Nachdenken über Deutschland

Zuhören und miteinander reden

von Karl Müller (zeit-fragen)

«Liebe Schülerinnen und Schüler, das muss Euch alarmieren: Da stehen sich Atommächte gegenüber, die in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit die ganze Welt zu vernichten. Und sie reden nicht mehr miteinander. Statt dessen ist die Rüstungsspirale in Gang gesetzt worden. Wir sprechen von einem neuen Kalten Krieg. Und viele sagen, die Situation sei viel angespannter als im ersten Kalten Krieg – in dem die Menschheit nur durch Glück (!) an einem Atomkrieg vorbeikam.»

Über drei Themen, die für Deutschland und die deutschen Debatten wichtig sind, möchte der folgende Text nachdenken – und dazu anregen, auch darüber zu reden und sich gegenseitig zuzuhören:
–    die Schülerdemonstrationen für eine andere Klimapolitik,
–    der «Kampf gegen rechts»,
–    das Feindbild Russland.
Unter dem Motto «Fridays for Future» demonstrieren in vielen Ländern Europas und der Welt, vor allem aber in Deutschland, seit Ende letzten Jahres regelmässig einige tausend Kinder und Jugendliche während ihrer Schulzeit am Freitagmorgen für eine sofortige und radikale Änderung der Klimapolitik.
Mindestens genauso interessant ist das Medien- und Politikerecho1 auf diese Demonstrationen: mehrheitlich positiv bis euphorisch. Viele von denen, die von den jungen Leuten heftig kritisiert werden, finden das, was die Jugend tut, ganz hervorragend.
Ein Leitspruch der Demonstranten lautet (in leichten Abwandlungen): «Warum für eine Zukunft lernen, die es bald nicht mehr gibt?» Sind solche Sprüche wirklich in den Köpfen der jungen Leute entstanden? Und warum lautet der Leitspruch nicht anders? Zum Beispiel: «Wir wollen heute für eine Zukunft lernen, für die wir morgen verantwortlich sind.»

Mit den Schülern reden

Als Erwachsener kann man die Erfahrung machen, dass man mit den Schülern, die demonstrieren, gut diskutieren kann. Es sind junge Leute, die sich vor keinen Karren spannen lassen wollen. Viele Parolen der Demonstrationen mögen so klingen, als wenn sie gegen die Erwachsenen gerichtet wären. Aber diese Schüler sind anders als die aus den Jahren um 1968. Sie sprechen gerne mit Erwachsenen, wenn die es ihrerseits ernst meinen. Warum nutzen die Erwachsenen diese Gelegenheit nicht noch viel mehr? Um auch über andere Gefahren zu reden, die Mensch und Natur bedrohen. Die grösste ist die Kriegsgefahr! Oder über die soziale Frage und deren Folgen – auch im eigenen Land, aber noch viel mehr in Afrika, Asien und Lateinamerika. Oder über die Demokratie-Frage – die ist auch für Deutschland sehr wichtig.
Vielleicht auch darüber, was es bedeutet, eine Schule besuchen und dort lernen zu können.
Und dass es doch das Beste wäre, gemeinsam mit allen Menschen guten Willens die Probleme zu lösen, die es in der Welt gibt – aber zuerst einmal die im eigenen Land. Dass es vielleicht dem eigenen Anliegen gar nicht so dient, wenn alle möglichen Politiker nun plötzlich mit den Klimademonstranten vor Kameras und Mikrophonen stehen wollen und Greta Thunberg in der Welt herumgereicht und für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird, vom ZDF die Goldene Kamera verliehen bekommt und auch noch von ZDF und ARD interviewt wird. Geht es da wirklich um die Zukunft unseres Planeten?
Und was ist davon zu halten, wenn sich die deutschen Grünen bei allem erneut wie die grössten Sachwalter der Schüleranliegen gebärden?2





Der «Kampf gegen rechts»

