„Lust am Ausschluss“: Warum Deutschlands Parteien mit „Andersdenkenden“ ein Problem haben

von Andrej Iwanowski (snanews)

Mit dem Ende Juni eröffneten Ausschlussverfahren gegen die Linken-Ikone Sahra Wagenknecht hat der Diskurs um die Meinungsfreiheit in der deutschen Politik neue Nahrung bekommen. Was ist aber für eine Partei einträglicher: der Parteiausschluss von „Dissidenten“ oder eine offene Debatte mit ihnen?

SPD-Urgestein Thilo Sarrazin, Parteimitglied seit 1973, wurde 2019 nach einem langwierigen Ausschlussverfahren aus der Partei geworfen. Seine hartnäckigen Bemühungen, die Migrationspolitik der Bundesrepublik zu hinterfragen, hatten den Ausschluss veranlasst. Diese Bemühungen gingen nach der Veröffentlichung seines Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“ bekanntlich weit über den Rahmen seiner Partei hinaus.

Dabei „stellte Sarrazin die durchaus berechtigte Frage, ob die Sozialdemokraten in der Wählergunst nicht möglicherweise besser dastehen würden, wenn sie sich (…) intensiv und kritisch mit den Themen Einwanderung und Integration beschäftigt hätten“, stellt die „Welt“-Autorin Susanne Gaschke in einem in der „Neuen Züricher Zeitung“ veröffentlichten Gastbeitrag fest.

Der „Linksliberalismus“ und die „Social Justice Warriors“

Im heutigen Deutschland riskieren ein Politiker bzw. eine Politikerin nicht mehr Kopf und Kragen, wenn er oder sie von der „generellen Linie“ seiner Partei abweicht, wie dies etwa in den Zeiten der Großen Französischen Revolution oder im bolschewistischen Sowjetrussland der Regelfall gewesen wäre. Allein schon diese Errungenschaft der historischen Entwicklung sollte längst die Überlegung nach sich ziehen, ob sich eine politische Partei in einem demokratischen europäischen Land den Luxus einer pluralistischen Meinungsvielfalt leisten könnte. Und ob eine solche Vielfalt eventuell sogar einen Stimmungszuwachs nach sich ziehe.

Einen Grund, warum dies bis jetzt nicht geschehen ist, sieht Susanne Gaschke in der aus den USA stammenden „ideologischen Großmode“, die Sahra Wagenknecht als „Linksliberalismus“ diagnostiziert und der Grünen-Dissident Boris Palmer mit dem in den Vereinigten Staaten gängigen Begriff „Social Justice“ bezeichnet.

Die Grünen wollen nämlich, so Gaschke, den „unbequemen, aber erfolgreichen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ausschließen“, weil der „seit der Flüchtlingskrise 2015 unter Rassismusverdacht steht“ und „weil er die möglichen Folgen unkontrollierter Einwanderung problematisierte“. Für die „Social Justice Warriors“ sei all das nämlich völlig inakzeptabel.





„Auch mit seiner pragmatischen, das Grundrecht schonenden Corona-Politik machte er sich jüngst in seiner verbotsfreudigen und latent alarmistischen Partei keine Freunde“, heißt es in dem Beitrag.

Der „Linksliberalismus“, den Wagenknecht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ anprangert (und was das Ausschlussverfahren gegen sie veranlasst hat), habe nichts mit Weltvorstellungen eines Willy Brandt oder Hans-Dietrich Genscher zu tun. Dies sei die Weltsicht der „Lifestyle-Linken“, wie Wagenknecht diese Spezies bezeichnet. Diesen, „überwiegend sorgenfrei aufgewachsenen und akademisch gebildeten Parteiaktivisten“ gehe es in erster Linie um eine Entmachtung der „alten weißen Männer“ und um eine denkbar breit ausgelegte Geschlechtergerechtigkeit, bei der es sich nicht bloß um Mann und Frau, sondern auch um alle selbst definierten sexuellen Identitäten handelt.

„Das real existierende Problem des deutschen Rechtsextremismus wird den Lifestyle-Linken zum praktischen Werkzeug gegen unbequeme und anstrengende Kritiker in den eigenen Reihen“, schreibt Susanne Gaschke, die sich anscheinend mit Wagenknechts Kritik weitgehend solidarisiert.

„Ein deprimierendes Schattenreich von zahmen Konformisten“

„Es wird selbstverständlich keinen Ausschluss von Sahra aus ihrer Partei geben“, äußerte der Publizist Knut Mellenthin, der zu großen Kritikern Wagenknechts zählt, gegenüber SNA. Dabei wäre es nach seiner Ansicht die Aufgabe der Parteiführung gewesen, statt dieses Ausschlussverfahrens frühzeitig eine umfassende Auseinandersetzung um Wagenknechts Thesen und Vorgehen zu organisieren.

Dies ist jedoch bekanntlich nicht geschehen. Aber selbst wenn es nicht zu einem Ausschluss von Sahra Wagenknecht kommen wird: Für das Ansehen der Partei war der ganze Rummel keinesfalls zuträglich. Im Vorfeld der Bundestagswahlen schon gar nicht.

Im abschließenden Absatz ihres „NZZ“-Gastbeitrags zieht die „Welt“-Autorin Gaschke ein ziemlich niederschmetterndes Fazit:

In Deutschland herrsche „ein jakobinisches Meinungsklima, das die Zivilgesellschaft infiziert, das Großzügigkeit, Neugier und Humor im Umgang mit Andersdenkenden verdorren lässt und unsere Gesellschaft in ein deprimierendes Schattenreich von zahmen Konformisten verwandelt“.

Bei den Jakobinern wären wir übrigens wieder bei der Großen Französischen Revolution. So schlimm ist es um Deutschland momentan bei Gott (noch?) nicht bestellt. Als symptomatisch ließe sich allerdings die Tatsache auslegen, dass die Autorin ihren Text unter dem Titel „Sarrazin, Wagenknecht, Palmer – Deutschlands gefährliche Lust am Ausschluss“ als Gastbeitrag in der „Neuen Züricher Zeitung“ erscheinen ließ und nicht in einem deutschen Blatt.

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