Sisyphos erlöst

Sisyphos erlöst

 

Uri Avnery אורי אבנרי
Übersetzt von  Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس
Herausgegeben von  Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي

 

WENN ES einen Gott gibt, hat er sicher eine Menge Humor. Die Karriere von Shimon Peres, der dabei ist, seine Regierungszeit als Präsident von Israel zu beenden, ist ein klarer Beweis dafür.

Hier ist ein lebenslanger Politiker, der nie eine Wahl gewonnen hat. Hier ist der weltbekannte Mann des Friedens, der mehrere Kriege begonnen hat und nie etwas für den Frieden getan hat. Hier ist die  populärste politische Person, die den größten Teil ihres Lebens gehasst und verachtet wurde.

Einmal, vor mehreren Jahrzehnten, schrieb ich über ihn einen Artikel mit dem Titel „Mister Sisyphus“.  Sisyphos – man erinnere sich – war in alle Ewigkeit dazu verurteilt, einen schweren Felsblock auf die Spitze eines Hügels zu rollen, und jedes Mal, wenn er beinahe sein Ziel erreicht hatte, rutschte ihm der Felsblock aus den Händen und rollte wieder hinab.

Und das ist die Geschichte von Peres Leben  – bis jetzt –gewesen. Gott oder  wer auch immer, hat offensichtlich entschieden: genug ist genug.

ES BEGANN, wie er als Junge, in einem kleinen polnischen Städtchen lebte. Viele Male beklagte er sich bei seiner Mutter, die andern Schüler in der(jüdischen) Schule schlugen ihn ohne Grund. Sein jüngerer Bruder Gigi musste ihn verteidigen.

Er kam 1934, ein Jahr nach mir, als 11Jähriger in Palästina an (Er ist fünf Wochen älter als ich). Sein Vater sandte ihn auf die landwirtschaftliche Schule in Ben Shemen, ein Kinderdorf, das ein Zentrum für zionistische Indoktrinierung war.  Dort wurde aus dem polnischen Persky der hebräische Peres, der sich der Noar Oved (arbeitende Jugend), der Hauptjugendorganisation der herrschenden Mapai-Partei anschloss. Wie es damals üblich war, wurde er in einen Kibbuz geschickt.

Dort begann seine politische Karriere. Mapai teilte sich in zwei  Teile, so auch die Jugendbewegung. Der Junge und Aktive schloss sich der „Fraktion 2“ an, der linken Abteilung. Peres, ab jetzt ein Instrukteur, war unter den paar, die klug waren, bei der Mapai zu bleiben. Und dies zog die Aufmerksamkeit der Parteiführer an.

Die Belohnung kam bald. Der Krieg von 1948 brach aus. Jeder in unserm Alter eilte, sich der Kampftruppe anzuschließen. Der Krieg war buchstäblich ein Kampf auf Leben und Tod. Peres wurde  von Ben-Gurion ins Ausland geschickt, um Waffen zu kaufen. Zweifellos eine bedeutende Aufgabe, aber eine, die auch von einem 70-Jährigen hätte getan werden können.

Die Tatsache, dass Peres in diesem schicksalhaften kritischen Augenblick nicht in der Armee diente,  wurde nicht vergessen. So verdiente er jahrzehntelang  die Verachtung unserer Generation.

 


 

Shimon Peres, von Vladimir Azbel

 

 

 

ICH TRAF ihn zum ersten Mal, als wir 30 waren – er war schon Generaldirektor des Verteidigungsministeriums und der Liebling von Ben Gurion; ich war der Herausgeber eines populären Oppositionsmagazins. Es war keine Liebe auf den 1. Blick.

