Haus ohne Dach?

Wenn Machtpolitik dominiert

Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Sie beherrscht wieder einmal das Weltgeschehen, die Grossmachtpolitik. Gezeichnet von all ihren Unwägbarkeiten.

Natürlich beschwören alle Beteiligten unablässig, sie allein hätten das Völker-recht auf ihrer Seite. Aber kein Beteiligter handelt nach geltendem Völkerrecht.

Völkerrecht?

Die EU wurde zum Helfershelfer wenig durchschaubarer Kräfte, als es um den Sturz einer immerhin aus korrekter Wahl in die Verantwortung gelangten Regierung ging. Die USA zogen während Jahren die Fäden, als es galt, dem Getreideproduzenten Ukraine den Weltmarkt zu sperren – auf dass die den Welthandel dominierenden US-Getreideproduzenten (eine der effizientesten pressure group in amerikanischen Wahlen) ihr faktisches Monopol zu behaupten vermochten. Ein ganzes Volk damit zu verurteilen, in seiner tiefen Armut steckenzubleiben, kann weiss Gott nicht völkerrechtlich begründet werden.

Und die Russen haben, als das Vordringen der Nato bis an ihre Landesgrenze absehbar wurde, kurzerhand zugegriffen. Das, was an glänzend aufgezogenen Konferenzen jahrelang als «Völkergemeinschaft» beschworen und zelebriert worden ist, ist über Nacht in der Versenkung verschwunden.

Als Kleinstaat betroffen

Selbstverständlich kann sich ein Kleinstaat in sich derart entwickelndem Konflikt als Vermittler profilieren. Falls er bereit und gewillt ist, seine Vermittler-rolle in diskreter Zähigkeit – also völlig abseits der Schweinwerfer der Welt-medien – und in jeder Beziehung unparteiisch wahrzunehmen. Und wenn dieser Kleinstaat gleichzeitig beweisen kann, dass er in einer Ernstfall-Vermittlung zu eigenständigem Handeln auch wirklich in der Lage ist. Dass er sich also von keiner Seite unter Druck setzen oder gar erpressen lassen muss.

Jene früheren Schweizer, denen diese elementaren Voraussetzungen schweizerischer Existenz in Selbstbestimmung und Freiheit stets bewusst waren, haben die Neutralität unseres Landes deshalb immer und völlig selbst-verständlich als «bewaffnete Neutralität» verstanden. Im Bewusstsein, dass der Schweiz am Wiener Kongress 1815, nach der Niederringung Napoleons also, die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Neutralität durch alle damaligen Gross-mächte nur zuteil wurde, weil die Eidgenossenschaft glaubwürdig zu versichern und unter Beweis zu stellen wusste, dass die Schweiz in der Lage sei, einen Angriff von wem auch immer auf ihr eigenes, schweizerisches Territorium erfolgversprechend abzuwehren.

Damals schwadronierte – allen Schweizern steckte schliesslich noch das Drama an der Beresina in den Knochen – wahrhaft niemand von «Interventionseinsatz von Friedenskräften» in irgend einem fernen Dschungel-gebiet im Dienste einer nie wirklich fassbaren Völkergemeinschaft. Damals ging es einzig und allein um den ureigensten Zweck der Armee: Um die Verteidigung, um den Selbstschutz.

Die strategische Überraschung

Nimmt – wie derzeit einmal mehr – Grossmachtpolitik überhand, so wird das, wofür eine um Glaubwürdigkeit und internationalen Respekt bemühte Armee jederzeit zu trainieren und zu üben hat, wieder wahrscheinlicher: Die strategische Überraschung.

Eine von Gewalt geprägte, eine kriegerische Auseinandersetzung hat im Lauf der Weltgeschichte nie stattgefunden als Wiederholung eines früheren Krieges. Die Überraschung – ein von niemandem vorausgesehenes, ein Land und seine Bevölkerung völlig überraschend massiv treffendes Ereignis: Das ist die grösste – gleichzeitig auch die am schwierigsten zu bewältigende Bedrohung, die überall, buchstäblich von einer Minute auf die andere Tatsache werden kann. Nine-Eleven – mit Volltreffern auf wirtschaftliche und militärische Schlüssel-positionen in den sich bis dahin als unangreifbar wähnenden USA – war in den letzten Jahren das spektakulärste Ereignis strategischer Überraschung. Es wird indessen nicht das letzte sein.

Dem Überraschungsschlag an sich kann nur in seltensten Fällen ausgewichen werden. Entscheidend ist, die «Entwicklung danach» rasch unter Kontrolle zu bringen. Dafür ist die Armee auszurüsten und auszubilden. Auf dass sie nach solchem Schlag rasch operationsfähig werde, ist der Schutzschild gegen oben unverzichtbar. Fehlt dieser Schutz, werden Soldaten zu schutzlos ausge-liefertem Kanonenfutter.

Einsatzbereit?

Eine Armee ohne Schutz von oben, ohne einsatztaugliche Luftverteidigung, ist eine zum Scheitern verurteilte Armee. Immer dann, wenn weltweit wieder einmal Machtpolitik überhand nimmt, müssen Leistungsfähigkeit und Einsatz-bereitschaft der eigenen Armee erst recht gründlich überdacht und überprüft werden: Ist diese unsere Armee durch Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung wirklich in der Lage, Leid vom Land abzuhalten?

Die Antwort auf diese Frage muss sowohl rasch als auch völlig ehrlich erfolgen – gerade auch in der Schweiz, die ihrer bewaffneten Neutralität das Überleben in schwersten Weltkrisen mehrfach zu verdanken hatte.

Ein Befehl, Soldaten in einen Einsatz zu schicken, während ihnen das Dach, der Schutz von oben versagt wird, ist verbrecherisch. Diese Tatsache steht im Mittelpunkt der jetzt anlaufenden Gripen-Debatte.

 

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