Im Iran bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an

Im Iran bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an

Die den iranischen Banken und Finanzinstituten auferlegten Sanktionen könnten eine humanitäre Krise auslösen

 Von Muhammad Sahimi und Eskandar Sadeghi-Boroujerdi
Al Jazeera, 30.10.12

( http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2012/10/20121023101710641121.html )

Während ihrer am Montag letzter Woche geführten Debatte über Außenpolitik waren sich Präsident Barack Obama und sein republikanischer Herausforderer Mitt Romney darin einig, dass die dem Iran von den USA und ihren Verbündeten auferlegten lähmenden Sanktionen so lange andauern müssen, bis die Islamische Republik ihre atomaren Ambitionen aufgibt.

 Beide scheinen sich auch die ständig wiederholte Forderung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zu eigen gemacht zu haben, dass „dem Iran nicht erlaubt werden dürfe, die Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen zu erwerben“, und dass mit der Erlangung dieser Fähigkeit eine „rote Linie erreicht wäre“, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfe. Vorher hatte Netanjahu noch gefordert, „dem Iran dürfe keinesfalls erlaubt werden, Atombomben zu erwerben“.

„Die Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen“ wird dabei absichtlich unscharf und schwammig definiert; mehrere Analysten behaupten sogar, die Islamische Republik besitze bereits diese Fähigkeit, weil sie über alle Komponenten verfüge, die ihr den Bau einer Bombe ermöglichen würden, falls sie das wünsche. Sobald ein Land die Anreicherungstechnologie beherrscht, wird allgemein davon ausgegangen, dass es dann nur noch die politische Entscheidung zum Bau von Atomwaffen treffen muss.

 Die Geheimdienste Israels und der USA sind übereinstimmend der Meinung, dass der Iran diese politische Entscheidung noch nicht getroffen hat. Der entscheidende Grund für diese Annahme ist natürlich die Tatsache, dass der Iran den Atomwaffensperrvertrag / NPT unterzeichnet hat und seine gesamten Anreicherungsanlagen von der International Atomic Energy Agency / IAEA überwachen lässt; wenn der Iran angereichertes Uran für den Bau einer Bombe abzweigen wollte, müsste er den NPT kündigen. Wenn er das täte, würden natürlich überall auf der Welt die Alarmglocken schrillen und wahrscheinlich ein sofortiges militärisches Eingreifen des Westens auslösen.

 Im Westen wird nur über wechselnde und vage roten Linien geredet, die den Propagandanebel durchziehen, in den die westliche Sicherheitsrhetorik den Iran einhüllt; kein einziges Wort fällt über die Notlage und das Leiden des iranischen Volkes, das keinerlei Einfluss auf die von der Führung der Islamischen Republik getroffenen Entscheidungen hat. Dabei zeichnet sich bereits ab, dass die Sanktionen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der iranischen Regierung verhängt wurden, das Potential zum Auslösen einer humanitären Katastrophe haben.

„Kluge“ und „gezielte“ Sanktionen

 Die fehlende Rücksichtnahme auf die Versorgungslage der iranischen Bevölkerung muss – zumindest was den US-Präsidenten angeht – überraschen, weil seine Regierung und die Europäischen Union / EU, als sie gemeinsam die Sanktionen gegen den Iran verhängten, der Welt versprachen, diese „klug und gezielt“ einzusetzen.

Sie versicherten, dass sich die Sanktionen nicht negativ auf das tägliche Leben der Millionen Iraner auswirken würden, von denen viele gegen die Politik der iranischen Regierung opponieren.

 Die jetzt mit voller Wucht greifenden Sanktionen treffen aber vor allem die Bevölkerung, die angeblich verschont werden sollte; die westliche Politik gegenüber dem Iran fügt dessen entmachteter Bevölkerung, die nicht nur daheim, sondern jetzt auch im Ausland rechtlos geworden ist, zusätzliche „Kollateralschäden“ zu. De facto gibt es sehr deutliche Anzeichen dafür, dass es zu einer humanitären Katastrophe kommen könnte, die genau so bedrohlich wie ein militärischer Angriff wäre.

