Knochen“ sehr gut passt – so es ihm aufrichtig gleichgültig zu sein scheint, wenn er denn eben angegangen wird, und er in einigen Fragen mit einem Abstand von anderthalb Stunden plötzlich genau das Gegenteil sagt.
Das ist nur seinem Bedürfnis geschuldet, die ganze Zeit im Rampenlicht zu stehen. Aber die taktische, kurzfristige Inkonsequenz und wirklich sehr viel mehr als nur freie Interpretation der Fakten wird durch die konsequente Einhaltung seiner strategischen Vision mehr als kompensiert. Hinter vereinzelten Bäumen einer fortgesetzten Clownerie darf man den kompakten Wald durchdachter Zielsetzung nicht übersehen. Und bezüglich seiner Absichten verstellt sich Trump wirklich nicht.
Trump ist Phrasendrescher, wie alle amerikanischen Politiker. Obwohl: In seinem Fall erreichen nicht seine Wortspiele die Grenze von Absurdität, sondern vielmehr die Schlagzeilen über ihn. Seine verbalen Ströme, Wortschwälle, die manchmal schwer nachzuempfinden sind, wirken zwar ausgesprochen lächerlich, sind jedoch ohne verachtenswerte Heuchelei.
Und hier ist eines der Geheimnisse seines Erfolgs in den Augen der mehrheitlichen US-Wähler. Die Menschen spüren seine persönliche Aufrichtigkeit, von der die letzten Funken bei der Mehrheit von Politikern vor langer Zeit bereits verschwunden schienen. Man kauft ihm ab, dass er das auch genau so denkt, wie er es sagt. Den Wählern scheint, dass Donald Trump sich ihren wahren Problemen zugewendet hat – dem, was einfache Bürger brennend interessiert.
Iwan Krastev, jener bulgarische politische Kommentator, der – wie wiederholt gezeigt – über eine feine Intuition in der Erkennung und Bewertung sozial-politischer Prozesse verfügt, erklärt in seinem jüngsten Buch, warum zum Beispiel der Migrationsfluss zu einem Wendepunkt in der europäischen Politik wurde: „Die Unfähigkeit und Weigerung der liberalen Eliten, über die Migration zu debattieren und mit deren Folgen fertig zu werden, ihre laut vorgetragene Überzeugung, dass die bestehende Politik für alle von Vorteil sei, stellt für viele Liberalismus und Heuchelei auf die gleiche Stufe. Die Rebellion gegen die Heuchelei der liberalen Eliten verändert die politische Landschaft Europas.“
Auch in Amerika ist die Migration das Thema Nummer Eins. Vor allem wurde es verschärft wegen des Problems der Familien-Trennung von illegalen Migranten an der mexikanischen Grenze. Trump hatte hier offensichtlich übertrieben: Kinder von Eltern zu trennen ist eine so offensichtliche Spielart von Grausamkeit, dass es sogar Unterstützer von harten Maßnahmen schockierte. Aber es ist kein Wunder, dass das Migrationsthema zu einem allgegenwärtigen Zünder wurde: In der Wahrnehmung der Europäer und Amerikaner ist dies eine Frage der physischen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der üblichen Lebensweise, die Notwendigkeit der Durchsetzung öffentlicher Ruhe und Ordnung.
Trump ist überzeugt von seiner eigenen Rechtsauffassung. Auf seine Art ist er ein wahrer Missionar, der passgenau mit der amerikanischen politischen Tradition übereinstimmt. Und die Aufregung, die er produziert, ist wohl hauptsächlich damit verbunden, dass die Mission, der er sich verpflichtet sieht, die Zerstörung dessen ist, was seine Vorgänger in der Präsidentschaft der letzten paar Jahrzehnte seiner Meinung nach fehlkonstruiert haben, nämlich das System einer globalen amerikanischen Führung unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung.
Donald Trumps Auftreten ist nicht der Grund für den Wechsel, sondern eine Folge stattgehabter Veränderungen. Der amerikanische Kurs nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich politisch erschöpft. Auch wirtschaftlich. Aus Donald Trumps Sicht dürfen die Kosten dafür, „die Welt zu regieren“, die Dividenden nicht wirklich übersteigen (Dominanz ist immer noch eine sehr profitable Sache), aber sie taten es ganz offensichtlich. Die Entstehung neuer globaler Konkurrenten, vor allem Chinas, hat dieser offensichtlich entstandenen Ineffektivität eine zeitliche Grenze gesetzt. Nämlich die, bis zu der die unbegrenzte Macht in der Welt noch relativ billig zu haben war.
