Putins Brave Old World

Ein Versuch, Putin zu verstehen

Acton’s Heir (antibuerokratieteam)

Die Interpretationen des Verhaltens der russischen Führung in den vergangenen Monaten reicht von dem Verdacht, Putin sei wohl durchgeknallt, über die klassische Variante der Geopolitik bis zu der Analyse, Putin brauche nur ein bisschen Liebe. Vielleicht trifft aber keines dieser Erklärungsmuster wirklich den Kern. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Putin sich und Russland zum Anführer des Konservatismus* und Traditionalismus in der Welt machen möchte. „Wladimir Putin: Weltführer des Konservatismus“ ist eine kürzlich erschienene Studie eines kremlnahen Think Tanks überschrieben. Sein Handeln in der Krim-Krise wäre dann nichts anderes als das Signal: Wir sind wieder da.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien es, als hätten der Kapitalismus, das westliche Modell, die offene Gesellschaft gesiegt. Nun würde, so der Eindruck in den 90er Jahren, die ganze Welt den American Way of Life adaptieren. Der Wandel in Osteuropa schien das ebenso zu bestätigen wie die zunehmende Öffnung Chinas, des letzten bedeutenden kommunistischen Staates.

Einen Sieg des Westens, der ja als eine Niederlage des Ostens verstanden werden könnte, wollte der Mann, der den Zerfall der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnete, aber nicht hinnehmen. Er selbst musste in den 90er Jahren erleben, wie Russland tatsächlich manche der unangenehmsten Eigenschaften des Westens unbesehen übernahm: Unter Präsident Jelzin machte sich ein „crony capitalism“ erster Güte breit. Die Aufsteiger im postsowjetischen Russland plünderten das Land gnadenlos aus. Sie personifizierten den „Verrat an Volk und Vaterland“ unter dem Banner des Individualismus. Der Westen konnte vor diesem Hintergrund geradezu als Inbegriff von Korruption und Verkommenheit erscheinen. Begünstigt wurde dieser Eindruck dadurch, dass mit den „westlichen Unarten“ nicht auch westliche Werte in das Land kamen. Diese blieben weiterhin auf den kleinen Kreis der intellektuellen und technokratischen Eliten der großen Städte beschränkt, in dem sie bereits die Zarenzeit und die Sowjetunion überdauert hatten.

Putins Lehre aus den ersten Jahren der postsowjetischen Zeit war die Einsicht, dass der Westen Russland zerstören würde. Er wurde zunehmend zu einem Vertreter eines Blockdenkens 2.0: Dort der moralisch korrupte, libertine Westen; hier das gedemütigte Russland, das wieder zu einem Hort der Tradition und des Anstands werden muss. Erschwerend kommt hinzu, dass der vielleicht gefährlichste Gegner oder gar Feind Russlands, die Volksrepublik China, in den vergangenen zwei Jahrzehnten politisch und auch gesellschaftlich immer stärker an den Westen heranrückt.

Putin musste den Gegenblock wiedererrichten. Russland sollte zum Anführer der traditionellen Welt werden, so wie die USA der Anführer der westlichen Welt ist. Der Wiederaufstieg der orthodoxen Kirche in Russland kam ihm zupass bei diesem Projekt. Von Anfang an legte er großen Wert auf demonstrative Nähe zu ihr. Seine Selbstinszenierungen als starker und viriler Mann gehören ebenso zu dem Kult um das Natürliche und Ursprüngliche, der der Dekadenz des Westens entgegengesetzt wird. Und mit dem Kreuzzug gegen „homosexuelle Propaganda“ hat er ein Thema gefunden, das dazu beiträgt, seinem Image als Verteidiger traditioneller Werte weltweit Aufmerksamkeit zu verschaffen. In seiner Rede an die Nation vom Dezember vergangenen Jahres beklagt er den Verfall traditioneller Werte: „In vielen Ländern werden heute die Normen von Moral und Sittlichkeit umgekrempelt, nationale Traditionen und die Unterschiede zwischen den Nationen und Kulturen verwaschen“. Und er zitiert den konservativen Philosophen Nikolai Berdjajew mit der Beobachtung, der Sinn des Konservatismus sei es, „eine Bewegung zu verhindern, die uns zurückwirft und nach unten führt – hinunter in das Dunkel des Chaos und zu einer Rückkehr in den primitiven Staat.“

