Kopfzerbrechen in der NATO

von Thierry Meyssan (voltairenet)

Niemand hat die NATO-Regeln während des Kalten Krieges in Frage gestellt, abgesehen von Frankreich. Aber angesichts ihrer Auswüchse seit 2001 denkt jedes Mitglied (mit Ausnahme der Türkei) daran, sie zu verlassen, einschließlich der USA, für die sie trotz allem unverzichtbar ist. Der interne Bericht über das, was aus ihr werden soll, veranschaulicht ihre Widersprüche und die Schwierigkeit, sie zu reformieren.

Der gigantische Sitz der größten militärischen Organisation der Geschichte

Obwohl die US-amerikanische Hypermacht im Niedergang begriffen ist und Präsident Donald Trump von einem möglichen Austritt seines Landes aus der NATO gesprochen hat, stellen sich die Mitgliedsstaaten Fragen über die Zukunft des Atlantischen Bündnisses. Aus diesem Grund hat dessen Generalsekretär, Jens Stoltenberg, im April eine Reflexionskommission eingesetzt, die sich aus 10 atlantischen Persönlichkeiten zusammensetzt, um zu definieren, was die NATO im Jahr 2030 sein würde.

Ihr Ziel ist, das Bündnis neu zu definieren, wie es im Jahre 1967 der Fall war, nach dem Austritt Frankreichs aus dem integrierten Kommando und als die Zeitspanne der zwanzig Jahre, während der es nicht möglich war, aus dem Vertrag auszutreten, endete.

Damals hatte der belgische Außenminister Pierre Harmel begonnen, eine sehr umfassende Konsultation zu koordinieren, unter Berücksichtigung des französischen Willens nach nationaler Unabhängigkeit. Er passte sich der Logik von Präsident Charles De Gaulle an und unterschied die politischen Aspekte (der Vertrag) von den militärischen Aspekten (die Organisation).

Natürlich war Pierre Harmel im Grunde genommen mit der US-amerikanischen Vorherrschaft über die „Freie Welt“ einverstanden. Als Christdemokrat war er gegen die UdSSR, sowohl wegen ihres Atheismus als auch wegen ihrer kollektivistischen Prinzipien. In dieser Eigenschaft engagierte er sich in der vom Pentagon organisierten Bewegung der christlichen Führer [1],

Die neue Reflexionsgruppe hat ihren Bericht gerade am 25. November 2020 eingereicht.

Entgegen den Erwartungen stellt der Bericht keine neuen Horizonte vor, sondern ruft dazu auf, sich wieder auf das zu konzentrieren, was die Mitgliedstaaten verbindet: die „gemeinsamen Werte“, die im Gründungsvertrag der Allianz festgelegt sind: „Die Grundsätze der Demokratie, die Freiheiten des Einzelnen und die Herrschaft des Rechts“ [2]. In der Tat wurden die Grundsätze der Demokratie in den Vereinigten Staaten durch Wahlfälschungen verletzt, während die persönlichen Freiheiten in jedem Mitgliedstaat durch die Covid-19-Epidemie eingeschränkt wurden. Was die Herrschaft des Rechts betrifft, so gibt es sie in der Türkei ja nicht mehr.





Präambel

Hier ist eine Präambel erforderlich. Die NATO war nie ein „Bündnis“ im Sinne einer freien Verbindung von Partnern, um ihre Verteidigung zu stärken. Im Gegenteil, seit ihrer Gründung waren alle gezwungen, ein ewiges Militärkommando der Vereinigten Staaten anzunehmen und ihnen zu gehorchen. In der Praxis ist die NATO eine ausländische Legion im Dienst der Angelsachsen: für das Pentagon zuerst, Whitehall an zweiter Stelle. Diese flagrante Verletzung des Souveränitätsprinzips der UN-Charta hat die NATO zu einem ausweichenden Diskurs gezwungen.