 Die angeblich „klugen und gezielten“ Sanktionen wirken sich zunehmend auf alle Bereiche aus, auch auf solche, gegen die sie offiziell überhaupt nicht gerichtet sind. Das ist auch beabsichtigt, selbst wenn uns westliche Politiker etwas anderes erzählen. Um die Kritik zu vermeiden, der sie ausgesetzt waren, als sie in den 1990er Jahren umfassende Sanktionen gegen den Irak verhängten, haben die USA und ihre Verbündeten in der EU mit ihren Sanktionen gegen die Zentralbank des Irans praktisch auch alle anderen iranischen Banken lahmgelegt, die an Handelsgeschäften mit dem Ausland beteiligt sind. Da diese Banken Kredite für Importe gewähren und finanzielle Garantien für den Handel mit dem Ausland übernehmen, ist es äußerst

schwierig, wenn nicht sogar unmöglich geworden, lebenswichtige Waren und Produkte zu importieren – auch solche, die absolut nichts mit dem Militär, dem Ölverkauf oder dem Atomprogramm des Irans zu tun haben. Die jetzt dem Iran auferlegten Sanktionen sind nur scheinbar „humaner“ als die dem Irak auferlegten.

 Besonders schwer betroffen ist der pharmazeutische Sektor. Der Iran produziert zwar einen großen Teil des medizinischen Bedarfs und der Arzneimittel, die seine Bevölkerung braucht, in Form von wirkstoffgleichen Kopien (Generika) der Produkte bekannter Arzneimittelhersteller selbst; er ist aber noch nicht in der Lage, die im Laufe der letzten 10 bis 15 Jahre entwickelten Medikamente gegen eine Vielzahl schwerer Krankheiten herzustellen, weil sie noch nicht in Form von Generika verfügbar sind. Infolgedessen muss der Iran jedes Jahr große Mengen von Arzneimitteln importieren, damit auch in der iranischen Bevölkerung auftretende schwere Krankheiten wie zum Beispiel Leukämie oder Aids behandelt werden können.

Sanktionen gegen Banken

Die Sanktionen gegen die iranischen Banken und Finanzinstitute machen es dem Iran unmöglich, die dringend benötigten Medikamente oder die zu deren Herstellung notwendigen Chemikalien einzuführen. Weil die Ölexporte des Irans wegen der verhängten Sanktionen stark zurückgegangen und seine Devisen entsprechend geschrumpft sind, wird es immer schwieriger, die teuren Medikamente aus dem Ausland zu bezahlen, selbst wenn ein Weg gefunden würde, sie weiterhin zu importieren. Nach Aussage eines Apothekers in Teheran „sind die Lager für Pharmazeutika leer, weil wegen der Sanktionen nicht mehr alles importiert werden kann, was dringend gebraucht würde, und weil wegen fehlender Mittel neue Importe auch nicht mehr bezahlt werden können“.

Wegen der Arzneimittelknappheit bahnt sich im Iran die Gefahr einer humanitären Katastrophe an. Nach jüngsten Schätzungen sind derzeit bereits 6 Millionen Patienten von den durch die Sanktionen entstandenen Engpässen beim Import und bei der Herstellung von Medikamenten im Iran selbst betroffen.

 Das hat viele iranische Mediziner veranlasst, vor der Gefahr zu warnen, die vor ihren Augen heraufzieht. Der Vorstand der Iranian Haemophilia Society (der Iranischen Gesellschaft zur Behandlung der Bluterkrankheit) informierte kürzlich die World Federation of Haemophilia / IFH (die Weltföderation für Hämophilie), dass zehntausende Kinder in Lebensgefahr schweben, weil Medikamente fehlen, die wegen der internationalen Wirtschaftssanktionen gegen den Iran nicht mehr importiert werden können.

 In dem Brief des Vorstandes an die IFH wird mitgeteilt, der Medikamentenexport in den Iran sei zwar nicht verboten, wegen der Sanktionen gegen die iranische Zentralbank und andere Finanzinstitute des Landes könnten die Arzneimittel aber nicht mehr eingekauft werden. Die Gesellschaft, die sich selbst als unpolitische Vereinigung bezeichnet, die seit 45 Jahren aktiv ist, verurteilte die „unmenschlichen und unmoralischen“ Sanktionen der USA und der EU und bat internationale Organisationen um Hilfe.

Es fehlen Medikamente zur Behandlung schwerer Krankheiten

Einige statistische Angaben sind sehr aufschlussreich. Mehrere zehntausend iranische Jungen und junge Männer sind Bluter und brauchen bestimmte Medikamente, die importiert werden müssen. Viele von ihnen müssten aus unterschiedlichen Gründen operiert werden; weil die Medikamente zum Stoppen der Blutung fehlen, können die Operationen aber nicht durchgeführt werden. 

