Politik und innere Haltung

von Karl Müller (zeit-fragen)

In einer politischen Diskussionsrunde einer alternativen Friedenskonferenz am 22. Juni 2018 im oberbayerischen Bad Aibling (https://m.youtube.com/watch?v=BzyxOf79MhI) machte der ehemalige CDU-Politiker, Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE Willy Wimmer eine interessante Bemerkung. Auf die in vielen Diskussionen immer wieder angesprochene Frage, wie souverän das heutige Deutschland sei, antwortete er, Deutschland sei seit dem 2-plus-4-Vertrag vom September 1990 formal gesehen souverän – was es davor nicht gewesen sei. Aber das sei gar nicht entscheidend. Die deutschen Regierungen der «Bonner Republik» hätten bis in die 1990er Jahre nämlich viel mehr Souveränität gezeigt als die Regierungen der «Berliner Republik» der vergangenen 20 Jahre. Das habe etwas mit der inneren Haltung der verantwortlichen Politiker zu tun, nicht mit den formalrechtlichen Bestimmungen. Willy Wimmer wurde dafür heftig kritisiert. Aber hat er nicht recht?

Institutionelle Sicherungsversuche alleine reichen nicht aus

Nach 1945 wollten die für Deutschland Verantwortlichen ein erneutes Abgleiten in eine Diktatur verhindern. In der Bundesrepublik haben sie deshalb zahlreiche institutionelle Regelungen getroffen. Angefangen bei einem Grundgesetz, das sich mit einer «Ewigkeitsklausel» zur dauerhaften Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte, zur Demokratie, zum Bundesstaat, zum Sozialstaat, zum Rechtsstaat und zur Gewaltenteilung bekennt, bis hin zu Landesverfassungen, die diesen Vorgaben verpflichtete Erziehungs- und Bildungsziele formulierten und diejenigen Schulfächer, die dies und die dazugehörigen Werthaltungen vor allem vermitteln sollen, nämlich Gemeinschaftskunde und Religionsunterricht, sogar als verbindlich vorschrieben.
Aber wieviel hat das genutzt? Die institutionellen Regelungen sind bis heute weitgehend gültig. Aber werden sie auch beachtet und gelebt? Können institutionelle Regelungen ausreichen, wenn sie nicht mehr mit dem «Zeitgeist» übereinstimmen? Und vor allem: Was passiert, wenn es immer weniger Widerstand gegen diesen «Zeitgeist» gibt und wenn die Mechanismen, die Anpassung und Unterordnung unter den «Zeitgeist» fordern, immer mehr die Oberhand gewinnen?
Nach 1945 hat man geglaubt, aus den Erfahrungen der Weimarer Republik gelernt zu haben. Aber hat man das wirklich? Auch die Verfassung der Weimarer Republik war in vielfacher Hinsicht demokratisch, es gab sogar die Möglichkeit von Volksentscheiden, und es hat auch das Bemühen von Bürgerinnen und Bürgern gegeben, den institutionellen Rahmen mit Leben zu füllen. Aber damals waren es zu wenige, sie wurden im Laufe der Republik immer heftiger attackiert, an den Rand gedrängt oder haben sogar ihr Leben verloren. Zu machtvoll im Inneren des Landes und vom Ausland auch noch subventioniert war das Streben nach einem Ende der Republik und nach einer deutschen Diktatur.

Das Beispiel 1968

Und wo stehen wir heute? 1968, das in diesem Jahr von vielen «gefeiert» wird, hat demonstriert, wie selbst die besten institutionellen Regeln aus den Angeln gehoben werden konnten: weil die Protagonisten der Bewegung den unbedingten Willen zur Macht hatten und skrupellos waren, weil es machtvolle Unterstützung (auch aus dem Ausland) gab – vor allem aber auch, weil es zu wenige Menschen gab, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit, mit Verstand, Herzblut und Einsatz für das eintraten, was den institutionellen Regelungen Leben gibt. Der «Staatsstreich» der 68er war nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil das Wesen dieses Putsches verkannt wurde, nämlich dass es nicht um irgendwelche revolutionären Parolen von einem gesellschaftlichen Idealzustand ging, sondern um die sogenannte «Kritik», die tatsächlich Dekonstruktion und Destruktion zugunsten der Machtübernahme bedeutete. Dass so viele es geschehen liessen, reichte den Kadern der Revolution von 1968 aus.