Die Abgabe der direkten Führerschaft bedeutet jedoch nicht, auch die erreichte Dominanz aufzugeben. „Obwohl Trumps Regierung viele Säulen des Liberalen Internationalismus gestürzt hat, bleibt ihr Kurs im Bereich der Sicherheit konsequent hegemonial“, wie neulich der bekannte Theoretiker der internationalen Beziehungen, Barry Posen, schrieb. Barry Posen erschließt jedoch nicht aus, dass die nicht-liberale Hegemonie „stabiler als ihre liberale Cousine“ sein wird. Trump und seine Anhänger wollen einer Fragmentierung des Systems der internationalen Beziehungen durch ein viel höheres Maß an Geschlossenheit auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken. Das wäre dann die Senkung des Preises der Hegemonie: Ein Protektionismus im breiteren Sinne, angefangen von der Einführung von Zinsen für konkurrierende Waren und Dienstleistungen bis hin zu Barrieren auf dem Weg des Zustroms von Menschen aus anderer Kultur und Tradition.
Die ideologischen Anhänger von Trump sagen, dass er bei allen offensichtlichen Nachteilen seiner Persönlichkeit fast die letzte Chance Amerikas und des Westens ist, ihre Identität beizubehalten. Noch ein bisschen, und es wird zu spät sein, die Welle wird sie verschlingen.
Das Paradoxon der Reaktion auf Trump ist, dass seine Ideologie sich nachgewiesenermaßen überhaupt nicht von der amerikanischen politischen Tradition unterscheidet. Darüber hinaus: Solche Ansätze, wie die seinen, bestimmten den größten Teil der amerikanischen Geschichte, wenn man sich die gesamte Periode der Existenz der Vereinigten Staaten anschaut.
Das Gefühl einer „Stadt auf dem Hügel“, das der politischen Selbstidentifizierung US-Amerikas zugrunde liegt, kann schließlich auf zwei Arten verwirklicht werden – durch Politik der aggressiven Aufdrängung, Überstülpung der „Wahrheit“ an und über die Welt (so wie es in den letzten drei Jahrzehnten geschah) oder durch die Verkapselung in sich selbst und des „Strahlens“ für alle anderen in der Rolle des führenden, aber nicht erreichbaren Leuchtturms. Letztere Art war eher früher in der amerikanischen Politik charakteristisch.
Es ist wohl ziemlich symbolisch, dass Präsident Trump genau 100 Jahre nach Präsident Woodrow Wilson diese Renaissance in der amerikanischen Außenpolitik eingeleitet hat – jener hatte seinerzeit den Eintritt des Landes in den Ersten Weltkrieg bewirkt. Dies war damals der erste Schritt zur globalen US-Führung, deren „Vergöttlichung“ als der einen auserwählten Nation leider dann am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schrill ausuferte. Wilson kann sogar als sehr interessantes Urbild für Trumps Schicksal verstanden werden. Der Präsident, der die Richtung der Außenpolitik der Vereinigten Staaten für Jahrzehnte strategisch äußerst geschickt bestimmte, wurde konkret in diesem Moment des Kriegseintritts von seiner eigenen herrschenden Klasse missverstanden, und die Kongressabgeordneten verhinderten den Beitritt der USA in die Liga der Nationen, die doch von Wilson erfunden worden war.
Die Präsidentschaft endete zwar scheinbar erfolglos, aber viel später, als dann der Lauf der Dinge seine geniale Weitsichtigkeit und Antizipationsfähigkeit bewiesen hatte, wurde Woodrow Wilson dort eingeordnet, wo er hingehört: In die Reihe der prominentesten Reformer der amerikanischen Geschichte. Was Präsident Trump (oftmals ein Anti-Wilson) erreichen wird, ist ungewiss. Amerika hat Flasche leer. Der Grad der innenpolitischen Verbissenheit in Amerika ist beispiellos und der persönliche Hass gegen Donald Trump im abgewählten alten Establishment und seinen intellektuellen Kreisen extrem heftig. Aber ebenso wie Wilson damals das Tor in eine neue politische Realität aufstieß, startet der jetzt kommende politische Zyklus als eine Renaissance. Präsident Trump wurde dadurch auch zu einem Meilenstein, der den vorherigen Kurs vom neuen trennt. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass der Präsident nach ihm, in zweieinhalb oder sechseinhalb Jahren, ein Politiker absolut anderen Typs und Ansehens sein wird. Die Müdigkeit in der Gesellschaft hinsichtlich Donald Trumpscher Extravaganz wird unweigerlich kommen. Aber ein anderer Präsident wird nicht mehr in der Lage sein und es wahrscheinlich auch nicht wollen, die neue Realität, die jener jetzt so entschlossen baut, nach der Präsidentschaft Mr. Trumps zu demontieren. Ein anderer Stil – ja, ein anderer Inhalt – wofür? Donald Trump wird voraussichtlich die ganze schmutzige Arbeit durchführen, wird – viel Feind, viel Ehr- alle Empörung auf sich versammeln und, wenn er die politische Arena verlässt, für seinen Nachfolger einen Win-Win-Platz schaffen. Der kann dann eine beneidenswerte Position als Ausnutzer, Versöhnungs- und Konsensbaumeister einnehmen.
Aber das bereits auf einer neuen Basis.
Und in einer neuen Welt.
***********
Wandere aus, solange es noch geht!
Hinterlasse jetzt einen Kommentar