Ihre edle und schöne Rhetorik darf ihr gaunerhaftes Management nicht verdecken.
 Während des Kalten Krieges nutzten die Angelsachsen einen Geheimdienst der Allianz, um sicherzustellen, dass die Mitgliedsstaaten ihr Kommando immer annehmen. Sie bildeten ein stay-behind Netzwerk, angeblich, um im Falle einer sowjetischen Invasion, zu widerstehen. Sie nutzten dieses Netzwerk jedoch nur, um jegliche Unabhängigkeitsbestrebungen zu beseitigen. Sie organisierten Morde an führenden Politikern und schürten bei ihren Partnern Staatsstreiche. Diese Fakten werden heute in den angelsächsischen Militärakademien gelehrt und wurden von vielen Historikern im Detail untersucht [3].
 Dieses System besteht seit dem Ende des Kalten Krieges nun in einer anderen Form. Jeder Mitgliedstaat wurde aufgefordert, den Angelsachsen schriftlich zu gestatten, sie mit Hilfe ihrer eigenen Beamten auszuspionieren, wie Edward Snowden es gezeigt hat und dies auch noch im vergangenen Monat in Dänemark festgestellt wurde [4].
 Schließlich zögert das angelsächsische Militärkommando nicht, gegen die Satzung der Allianz zu verstoßen, wenn es ihm passt. So ist es dieses Militärkommando, welches die Bombardierung Libyens und den Sturz von Muammar al Gaddafi beschlossen hat, und nicht der Atlantische Rat, der dagegen war.

Eine Kommission unter Aufsicht

Unter diesen Umständen wäre es naiv zu glauben, dass die Reflexionskommission die Freiheit hatte, selbstständig zu denken.

Den Vorsitz führte Wess Mitchell, ehemaliger Assistent von Außenminister Rex Tillerson für europäische und eurasische Angelegenheiten.

Es stellt sich heraus, dass Wess Mitchell der Autor einer überraschenden Studie ist, Die Doktrin des Paten [5], die nicht in seiner von der NATO verbreiteten Biographie erscheint. Er vergleicht dort die drei wichtigsten Schulen der US-Außenpolitik mit den Methoden der drei Söhne des „Paten“, Don Vito Corleone, die Helden der Bücher von Mario Puzzo und der Filme von Francis Ford Coppola. Er hält dort eine Predigt für eine Mischung aus Soft und Hard Power, einschließlich mafiöser Techniken.

Nun, warum sollte man diese Methoden nicht in Erpressungsaktionen entdecken, denen mehrere andere Mitglieder des Ausschusses in den vergangenen Jahren ausgesetzt waren. Achtung: Die Elemente, die wir vorlegen werden, bedeuten nicht, dass manche Mitglieder der Kommission sehr schwere Verbrechen begangen haben, sondern dass sie davon Kenntnis hatten und sie nicht angeprangert haben.

Nehmen wir den Fall von Thomas de Maizière, ehemaliger Direktor des Bundeskanzleramtes und später deutscher Innen- und Verteidigungsminister [6]. Lassen wir sein unbestreitbares Sponsoring durch US-Think-Tanks beiseite. Bevor er Angela Merkels rechte Hand wurde, war diese berühmte Persönlichkeit unter anderem Innenminister von Sachsen (2004-5), eine Funktion, in der er die Affäre Sachsensumpf kennenlernen musste. Er betrachtete die von seinen Dienststellen gesammelten Informationen als „seriös“, reichte sie aber nicht an die Justiz weiter. Es handelte sich um einen Prostitutionsfall von Minderjährigen, an dem hochrangige lokale Persönlichkeiten beteiligt waren. Er tauchte Jahre später wieder auf, als Thomas de Maizière Verteidigungsminister wurde, mit der Enthüllung mehrerer Tatsachen, die unterdrückt worden waren, Infragestellungen von Zeugenaussagen und parlamentarischer Debatten [7].

Oder der Fall von Hubert Védrine, ehemaliger Generalsekretär des Elysées (1991-95) und später französischer Außenminister (1997-2002). Als er der engste Mitarbeiter von Präsident François Mitterrand war [8], wurde er von der NATO in einem Haus in eine Falle gelockt, das er zweimal im Monat besuchte, um am Stadtrat des kleinen Dorfes teilzunehmen, in den er gewählt worden war. Vor seinen sorglosen Augen installierten neonazistische Mitglieder des NATO-Netzwerks stay-behind dort das größte Kinderporno-Studio in Europa [9]. Der Fall wurde vertuscht. Aus eigener Initiative ließ der Sicherheitsbeauftragte des Élysée-Palastes zwei Akteure verschwinden, von denen einer einen „Herzinfarkt“ bekam. Der Tod des zweiten, der vermutlich von einem Polizisten ermordet wurde, der ihn in seinem Haus missbräuchlich überprüfen kam, blieb jedoch nicht unbemerkt und löste eine Debatte im Parlament aus [10].