68er für deutsche Kriegsbeteiligung

Mit Helmut Kohl von der CDU, so betont Willy Wimmer immer wieder – und die vorliegenden Dokumente und Aussagen anderer Zeitzeugen, zum Beispiel von Oskar Lafontaine, belegen dies – hätte es 1999 keine deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gegeben. Die CDU-Kanzler Ludwig Erhard und Helmut Kohl hatten zwar beträchtliche Teile der Kosten vorhergehender US-Kriege übernommen – hier zeigte sich in der Tat die mangelnde Souveränität Deutschlands, vor allem aber auch der Versuch, «Bündnistreue» zu beweisen –, aber sie haben sich geweigert, deutsche Soldaten für den Krieg in Vietnam und gegen den Irak im Golf-Krieg 1991 bereitzustellen.
Erst unter einer rot-grünen Regierung wurde dies anders. Die ideologische Begründung für die Nato-Kriege seit 1999 lieferten vor allem die in die Jahre gekommenen 68er: Joseph Fischer, Tom Königs, Daniel Cohn-Bendit. Es war der französische Links­politiker Bernard Kouchner, Mitbegründer der «Ärzte ohne Grenzen» und später sogar kurzzeitig französischer Aussenminister, der schon in den Jahren vor 1999 das Konzept der «humanitären Intervention» formulierte: «Das Recht auf humanitäre Intervention (droit d’ingérence humanitaire) geht vor. Im Zweifelsfall sogar vor staatlicher Souveränität.»

Rhetorische und autoritäre Gewalt …

Der rhetorischen und autoritären Gewalt der «antiautoritären» 68er hatten zu wenige etwas entgegenzusetzen. Ihr «Marsch durch die Institutionen» war erfolgreich. Ihre aufgesetzten Ziele «Frieden» und «Gerechtigkeit», ihren aufgesetzten «Antikapitalismus» haben sie beiseite gelegt.
Um so mehr haben sie die «kulturelle Hegemonie» angestrebt: in allen etablierten Parteien, in den Medien, in Schulen und Hochschulen, in unseren Vorstellungen vom Umgang der Geschlechter, von Ehe und Familie, von Erziehung und Bildung, und so weiter, und so weiter … selbst in den christlichen Kirchen …
Wem diente und dient all dies wirklich?

… und kaum vermutete Resultate

Die Resultate sieht man auch da, wo man sie kaum vermutet. Wie ist es zu beurteilen, wenn der heutige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voss­kuhle, die verfassungsrechtliche Kritik von zwei ehemaligen Verfassungsgerichtskollegen an der Migrationspolitik der deutschen Bundeskanzlerin Anfang 2016 in einer Fernsehdiskussion (Phoenix vom 24. Januar 2016) mit den Worten abtat, die Idee eines Staates, der sich über Grenzen und ein Staatsvolk definiert, sei nur «eine Idee des 19. Jahrhunderts». Stimmt es, dass die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, wie unlängst Vera Lengsfeld darlegte (https://www.youtube.com/watch?v=BgLyxnjJCtA), alles getan hat, um die CDU, so wie sie sich jahrzehntelang nach dem Krieg präsentiert hat, zu zerstören?
Oder was ist davon zu halten, wenn das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schon Anfang 2014, also mehr als ein Jahr vor der migrations­politischen Grundsatzentscheidung der deutschen Kanzlerin – so berichtete die deutsche Zeitung «Die Welt» am 30. August 2015 – einen Film produzieren liess, der regelrecht Werbung dafür machte, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen? In Albanisch, Arabisch, Russisch, Dari, Farsi, Paschtu und Serbisch! Oder warum hatte es überhaupt keine Konsequenzen, als sogar ein deutscher Ministerpräsident sagte, mit der Migrations­politik der Kanzlerin sei aus Deutschland ein Unrechtsstaat geworden? Die Beispiele lassen sich fortsetzen …

Woran sich orientieren in Zeiten des Umbruchs?

Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Um so mehr braucht es Menschen, die Aufrichtigkeit und Gradlinigkeit zeigen, die Orientierung geben können. Nicht durch Belehrung und Besserwisserei, sondern als Menschen und Mitbürger, die Mitmenschlichkeit, Gleichwertigkeit und politische Vernunft, im Grunde genommen die Substanz der nach wie vor bestehenden institutionellen Grundlagen unseres Gemeinwesens, erkennbar vorleben und damit eine innere Haltung zeigen, die wir alle so dringend benötigen.
Und wie kann man zu dieser inneren Haltung kommen?    •

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