Nach glaubwürdigen Berichten aus dem Iran können Patienten mit der Bluterkrankheit nicht mehr operiert werden, und einige sind deshalb bereits verstorben. Im Iran leiden etwa 37.000 Menschen an Multipler Sklerose, einer schweren Erkrankung des Nervensystems, die, wenn sie nicht mit speziellen Medikamenten behandelt wird, schnell zum Tod der Patienten führt. Auch drei Mitglieder einer (bekannten) iranischen Großfamilie leiden unter Multipler Sklerose. Trotz bester medizinischer Versorgung starben schon bisher jedes Jahr rund 40.000 Iraner an Krebs, und jetzt sagen Experten voraus, dass bis zum Jahr 2015 eine neue Krebswelle auf den Iran zurollen wird – mit 70.000 bis 80.000 Neuerkrankungen pro Jahr; die Lage wird also immer bedrohlicher.

 Fatemeh Hashemi, die Vorsitzende der iranischen Charity Foundation for Special Diseases (einer wohltätigen Stiftung für spezielle Krankheiten), die sich um die Bedürfnisse von Patienten aller Altersstufen mit lebensbedrohenden Krankheiten wie Krebs, Herz-und Lungenleiden, Multipler Sklerose und Thalassämie (einer Erkrankung der roten Blutkörperchen) kümmert, hat kürzlich einen Brief an den UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon geschrieben. Diese Stiftung ist eine sehr erfolgreiche unpolitische Organisation, die nicht nur im Iran, sondern auch im Irak und in Afghanistan schon vielen Menschen geholfen hat und deren Arbeit von den Vereinten Nationen anerkannt wird.

In ihrem Brief teilte Frau Hashemi mit, dass ihre Organisation „6 Millionen Patienten betreut und folglich in Kontakt mit 30 Prozent der iranischen Bevölkerung steht“. Die unpolitische Ausrichtung ihrer Organisation betonend, schrieb sie:

„Obwohl Medikamente nicht von den Sanktionen betroffen sind, können sie nicht mehr importiert werden, weil sie wegen der Auswirkungen der Sanktionen auf das iranische Bankensystem nicht mehr bezahlt werden können; das wirft einen dunklen Schatten aufden Gesundheitssektor. Dadurch wird nicht nur der Import von Medikamenten, sondern auch der Bezug von Chemikalien (die für die Herstellung von Arzneimitteln im Iran selbst gebraucht werden) unmöglich gemacht. … Um der Humanität willen appelliere ich an das Gewissen der Menschheit und bitte darum, die Tatsache zu bedenken, dass die Sanktionen, die der iranischen Bevölkerung eigentlich nicht schaden sollten, eine verheerende Wirkung auf das Leben und die Gesundheit der Menschen haben.“

Die angeblich „klugen und gezielten“ Sanktionen, die sich nicht negativ auf die iranische Bevölkerung auswirken sollten, fügen ihr in Wirklichkeit schweren Schaden zu. Sie haben zur Folge, dass der Mangel an Medikamenten für Patienten mit schweren und lebensbedrohenden Krankheiten zu einer immer größeren Gefahr wird.

Arzneimittelknappheit

 Nach jüngsten Berichten mussten zwei große Fabriken, die Medikamente für eine Vielfalt von Krankheiten hergestellt haben, wegen der den iranischen Finanzinstituten auferlegten Sanktionen schließen, weil sie die für die Produktion notwendigen Chemikalien nicht mehr aus dem Ausland importieren konnten.

 Die Welt muss erkennen, dass der von den USA und ihren Verbündeten eingeschlagene Weg sich gespenstisch dem Unrecht annähert, das dem Irak in den 1990er Jahren angetan wurde. Nach Schätzungen des Kinderhilfswerks UNICEF der Vereinten Nationen haben die damals dem Irak auferlegten Sanktionen den Tod von bis zu 500.000 irakischen Kindern verursacht. In Anbetracht dessen, dass die Bevölkerung des Irans dreimal so groß wie die des Iraks ist, werden im Iran noch viel mehr Kinder sterben, wenn die Sanktionen – wie im Irak – mehrere Jahre andauern sollten.

 Weil der Iran auch Weizen, Reis und andere Nahrungsmittels in großen Mengen importieren muss, werden bei länger andauernden Sanktionen nicht nur hunderttausende Iraner wegen des Mangels an Medikamenten und medizinischem Bedarf sterben, sondern wegen der Nahrungsmittelknappheit auch verhungern. Es sollte auch zur Kenntnis genommen werden, dass die Politik Saddam Husseins durch die Sanktionen nicht beeinflusst werden konnte.

 Nachdem sie Hunderttausende von irakischen Kindern umgebracht hatten, kamen diejenigen, die schon immer einen Krieg gegen den Irak führen wollten, zu dem Schluss, dass die Sanktionen gescheitert seien und deshalb ein „Regimewechsel“ herbeigeführt werden müsse. Heute wissen wir, dass der Irak weder Massenvernichtungswaffen hatte, noch welche herzustellen beabsichtigte. Auch der Iran hat noch keine Atomwaffe; die (erpresserische) Politik des Westens könnte die iranische Führung aber veranlassen, sich doch noch Atomwaffen zu verschaffen, damit ihr Regime überleben und sie an der Macht bleiben kann.

