Öffentliche Gewalt durch das Wort

vom fassadenkratzer

„Noch ein Jahrhundert Zeitungen – und alle Worte stinken.“
Friedrich Nietzsche

Dass kein Mensch einen anderen Menschen körperlich angreifen, wegstoßen, verletzen oder gar töten darf, ist selbstverständliche Errungenschaft moralischer Kulturentwicklung der zivilisierten Menschheit und wird überall unter Strafe gestellt. Wer so handelt, gehört zu einer kleinen kriminellen Minderheit. Ein gesteigerter Egoismus wendet sich hasserfüllt gegen den anderen, der ihm im Wege ist, um ihn mit körperlicher Gewalt auszuschalten oder ganz zu vernichten.

Doch seelische Formen der Gewalt, die mit dem gleichen Ziel aus derselben trüben Quelle aufsteigen, sind vielfach weitaus schlimmer und von verheerenderer Auswirkung. Ihre Waffe ist das Wort. Es dringt tiefer, als ein Messer dringen kann. Einen Menschen zu diskreditieren, zu diffamieren und zu verleumden, hinterlässt Wunden, die sich als Stigmata in die Urteile zahlloser Menschen verbreiten. Die verletzende Tat vervielfältigt sich in ihnen unendlich und liegt überall auf der Lauer, die Wunde immer wieder aufzureißen. Da genügt schon ein verächtlicher Blick. Üble Nachrede und Verleumdung sind daher ebenso strafbar wie körperliche Gewalt.

Üble Nachrede meint die Behauptung oder Verbreitung einer Tatsache, die einen anderen „verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist“ (§ 186, 188 StGB). Man gibt also ein Gerücht weiter, ohne zu wissen, ob es stimmt. In der Verleumdung steigert sich die Verwerflichkeit, indem man genau weiß, dass das Gerücht nicht stimmt, es also wider besseres Wissen behauptet und verbreitet, um dem anderen mit Absicht zu schaden (§ 187, 188 StGB). Die Lüge dient als seelisches Messer der Vernichtung. Von einem höheren Gesichtspunkt aus ist sie geistiger Mord. Sehr treffend wird die Verleumdung vom Volksmund als Rufmord bezeichnet.

Diese seelische Gewalt bestimmt die gegenwärtige politische Diskussion in der medialen Öffentlichkeit in einem noch nie dagewesenen Maße. Sachliche Argumente werden vielfach nicht mit sachlichen Argumenten beantwortet. Der Mensch, der sie äußert, wird mit sprachlicher Gewalt persönlich angegriffen und aus dem Feld geschlagen; und mit ihm verschwinden auch seine (nicht genehmen) Argumente. Das Ringen um die geltende Wahrheit, worum es letztlich geht, ist weitgehend brutalisiert und in die Primitivität animalischer Kämpfe um die Dominanz des eigenen Ego zurückgeworfen. Die Sprache als hehrer Ausdruck des Menschlichen ist vergiftet. Sie steht im Dienste der rohen Gewalt.

Und die sie vor allem missbrauchen, sind nicht mehr eine kleine kriminelle Minderheit. Es sind vielfach diejenigen, die sich merkwürdigerweise als politische und mediale Elite empfinden und zu den gesellschaftlich Herrschenden aufgeschwungen haben. Auch wenn viele Diskreditierungen gegen Menschengruppen gerichtet sind oder sich bewusst im Graubereich „freier“ Meinungsäußerung bewegen: Merkwürdigerweise ist von Strafverfahren wegen ehrverletzender Straftaten kaum etwas zu hören. Es ist nicht zu verwundern, dass diese Methoden entsprechende Reaktionen in der Bevölkerung hervorrufen und in gleicher Münze heimgezahlt wird.

Das kulturelle Niveau

eines Volkes wird durch die Höhe seiner moralischen Entwicklung bestimmt, in der sich die Menschen über das kreatürliche, triebhafte Dasein erhoben haben und einander als geistige Wesen begegnen, deren Handlungsmotive aus moralischen Kategorien entnommen werden. Sie gestatten nur ein Verhalten, das jeden Menschen als gleichwertig anerkennt, weil in ihm ebenso ein geistiges Wesen lebt, das sich entfalten will und in der Begegnung mit anderen Anregung, Ergänzung und Hilfe sucht. Christus prägte den fundamentalen Leitsatz eines für alle gedeihlichen Zusammenlebens mit den Worten: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das ist ein hohes Ideal, auf das man sich nur durch stetiges Bemühen langsam zubewegen kann. Aber heute wird doch mindestens Achtung und Respekt vor der Würde des anderen Menschen erwartet. Und der Volksmund transformierte das Christus-Wort auf eine etwas leichter erreichbare Ebene: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Erkenntnis des Ganzen

Wenn in irgendeiner Gemeinschaft ein Problem gelöst werden muss, kommt es zunächst darauf an, dass sich die Gruppe eine genaue und umfassende Erkenntnis der Problem-Situation erarbeitet. Es muss eine Erkenntnis aller werden, nicht nur eines einzelnen, der den anderen die Sache vorgibt und auch gleich schon die Lösung parat hat. Hier laufen oft unterschwellig Dominanz- und Autoritätsansprüche ab, die einen gemeinsamen Erkenntnisprozess von vorneherein verhindern und eine Hierarchie installieren oder festigen wollen. Es spielt also im Gespräch nicht nur eine Rolle, was ich denke und sage, sondern mit dem gleichen Wert, was jeder andere denkt und sagt.