Da in beiden Fällen die Wahrheit nicht dargelegt wurde, können solche Mitglieder der Kommission erpresst werden.





Ein Bericht, der die internen Konflikte aufdeckt

Der Bericht der Reflexionskommission mit dem Titel NATO 230: Vereint für eine neue Ära (NATO2030: United for a New Era) ist sehr aufschlussreich, mehr durch das, was er hätte enthalten sollen, aber nicht sagt, als durch das, was er erklärt.

 Erstens legt er großen Wert auf die „gemeinsamen Werte“, was wie eine Anklage gegen die USA und die Türkei klingt. Er schlägt vor, nicht mehr auf die festgestellten Mängel zu reagieren (was mit Washington in der Praxis unmöglich ist), sondern Initiativen zu ergreifen, bevor diese Werte verletzt werden. Eine Art und Weise, um mit der Vergangenheit aufzuräumen und zu fordern, dass so etwas nie wieder passiert.

 Er bezeichnet Russland als den einzigen aktuellen Rivalen und China als den nächsten.

 Er fasst alle Operationen der NATO in ihrem geografischen Gebiet und außerhalb dieses Gebiets zusammen, mit Ausnahme der Zerstörung Libyens. Man erinnert sich, dass diese Entscheidung vom angelsächsischen Kommando hinter dem Rücken des Atlantischen Rates getroffen wurde. Dieses „Vergessen“ bringt einen Groll zum Ausdruck.

Der Bericht, der sich mit dem Süden befasst, betont jedoch, dass die NATO sicherer sei, wenn die Nachbarn der NATO sicherer sind; eine Hintertür, um die Rumsfeld/Cebrowski-Doktrin der systemischen Zerstörung der staatlichen Strukturen des „Erweiterten Nahen Ostens“ abzulehnen und damit die Zerstörung Libyens in Frage zu stellen.

Man erinnere sich daran, dass Muammar al Gaddafi 2011, zur Zeit dieses Krieges, ein Verbündeter der Vereinigten Staaten geworden war. Er war von Präsident Bush Jr. beglückwünscht worden, insbesondere für den Verzicht auf die Atomenergie, und er hatte sich auch bereit erklärt, Mahmoud Jibril mit der Reorganisation seiner Wirtschaft zu beauftragen. Von einem Tag auf den anderen wurde jedoch Jibril zum Oppositionsführer, und die NATO forderte von al-Gaddafi abzutreten.

 Was die Rüstungskontrolle betrifft, übergeht die Kommission den Vertrag der Vereinten Nationen über die nukleare Abrüstung, den sie im Übrigen entschieden verurteilt hat. Sie verweist auf die Arbeiten von Pierre Harmel vom Jahr 1967 und auf die Bekräftigung des doppelten Ziels der Abschreckung und Entspannung. Auch dies ist eine Verurteilung der gegenwärtigen Fehlentwicklung der Organisation, die ihr Arsenal verstärkt und gleichzeitig die Abrüstungsvorschläge von Präsident Putin ablehnt.

 Was die Energieressourcen betrifft, stellt der Bericht das Recht der NATO als eine Selbstverständlichkeit dar, ihren uneingeschränkten Zugang zu den Kohlenwasserstoffressourcen der Welt, unabhängig von den Bedürfnissen anderer Mächte, zu gewährleisten.

 Was den Informationskrieg betrifft, fordert die Reflexionskommission die Organisation auf, sich auf die Bürger zu stützen. Ohne die Ausschreibung vom 15. Oktober 2020 in Frage zu stellen, billigt sie die Ziele des Kompetenzzentrums für strategische Kommunikation in Riga, bestreitet jedoch dessen Methoden.