In seiner einflussreichen Position war der junge Peres ein entschiedener  Kriegstreiber. Während der frühen 50er-Jahre ordnete das Ministerium eine unendliche Kette von „Vergeltungsschlägen“ an, um das Land  in einem Kriegszustand zu halten. Arabische Flüchtlinge, die nachts zu ihren Dörfern schlichen, wurden getötet; dafür wurden Juden getötet, und inoffizielle Einheiten der Armee  überquerten die Waffenstillstandslinie zur Westbank und zum Gazastreifen, um Zivilisten  und Soldaten  aus  Rache zu töten.

Als die Situation reif war, begannen Ben-Gurion und Peres 1956 den Suez-Krieg. Das algerische Volk erhob sich gegen seine  französischen Kolonialherren. Unfähig zuzugeben, dass  sie sich in einem echten Befreiungskrieg befanden, gaben die Franzosen dem jungen ägyptischen Führer Gamal Abd-al-Nasser die Schuld. In geheimer Absprache mit einer anderen niedergehenden Kolonialmacht, Großbritannien, machten die Franzosen mit Israel im Geheimen aus, Nasser anzugreifen. Dies endete in einem Chaos. Aber Peres und  der Stabschef Moshe Dayan wurden in Israel wie Helden gefeiert: die Männer der Zukunft.

Die Franzosen zeigten ihre Dankbarkeit. Für seine Dienste erhielt Peres  einen militärischen Atomreaktor in Dimona. Peres rühmt sich noch immer, der Vater von Israels Nuklearbewaffnung zu sein.

SEINE KARRIERE  ging klar auf die Spitze zu. Ben-Gurion  ernannte ihn zum stellvertretenden Minister, und er wurde dafür bestimmt, Verteidigungsminister zu werden, die zweit-mächtigste Position in Israel, als sich eine Katastrophe ereignete. Der missmutige „Alte Mann“ stritt mit seiner Partei herum und wurde hinausgeworfen. Peres folgte.  Der Felsen rollte nach unten.

Ben-Gurion bestand darauf, eine neue Partei zu gründen,  und zog einen unwilligen Peres  hinter sich her. Mit  unermüdlicher Energie  durchzog Peres das Land, ging von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, und die „Rafi“-Partei  nahm Form an. Doch trotz all ihrer berühmten Führer gewann sie nur zehn Sitze in der Knesset. (Die Friedenspartei, die ich zur selben Zeit gründete, erhielt ein Siebtel ihrer Stimmenanzahl).

Als Mitglied einer kleinen Oppositionspartei, vegetierte Peres dahin. Die Zukunft schien dunkel, als Nasser zur Rettung kam.  Der ägyptische Präsident sandte seine Armee in den Sinai, Kriegsfieber erreichte einen hektischen Gipfel  und die Öffentlichkeit entschied, dass Ben-Gurions Nachfolger, Levy Eshkol, seine Position als Verteidigungsminister  aufgeben musste. Verschiedene  Namen wurden erwähnt. Ganz oben auf der Liste stand Peres.

Und dann geschah es wieder. Moshe  Dayan schnappte den Preis weg und wurde Verteidigungsminister, Sieger des Krieges von 1967 und ein weltweit bekannter Held. Peres  blieb ein grauer Politiker, ein kleiner Minister. Der Felsen rollte wieder hinab.

Sechs ruhmreiche Jahre lang war Moshe Dayan der Kapitän auf dem Narrenschiff, bis das Fiasko des Jom-Kippurkrieges kam. Er und Golda Meir wurden  vom Tisch gewischt, und das Land brauchte einen neuen Ministerpräsidenten. Peres war der offensichtlichste Kandidat. Aber im allerletzten Augenblick,  erschien – praktisch aus dem Nichts – Yitzhak Rabin und schnappte den Preis weg. Peres musste  sich mit dem Verteidigungsministerium zufrieden geben.

Er war es nicht. Die nächsten drei Jahre widmete er Tag und Nacht unermüdlich seinem Drang, Rabin  zu unterminieren. Der Kampf wurde  notorisch, und Rabin erfand einen Titel, der Peres viele Jahre lang anhing: „Unermüdlicher Intrigant“.