Das fällt schwer, denn gewöhnlich hält jeder seine Beobachtungen und Gedanken für richtig und die damit nicht übereinstimmenden der anderen für falsch, so dass es oft nur um das hartnäckige Vertreten und Verteidigen der jeweils eigenen Meinung geht und die verschiedensten Auffassungen sich wie monolithische Blöcke gegenüberstehen. Das beruht aber auf einem tief eingefleischten Vorurteil. Denn jeder steht einem Problem, wie einem Gebäude auch, zunächst von einem bestimmten Stand- oder Gesichtspunkt aus gegenüber, von wo er nur eine Seite sehen kann. Andere stehen woanders und blicken auf andere Seiten derselben Sache. Natürlich sehen sie Verschiedenes. Die verschiedenen Ansichten widersprechen sich aber in Wahrheit nicht, sondern ergänzen sich. Erst alle Seiten zusammen ergeben ein Bild des Ganzen.

In einem Gespräch kommt es also darauf an herauszufinden, von welchem Gesichtspunkt der andere spricht, und anzuerkennen, dass dieser ebenso berechtigt und notwendig ist wie der eigene. Denn der eigene kann nicht die ganze Wahrheit sein. Alleine denken wir von vorneherein einseitig, von einem bestimmten, eben unserem Gesichtspunkt aus, den wir wie aus einem eingeborenen Vorurteil heraus für den einzig richtigen halten. Und schnell regt sich, wenn der andere spricht, der Unmut in uns, wir halten es nicht mehr aus, ihm zuzuhören und fallen ihm widersprechend oder korrigierend ins Wort. Rudolf Steiner schärfte den Anthroposophen ein, dass es vom geistigen Gesichtspunkt aus eine viel stärkere Beeinflussung sei, einem anderen ins Wort zu fallen, als ihm einen Fußtritt zu geben.

Ein solches Verhalten lässt sich nur überwinden, indem wir erst einmal unbedingte Toleranz gegenüber den Argumenten des anderen entwickeln. Sie ist der erste Prellbock, der uns zur Achtung der Freiheit der Gedanken des anderen aufruft, zu einem auch sein Seelisches erfassenden menschlichen Anstand. Die Toleranz unterbricht den Fluss des selbstsüchtigen Sich-geltend-machens und öffnet uns erst einmal anfänglich für die Gedanken des anderen. Dann aber müssen wir unsere eigene Ansicht unterdrücken, um dem anderen ungetrübt zuhören, sich in seine Gedanken ganz hineinversetzen und erfassen zu können, von welchem Gesichtspunkt aus er auf die Sache blickt. Falsch sind seine Gedanken nur, wenn sie auch von diesem Gesichtspunkt aus irrtümlich sind. Aber da bleiben nicht mehr so viele Irrtümer übrig. Doch auch dann ist es ja interessant, wie er dazu gekommen ist. Nur durch selbstloses Interesse an den Ansichten der anderen kommen wir über die eigenen Vorurteile und Einseitigkeiten, über die eigene gedankliche Isoliertheit hinaus. Wir brauchen die Gesichtspunkte der anderen, um zur Erkenntnis der ganzen Wahrheit zu kommen.

Die Wirklichkeit ist viel größer und umfassender als die schmale Seite, die wir durch unseren augenblicklichen Gesichtspunkt gerade erfassen. Halten wir diese für die volle Wirklichkeit, leben wir im Vorurteil und in der Illusion. Kommen mehrere Menschen zusammen, kommt objektiv eine Vielfalt von Gesichtspunkten und Seiten der Sache zusammen. Denn jeder steht biographisch an einem anderen Ausgangspunkt, von dem die Perspektive seines Wahrnehmens und Denkens bestimmt wird. Indem wir die Gedanken der anderen mit Interesse aufnehmen und verstehen, kommen wir aus unserer illusionären Einseitigkeit heraus. Wir schleifen unsere einseitigen Gesichtspunkte ab, wir lernen sie als notwendig einseitig zu erkennen und zu relativieren, d. h. zueinander in Beziehung zu setzen. Wir sehen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, von welchem Gesichtspunkt sie jeweils ausgehen und auf welche Seite sie gerichtet sind. Wir erkennen, inwieweit sie unsere Sicht ergänzen oder auch korrigieren.

