Hamburg probt den Ausnahmezustand

Ulla Jelpke (ossietzky)

Neun Tage lang herrschte im Januar in Teilen der Hamburger Innenstadt der Ausnahmezustand. Die Polizei hatte ein rund 50.000 Einwohner umfassendes Areal in den Stadtteilen Altona, St. Pauli und dem Schanzenviertel zum »Gefahrengebiet« erklärt, in dem sie nach Belieben Passanten kontrollieren und Aufenthaltsverbote aussprechen konnte. Besonders wer »links« oder »alternativ« aussah, etwa dunkle Kleidung und Kapuzenjacken trug, stand unter Generalverdacht.

Was wir in Hamburg erlebt haben, ist ein Lehrstück für den Umgang des bürgerlichen Staates mit demokratischen Grundrechten. Das seit 2005 geltende Hamburger Polizeirecht ermächtigt die Polizei, ohne Richterbeschluß und Parlamentskontrolle solche Gefahrengebiete auszurufen. Zwar hat das Hamburger Verwaltungsgericht zur zurückhaltenden Auslegung des Gesetzes gemahnt, doch dies ficht den sozialdemokratischen Innensenator Michael Neumann als obersten Dienstherrn der Hamburger Polizei offenbar nicht an.

Der »kleine Ausnahmezustand« – wie Heribert Prantl die Maßnahme in der Süddeutschen Zeitung trefflich nannte, war der Höhepunkt einer von der Polizei- und Landesregierung betriebenen Eskalationspolitik. So wurde bereits im Dezember die Hamburger Innenstadt rund um den Weihnachtsmarkt zur Gefahrenzone erklärt. Für den 21. Dezember hatten linke Gruppen zu einer bundesweiten Demonstration aufgerufen, deren Hauptanliegen die Verteidigung des langjährig besetzten Kulturzentrums Rote Flora war. Doch auch die Solidarität mit den zunehmenden Behördenschikanen ausgesetzten afrikanischen Lampedusa-Flüchtlingen in Hamburg und der Protest gegen den Abriß der von sozial schwachen Familien bewohnten Esso-Häuser an der Reeperbahn sollten auf der Demonstration thematisiert werden.

Noch bevor die rund 7000 Demonstranten loslaufen konnten, wurden sie von der mit 3000 Beamten aufmarschierten Polizei mit einem Wasserwerfer attackiert. Es folgten laut Bild-Zeitung »blutige Krawalle« und die »schlimmsten Unruhen seit Jahren« mit 500 verletzten Demonstranten und 120 verletzten Polizisten. »Zur Wahrheit gehört, daß die Polizei die Demonstration offensichtlich nicht beginnen lassen wollte«, schreibt dagegen der einer linksradikalen Meinung wohl unverdächtige ntv-Kommentator Christian Bartlau auf dem Internetportal des Senders. Für die »Eskalation aus heiterem Himmel« macht Bartlau die Polizei – »Hooligans in Uniform« – verantwortlich.

Neben den durch die Auflösung der Demonstration provozierten »Krawallen« wurde von seiten der Polizei ein angeblicher Angriff von bis zu 40 Vermummten am Abend des 28. Dezember auf die Davidwache in St. Pauli als Hauptgrund für die Verhängung des Ausnahmezustandes angeführt. Dabei soll ein Beamter durch einen Steinschlag ins Gesicht einen Kiefer- und Nasenbruch erlitten haben. Der angebliche Angriff auf die Polizeiwache löste eine Welle der Medienhetze gegen vorgeblich linke Gewalttäter aus, und die Facebook-Seite »Solidarität mit den Beamten der Davidwache« zählte schnell 50.000 Unterstützer. Doch der angebliche Überfall einer vermummten Personengruppe mit Stein- und Flaschenwürfen hatte in dieser Form gar nicht stattgefunden. Dies wies Rechtsanwalt Andreas Beuth anhand von Augenzeugen und Mandanten, die sich zum fraglichen Zeitpunkt vor der Wache aufgehalten hatten, nach. Einige Tage später mußte ein Polizeisprecher einräumen, daß trotz Videoüberwachung keine Aufnahmen des Vorfalls existierten. Der schwerverletzte Beamte sei in Wirklichkeit mehrere Hundert Meter von der Wache entfernt von Unbekannten angegriffen worden. Eine unpolitische Kiezschlägerei kann dabei auch die Polizei nicht ausschließen. Anwalt Beuth vermutet hinter der anfänglich »bewußt falschen Darstellung« der Polizei »augenscheinlich politische Interessen der Polizeiführung und ihrer Gewerkschaften«. So forderte etwa die Deutsche Polizeigewerkschaft die Aufrüstung der Polizisten mit Elektroschockern und Gummigeschossen.

Bewohner der als Gefahrengebiet deklarierten Stadtviertel wehrten sich mit einer Vielzahl kreativer Aktionen – von spontanen Kiezspaziergängen bis zu Lärmdemos und einer Kissenschlacht auf der Reeperbahn. »Verdächtig« gekleidete Aktivisten lieferten sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit der sichtlich überforderten Polizei. Zum Symbol des Protestes gegen den polizeilichen Ausnahmezustand wurden Klobürsten, die sie für den Fall einer Polizeikontrolle als »gefährliche Gegenstände« mitführten.

Die Proteste, aber auch der Nachweis offensichtlicher Falschangaben der Polizei über den Angriff auf die Polizeiwache zeigten Wirkung. Zuerst wurden die Gefahrengebiete deutlich verkleinert und dann am 13. Januar aufgehoben. Bis dahin wurden rund 1000 Menschen überprüft und teilweise durchsucht, rund 200 Aufenthaltsverbote und 13 Platzverweise ausgesprochen. Fünf Menschen wurden vorläufig fest- und 65 in Gewahrsam genommen. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) verteidigte die grundrechtseinschränkende Maßnahme bis zum Schluß. »Das Instrument hat sich bewährt und wird sich weiter bewähren.«

Worum es den Sicherheitsbehörden wirklich ging, verdeutliche Hamburgs Verfassungsschutzchef Manfred Murck im Interview mit dem Hamburger Abendblatt: »Es ist den Leuten aus dem Flora-Umfeld gelungen, dabei alle für sie und die linke Szene relevanten Themen zu bündeln: Recht auf Stadt, Stadtentwicklung und Gentrifizierung, Flüchtlingspolitik, Esso-Häuser und den Erhalt der Roten Flora als autonomes Zentrum.« Dieser Schulterschluß zwischen der Flüchtlingsbewegung, der subkulturellen Bewegung für selbstbestimmte Freiräume und den gegen ihre Verdrängung aus der Innenstadt kämpfenden Kiezbewohnern erscheint der sozialdemokratischen Landesregierung beim Vorantreiben ihrer neoliberalen Stadtentwicklung bedrohlich. Dagegen sollte ein Exempel zur Einschüchterung unbotmäßiger sozialer Bewegungen und aufsässiger Teile der Bevölkerung statuiert werden. Doch dies scheiterte am Widerstand der betroffenen Bevölkerung.

 

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