Die Bemühung brachte jedoch Früchte. Am Ende seiner Amtszeit sah sich Rabin einem Skandal gegenüber:  Nach seiner Amtszeit als Botschafter in den USA ließ er ein Bankkonto in Washington offen, was gegen das israelische Gesetz war. Er dankte mitten in der Wahlkampagne von 1977 ab, Peres übernahm das Amt. Endlich war der Weg offen.

Und dann geschah Unglaubliches. Nach 44 auf einander folgenden Jahren an der Macht – vor und nach der Gründung Israels –  verlor die Labor-Partei die Wahl. Menachim Begin kam an die Macht. Die Verantwortung  hatte der Parteiführer zu tragen, Shimon Peres. Niemand gab Rabin die Schuld.

 

 

Shimon Peres, von Mike Viner

 

 

 

AM VORABEND des Libanonkrieges 1982 gingen Peres und Rabin zum Ministerpräsidenten  Begin und  drängten ihn dazu, anzugreifen. Dies hinderte Peres nicht daran, zwei Monate später als der Hauptsprecher der gigantischen Protestdemonstration nach dem Sabra- und Schatila-Massaker  aufzutreten.

Begin trat zurück und Yitzhak Shamir nahm seinen Platz ein. Bei der folgenden Wahl erreichte Peres wenigstens ein Unentschieden. Shamir wurde  wieder Ministerpräsident für zwei Jahre, denen dann Peres folgte. Während seiner zwei Jahre als Ministerpräsident tat er nichts für den Frieden. Seine Haupttätigkeit war, den Präsidenten Haim Herzog davon zu überzeugen, den  Chef des Sicherheitsdienstes und eine Gruppe seiner Leute zu amnestieren, die zugaben, mit bloßen Händen zwei junge arabische Gefangene, die einen Bus entführt hatten, umgebracht zu haben.

1992 war es wieder Rabin, der ihrer Partei zur Macht verhalf. Er ernannte Peres zum Außenminister, vermutlich, weil er ihm dort nichts antun konnte. Doch die Dinge nahmen eine andere Richtung.

Yasser Arafat, mit dem ich seit 1974 in Kontakt stand und den ich 1982  im belagerten  Beirut traf, entschied sich, mit Israel Frieden zu machen. Der Kontakt wurde im Geheimen in Oslo aufgenommen. Das Ergebnis waren die historischen Oslo-Abkommen.

Zwischen  Peres, seinem Assistenten Yossi Beilin und Rabin  begann ein Wettbewerb um den Ruhm. Peres versuchte, sich alles anzueignen. Beilin widersetzte sich ärgerlich. Aber es war natürlich Rabin, der die schicksalhafte Entscheidung traf und den Preis bezahlte.

Zuerst gab es eine Schlacht um den Nobelpreis. Das Oslo-Komitee entschied natürlich, diesen Arafat und Rabin zu geben (wie es vorher Sadat und Begin verliehen hatte). Peres verlangte  wütend, einen Teil davon abzubekommen und mobilisierte die halbe politische Welt. Aber wenn Peres ihn bekommen würde, warum dann nicht  auch Mahmoud Abbas, der mit ihm unterzeichnet hatte und der jahrelang  für den palästinensisch-israelischen Frieden gearbeitet hatte?

Nichts tat sich. Der Preis kann höchstens an drei Leute  gehen. Peres erhielt ihn – Abbas nicht

DAS OSLO-Abkommen öffnete für Israel eine neue Straße.  Peres begann, (endlos)  über den neuen Nahen Osten zu  sprechen, und adoptierte dies als seine persönliche Handelsmarke. Er und Rabin hatten die Dinge zwischen sich aufgeteilt.  Und dann schlug das Unglück wieder zu.