Die umfassenden Sanktionen gegen den Irak haben nicht nur Tausenden den Tod gebracht, sondern auch direkt in den Krieg geführt. Was den Iran angeht, besteht ein wichtiger Unterschied darin, dass ihm China eine Rettungsleine zuwirft, weil es wegen seiner wirtschaftlichen Expansion nicht auf das iranische Öl verzichten kann; das ist aber keine wünschenswerte Entwicklung für diejenigen Iraner, die eine Demokratisierung der Islamischen Republik und die Menschenrechte durchsetzen wollen.

Die Sanktionen haben weder die starke Position der Iranischen Revolutionsgarde noch die des Höchsten Führers Ajatollah Ali Khamenei geschwächt; der hat erst kürzlich betont, dass die Islamische Republik auch weiterhin zu Verhandlungen bereit sei und den Verhandlungstisch noch nie verlassen habe, sich aber auch nicht einschüchtern lasse. Wenn der Iran zum Beispiel darauf verzichtet, sein Uran auf 19,75 Prozent anzureichern, und seine unterirdische Anreicherungsanlage bei Fordo (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Atomanlage_Fordo ) schließt, damit also zwei der von den P5+1-Mächten (den fünf UN-Vetomächten USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China und der Bundesrepublik Deutschland) in den Gesprächen in Bagdad und Moskau erhobenen Hauptforderungen erfüllt, muss er dafür auch eine Gegenleistung erhalten. Ohne eine solche Gegenleistung bietet die seit Langem durch ein Vertrauensdefizit vergifteten Verhandlungsatmosphäre dem Iran keinen Anreiz zur Kompromissbereitschaft. Es hat zwar Gerüchte über eine mögliche Lockerung der Sanktionen nach der US-Präsidentenwahl gegeben, bis jetzt liegt aber noch nichts Greifbares vor.

Im Iran gibt es viele Stimmen, die von der iranischen Führung Kompromisse mit dem Westen fordern. Die USA und ihre Verbündeten können diesen Stimmen den Rücken stärken und ihnen mehr Gehör verschaffen, wenn sie sich zur Lockerung der Sanktionen entschlössen oder wenigstens Ausnahmen zuließen, damit die iranischen Banken den Import von überlebenswichtigen Gütern ohne militärischen oder atomaren Nutzen – also von Medikamenten und Nahrungsmitteln – wieder finanzieren können.

Es nützt wahrscheinlich wenig, der Obama-Regierung die moralische und ethische Fragwürdigkeit ihrer Politik gegenüber der iranischen Bevölkerung vorzuhalten; dieser Präsident hat in vieler Hinsicht die destruktive Nahostpolitik George W. Bushs fortgesetzt und gegenüber der iranischen Bevölkerung sogar noch verschärft.

Die aus der heraufziehenden Katastrophe erwachsenden ethischen und moralische Probleme werden den Westen aber noch in Jahrzehnten belasten; zu dieser Katastrophe wird es aber nur kommen, wenn die westlichen Regierungen weiterhin blind auf ihren lähmenden Sanktionen gegen den Iran beharren und sich nicht wirklich um eine diplomatische Lösung des Konflikts bemühen.

In Anbetracht der tragischen Konsequenzen aus den in der Vergangenheit erfolgten US-Interventionen im Iran wäre es vernünftig, die Folgen der blindwütigen Sanktionen und ihre Wirkung auf die Einstellung der iranischen Bevölkerung zu den USA nochmals zu überdenken; noch sind viele Iraner pro-amerikanisch – und das in einer der unruhigsten Weltregionen, die den USA wegen ihre negativen Einflussnahme überwiegend feindlich gesinnt ist.

 Muhammad Sahimi, ein Professor an der University of Southern California in Los Angeles, analysiert für die Website PBS/Frontline (s. http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/ ) und deren Tehran Bureau Entwicklungen im Iran.

 Eskandar Sadeghi-Boroujerdi war früher Iran-Experte der Oxford Research Group und gibt Al-Monitor’s Iran Puls (s. http://www.al-monitor.com/pulse/home.html ) heraus. Er arbeitet als Doktorand für vier Jahre an der University of Oxford.

(Wir haben den Artikel komplett übersetzt und mit Ergänzungen und Hervorhebungen versehen.

Anschließend drucken wir den Originaltext ab.)

Originalquelle: luftpost

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