 Was die Einheit des Bündnisses betrifft, unterstreicht die Kommission die Verpflichtung aller, ein Mitglied zu verteidigen, wenn es angegriffen wird (Artikel 5). In Bezug auf das Verhalten der Türkei erklärt sie, dass diese Verpflichtung nur eingehalten werden kann, wenn jeder Mitgliedstaat die „gemeinsamen Werte“ der Organisation strikt einhält. Seit der Veröffentlichung des Berichts ist US-Außenminister Mike Pompeo gekommen, um seinen Amtskollegen zu sagen, wie wenig er von der Türkei hält. Damit ermöglichte er einen Ausschluss Ankaras aus dem Bündnis oder sogar einen möglichen Krieg gegen Ankara.

Nicht ohne Humor schlägt die Kommission die Einrichtung eines Exzellenzzentrums für demokratische Widerstandsfähigkeit vor.

 Was das Funktionieren des Bündnisses betrifft, versucht die Kommission einen weiteren Verstoß gegen die Satzung des Bündnisses unter dem Vorwand einer Dringlichkeit, zu verhindern, wie es bei der Zerstörung Libyens der Fall war. Sie befürwortet daher möglichst nachgelagerte Konsultationen, insbesondere mit der Europäischen Union und den Partnern der Indo-Pazifik-Zone, die der NATO beitreten könnten.

Schlussfolgerung

Trotz des Drucks auf die Mitglieder des Beratenden Ausschusses hat die Kommission die wirklichen Probleme nicht umgangen, sondern sie einfach nicht erläutert. Jeder ist sich bewusst, dass das Bündnis ein Instrument der Herrschaft der Angelsachsen ist, und diejenigen, die sich davon befreien wollen, versuchen, sich nicht auf eigene Kosten in neue Konflikte hineinziehen zu lassen.

Thierry Meyssan
Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

(PDF – 324.5 kB)

[1] Diese internationale ökumenische Gebetsgruppe ist immer noch sehr aktiv. Heute ist sie als „Die Familie“ bekannt. Ihr Sitz befindet sich im Besitz der Zedern, direkt neben dem Pentagon. Alle US-Generalstabschefs seit dem Zweiten Weltkrieg gehörten ihr an, auch mehrere derzeitige Staats- und Regierungschefs. Cf. The Family: The Secret Fundamentalism at the Heart of American Power, Jeff Sharlet, HarperCollin (2008) und das Archiv des Autors.

[2] « Traité de l’Atlantique Nord », Réseau Voltaire, 4 avril 1949.

[3] Nato’s Secret Armies : Operation Gladio and Terrorism in Western Europe, Daniele Ganser, Franck Cass (2004). Der Text dieses Buches ist in französischer und spanischer Sprache auf der Website des Voltaire Netzwerks verfügbar.

[4] „Fortsetzung der Stay-Behind-Netzwerke der NATO in Dänemark“, Übersetzung Horst Frohlich, Voltaire Netzwerk, 20. November 2020.

[5] “Pax Corleone”, Hulsman, John Hulsman & Wess Mitchell, The National Interest n°94, March-April 2008. The Godfather Doctrine, John Hulsman & Wess Mitchell, Princeton University Press (2006).

[6] Der Autor dieses Artikels ist ein ehemaliger Mitschüler von Thomas de Maizière.

[7] Die Zeit des Schweigens ist vorbei, Mandy Kopp, Ullstein Taschenbuchvlg (2014). L’affaire a aussi inspiré ce roman à clés: Im Stein, Clemens Meyer, S. Fischer (2013).

[8] François Mitterrand und die Familie Védrine haben sich 1942 im Dienst von Philippe Pétain miteinander verbunden.

[9] Der Autor dieses Artikels war einer der ersten Zeugen, die von der Kriminalpolizei in diesem Fall angehört wurden. Er erhielt die Glückwünsche der Gedenkstätte Yad Vachem für seine enquête sur ces réseaux néo-nazis. [Untersuchungen dieser Neo-Nazi-Netzwerke].

[10] Mort d’un pasteur, l’affaire Doucé, Bernard Violet, Fayard (1994).

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