Wenige Minuten nachdem er neben Peres  gestanden und ein Friedenslied auf der Massendemonstration in Tel Aviv gesungen hatte,  wurde Rabin  1995 ermordet. Peres selbst war am Mörder mit seiner geladenen Pistole vorbeigegangen, der ihn  mit einer Kugel nicht schmeicheln wollte.

Das war der dramatische Höhepunkt für Peres und für Israel. Das ganze Land kochte vor Wut.  Falls Peres, der einzige Nachfolger, sofortige Wahlen  ausgerufen hätte, hätte  er mit einem Erdrutschsieg gewonnen. Die Zukunft Israels  wäre anders  verlaufen.

Aber Peres wollte nicht als Rabins Erbe gewinnen. Er wollte mit seinen eigenen Verdiensten gewinnen. Also verschob er die Wahlen, begann einen neuen Libanonkrieg, der mit einer Katastrophe endete, verursachte eine andere tödliche Terror-Kampagne, indem er den Mord an einem beliebten Hamas-Führer befahl – und verlor die Wahl.

In einer Veränderung von Murphys Gesetz: „wenn eine Wahl  verloren werden kann, wird Peres sie verlieren. Wenn eine Wahl  nicht verloren  werden kann, wird Peres sie trotzdem verlieren“.

Bei einer  erinnerungswürdigen Gelegenheit wandte sich Peres bei einem Treffen  der Parteienmitglieder  an und stellte eine rhetorische Frage „Bin ich ein Verlierer?“  Die ganze Zuhörerschaft brüllte zurück: „Ja!“

 

 

Carlos Latuff, 2009

 

 

 

DAS SOLLTE das Ende der Sisyphos-Schwierigkeiten gewesen sein. Neue Leute übernahmen die Labor-Partei. Peres wurde zur Seite gedrängt. So schien es wenigstens.

Ariel Sharon, der Führer der extrem rechten Likud, kam an die Macht. In der ganzen Welt wurde er als Kriegsverbrecher angesehen. Der Verursacher  mehrerer Gräueltaten wurde von einer israelischen Kommission als „indirekter Verantwortlicher“  für die Sabra- und Schatila-Massaker getadelt, der Mann, der für das verhängnisvolle  Siedlungsprojekt verantwortlich war, benötigte jemanden, der ihn in der Welt akzeptabel machte. Und wer war das? Shimon Peres, der international berühmte Mann des Friedens. Später tat er dasselbe für Netanjahu.

Aber sein Felsblock rollte ein letztes Mal hinab. Die Knesset hatte einen Staatspräsidenten von Israel zu wählen. Peres war der offensichtliche Kandidat, gegen den nur ein politischer Niemand war, Moshe Katzav. Doch das Unmögliche geschah: Peres verlor, obwohl er eine Operation durchmachte, die seinen lebenslangen, traurigen Gesichtsausdruck in etwas Freundlicheres veränderte.

Selbst Leute, die Peres nicht liebten, stimmten darin überein, dass dies nun gerade zu viel war. Katzav wurde der Vergewaltigung angeklagt und ins Gefängnis geschickt. Endlich, endlich gewann Peres die Wahl!

SEITDEM  hat sich die Tragödie in eine Farce verwandelt. Der Mann, der sein ganzes Leben verschmäht wurde, wird plötzlich die populärste Person in Israel. Als Präsident konnte er jeden Tag reden, einen endlosen Strom von Banalitäten loslassen. Die Öffentlichkeit leckte es auf.

In der ganzen Welt wurde Peres einer der großen alten Männer, einer der „Weisen  Alten“, der Mann des Friedens, das Symbol von allem Feinen und Guten in Israel.

Sein Nachfolger ist schon gewählt worden. Eine sehr nette Person der sehr extremen Rechten.

In ein paar Wochen wird Peres endlich abdanken.

Endlich? Warum, er ist doch erst 90!

 

 

 

 

 



Danke Tlaxcala
Quelle: http://zope.gush-shalom.org/home/en/channels/avnery/1403342167
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 21/06/2014
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=12637

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