Auch im deutschen «Kampf gegen rechts» wird gerne auf die Jugend zurückgegriffen, nicht nur bei der Antifa. Was genau mit «rechts» gemeint ist, bleibt oft unklar. Viele Parolen-Träger scheuen die konkrete Diskussion über die Inhalte von Recht und Gesetz, über Verfassungswidrigkeit und Verfassungsschutz. Statt dessen wird weit ausgeholt. Auf der diesjährigen Buchmesse in Leipzig waren Karikaturen zu sehen, die für den Deutschen Karikaturenpreis zum Thema «Vorsicht, Heimat!»3 gezeichnet und gemalt worden waren. Anfang 2019 ist ein Buch verschiedener Autorinnen und Autoren mit dem Titel «Eure Heimat ist unser Albtraum» erschienen. Herausgegeben hat das Buch der Ullstein-Verlag. In seiner Ankündigung4 schreibt er: «Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat – einem völkisch verklärten Konzept, gegen dessen Normalisierung sich 14 deutschsprachige Autor_innen wehren. Zum einjährigen Bestehen des sogenannten ‹Heimatministeriums› sammeln Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schonungslose Perspektiven auf eine rassistische und antisemitische Gesellschaft.» Spiegel Online veröffentlichte einen Vorabdruck.5 Viele deutsche Leitmedien haben das Buch besprochen – zumeist sehr positiv. Aber was sollen all die Mitmenschen, die sich Deutschland als Heimat wünschen, als einen Staat des Grundgesetzes – einschliess­lich seiner sozialen und kulturellen Voraussetzungen –, und die keineswegs rassistisch oder antisemitisch sind, mit solch einer massiven Kritik anfangen? Sollen sie mit gleichem Kaliber zurückschiessen? Und was hat die 14 Autorinnen und Autoren zu solch harscher Kritik bewogen?
Haben die Buchautoren und Menschen, die unter Heimat etwas ganz anderes verstehen, schon einmal miteinander gesprochen – nicht in einer inszenierten Talkshow, sondern ehrlich und gleichwertig – und sich dabei auch zugehört? Oder ist das im heutigen Deutschland schon gar nicht mehr möglich?

Das Feindbild Russland nicht stehen lassen

So wie im Verhältnis zwischen Nato und Russ­land. Noch einmal ein Blick auf die Buchmesse in Leipzig: Wie ist es möglich, dass ein Buch mit dem Titel «Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor» den diesjährigen «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung» erhalten konnte?6 Ein Buch, das die Jelzin-Jahre, also ein Jahrzehnt des russischen Niederganges und der westlichen Einflussnahme, als Zeit der «Freiheit» bezeichnet und die nun fast zwei Jahrzehnte seit der ersten Präsidentschaft Wladimir Putins, in denen es den Menschen in Russland deutlich besser ging, der Hegemonialanspruch des Westens aber in Frage gestellt wurde, als Verlust der Freiheit. Was hat das mit europäischer Verständigung zu tun? Oder sollen sich alle in Europa diesseits der russischen Grenze (Russland ist eben auch ein europäisches Land) darauf «verständigen», das Feindbild Russland zu teilen? In den Institutionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der alle europäischen Staaten, aber auch die heutigen zentralasiatischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die USA und Kanada vertreten sind und die für die Sicherung des Friedens in Europa eine zentrale Rolle spielen sollte, so hört man, ist es schon soweit: Die Vertreter der Nato-Staaten und Russlands reden nicht mehr miteinander, da werden nur noch Standpunkte verkündet und Vorwürfe gemacht. Wohin soll das führen?
Liebe Schülerinnen und Schüler, das muss Euch alarmieren: Da stehen sich Atommächte gegenüber, die in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit die ganze Welt zu vernichten. Und sie reden nicht mehr miteinander. Statt dessen ist die Rüstungsspirale in Gang gesetzt worden. Wir sprechen von einem neuen Kalten Krieg. Und viele sagen, die Situation sei viel angespannter als im ersten Kalten Krieg – in dem die Menschheit nur durch Glück (!) an einem Atomkrieg vorbeikam.

Die Verantwortung der Erwachsenen

Aber unsere Schülerinnen und Schüler sind nicht verantwortlich für diesen Zustand. Das sind wir Erwachsenen. Wir selbst können damit anfangen, uns gegenseitig zuzuhören und miteinander zu reden – auch wenn der andere eine andere Meinung hat. Aber noch mehr müssen wir es von denjenigen fordern, die über Krieg und Frieden und die Zukunft unseres Landes entscheiden.    •

1    Die deutsche Internetseite von «Fridays for Future» hat einen Pressespiegel (nur die Titel und Links) für die Zeit vom 25. Februar bis zum 24. März zusammengestellt (https://fridaysforfuture.de/wp-content/uploads/2019/03/Pressespiegel-24.03.2019.pdf). Er umfasst 46 Seiten. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat die Demonstrationen der Schüler positiv gewürdigt. (https://www.zdf.de/nachrichten/heute/-fridays-for-future–merkel-lobt-klimademos-der-schueler-100.html) Bei einer Diskussion mit Schülern in Berlin sagte sie Anfang April, es sei richtig, «dass ihr uns Dampf macht […]. Dass dieses Signal gesetzt wird, da gibt es Sorge, das ist für uns gut.»
2    Auf der Internetseite «Philosophia Perennis» (https://philosophia-perennis.com/2019/04/02/greta-thunberg-die-buechse-der-pandora-ist-geoeffnet/) ist dazu ein interessanter Beitrag zu lesen.
3    vgl. www.deutscherkarikaturenpreis.de/ausstellung/vorsicht-heimat/
4    vgl. www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/eure-heimat-ist-unser-albtraum-9783961010363.html
5    vgl. www.spiegel.de/kultur/literatur/eure-heimat-ist-unser-alptraum-vorabdruck-das-ende-des-german-dream-a-1253290.html
6    vgl. www.leipziger-buchmesse.de/International/Leipziger-Buchpreis/

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