In seiner Ansprache hat Putin auch festgestellt: „Wir wissen, dass es immer mehr Menschen auf dieser Welt gibt, die unsere Verteidigung jener traditionellen Werte unterstützen, die über tausende von Jahren die spirituelle und moralische Grundlage von Zivilisation in jeder Nation gebildet haben.“ Tatsächlich scheint Putins Plan aufzugehen. Wie ein sehr luzider und lesenswerter Beitrag im Spectator darstellt, wird Russland zunehmend zum wichtigsten Verbündeten für Länder, in denen traditionelle und konservative Werte noch eine bedeutende Rolle spielen. Auch in den westlich geprägten Ländern selbst sehen diejenigen, die gesellschaftlichem Wandel eher ablehnend gegenüberstehen, in Putin einen Verbündeten. Kürzlich erst machte sich der baden-württembergische Landesvorsitzende der Jungen Alternative in einem Artikel für Putin stark. „Was deutschen Patrioten an Russland imponiert”, stellt er fest, ist der “Einsatz Putins für die traditionelle Familie und gegen gesellschaftliche Auswüchse, die hierzulande unter dem Schlagwort ‚Gender Mainstreaming‘ recht gut zusammengefasst sind“. Auf der „Compact-Konferenz“ zum Thema „Für die Zukunft der Familie! Werden Europas Völker abgeschafft?“ im November in Leipzig begrüßte und feierte man russische Duma-Abgeordnete, die maßgeblich für die Gesetzgebung gegen „homosexuelle Propaganda“ verantwortlich waren.

Doch nicht nur harmlose Nostalgiker frühbundesrepublikanischer Miefigkeit finden in Putin plötzlich ihren neuen Heroen. Weitaus gefährlichere Allianzen werden geschmiedet. Wie der ungarische Think Tank „Political Capital“ in einer jüngst erschienenen Analyse darlegt, gibt es unter rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien in Europa eine zunehmende Tendenz, sich an Putin-Russland anzulehnen. Weitere Freunde könnten sich in den Reihen der Islamisten finden. Zwar steht Russland durch die Zerstörung und Besetzung im Nordkaukasus nach wie vor in einem Konflikt mit dem Islamismus. Doch steht einer pragmatischen Allianz grundsätzlich nichts im Wege.

Putin bastelt an einer „Brave Old World“. Vielleicht machen diejenigen einen Fehler, die ihn für verrückt oder schwächlich halten oder ihn nur als von geostrategischen Erwägungen getrieben einschätzen. Putin hat einen Plan – und der Plan heißt Restauration. Unter Russlands Führung soll wieder ein moralisches Gegengewicht zum dekadenten Westen geschaffen werden. Die Bipolarität der Welt soll wieder hergestellt werden und langfristig zum Sieg über den Westen führen. Dieser und alle, die sich im verbunden fühlen, täten gut daran, sich ihrer fundamentalen Werte zu besinnen und ihre Freiheit mit Entschiedenheit zu verteidigen. Das Mittel dazu sind nicht Waffen und nicht Sanktionen, sondern Glaubwürdigkeit.


  • Der Begriff Konservatismus ist natürlich enorm vielfältig. Hier wird er nicht in der Tradition eines Edmund Burke verwendet, sondern eher in der Tradition eines Joseph de Maistre und Carl Schmitt. Dieser Konservatismus ist nicht die Haltung vorsichtiger Skepsis, sondern der forcierte Rückschritt in eine vermeintlich Goldene Zeit.

 

 

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