Angewiesen auf die Gedanken der anderen

Jeder ist mit seinem Denken zunächst einmal in einer gewissen Isolation befangen. Als Kind – das leuchtet jedem ja noch unmittelbar ein – sind wir alle auf die Denkanregungen der Eltern und Lehrer angewiesen, um an ihnen unser eigenes Denken allmählich zu immer größerer Selbständigkeit entwickeln zu können. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, dass wir das als Erwachsene nicht mehr nötig hätten. Nicht nur als Student muss man ungeheuer viel lesen, was andere vor uns bereits gedacht haben. Auch ein „fertiger“ Wissenschaftler ist nie fertig, sondern lebt von der Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer Denker der Vergangenheit und der Gegenwart, an denen sich die eigenen zustimmend, ergänzend oder korrigierend entzünden. Das gilt aber auch für das praktische Leben und die seelisch geistige Entwicklung. Wir erleben, welche ungeheure Bereicherung wir durch das Denken anderer erfahren, wie in Wahrheit unser ganzes Leben durch die Gedanken anderer befruchtet wird und unser Denken sich nur durch die Gedanken anderer gebildet und immer weiter entwickelt hat.

Machen wir uns dies bewusst, empfinden wir uns mit unserem Denken nicht mehr in stolzer isolierter Eigenständigkeit, sondern sehen uns wie herausgeboren aus dem Denken aller Menschen. Ich bin nicht der Quell alles dessen, was ich denke, sondern bis in das Innerste meiner Seele bin ich ein Glied der Menschheit und baue an dem weiter, was bereits von unzähligen Menschen gedacht worden ist. Ich stehe auf den geistigen Schultern derjenigen, die vorher gelebt und gedacht haben, und bin auch in der Gegenwart angewiesen auf das, was andere Menschen aus ihrer Erfahrungs- und Wissens-Perspektive wahrnehmen und denken.

Das Niveau der öffentlichen Debatten

Zu einer solchen Erkenntnis-Gesinnung zu kommen, setzt indessen das ernsthafte Streben eines Menschen nach der Wahrheit voraus. Er merkt und gesteht sich in seinem Suchen, dass seine Gedanken allein nicht der Weisheit letzter Schluss sein können. Wer sich mit seiner eigenen Ansicht zufrieden gibt, auf ihre unbedingte Gültigkeit pocht und daneben keine andere duldet, kann den Willen zur Wahrheit nicht haben. Es geht ihm in unbewusstem Egoismus um die alleinige Deutungshoheit. Oder – noch schlimmer – er verfolgt bewusst bestimmte Ziele, die nur erreichbar sind, wenn die eigene Ansicht als die einzig korrekte medial abgesichert, alle abweichenden Ansichten ignoriert oder dadurch aus dem Feld geschlagen werden, dass er gar nicht auf sie eingeht, sondern denjenigen, der sie äußert, als Menschen moralisch diskreditiert und verächtlich macht.

Es geht also in der Öffentlichkeit vielfach nicht darum, „den Andersdenkenden in der Sache zu widerlegen, sondern ihm die Artikulationsmöglichkeiten zu verbauen.“ 1 Man will nicht begründen, dass man Recht hat – das wird vorausgesetzt – man will nur mit aller Macht Recht behalten. Und dazu genügt es, die Unvereinbarkeit der abweichenden Ansichten mit der herrschenden Ideologie zu demonstrieren und die Störenfriede als öffentliche Feinde zu markieren.

Damit haben wir es gegenwärtig in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit in erschreckendem Ausmaß zu tun. Es ist der von den Herrschenden im Verbund mit ihren Propagandamedien mit allen Mitteln geführte Kampf gegen eine offene respektvolle Debatte um die Erkenntnis der Wahrheit und die rechten Wege des Handelns. Das sind Methoden, die sonst nur von totalitären Regimen angewendet werden, um ihre Macht abzusichern.

Im totalitären System des Nationalsozialismus waren die Medien ganz offen zum Propagandainstrument der Macht vereinheitlicht. Und Goebbels, der praktisch die gesamte deutsche Medienproduktion beherrschte, „sah sich als Feldherr, der das Volk zur Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus führt“:

„Das ist das Geheimnis der Propaganda: den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne daß er überhaupt merkt, dass er durchtränkt wird. … Wenn die anderen Armeen organisieren und Heere aufstellen, dann wollen wir das Heer der öffentlichen Meinung mobilisieren, das Heer der geistigen Vereinheitlichung, dann sind wir wirklich die Weichensteller der Zeit“ (zitiert nach Wikipedia).

Es ging via öffentliche Meinung um die „geistige Vereinheitlichung“. Offensichtlich sind wir wieder auf einem abschüssigen Wege dahin. Die äußeren Herrschaftsstrukturen totalitärer Regime sind nicht die Hauptsache; sie nehmen immer neue Verwandlungen an. Worauf es ankommt, ist die totalitäre Gesinnung, aus der sie erst hervorgehen. Diese ist zeitlos, weil sie im Inneren des Menschen auf der Lauer liegt. Die wahre Gesinnung der Machtsüchtigen von heute tritt immer offener hinter der demokratischen Fassade hervor.

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1   Manfred Kleine-Hartlage: Die Sprache der BRD, Schnellroda 2015, S.. 11

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