Den Autofahrern sind die Hungernden egal
Urs P. Gasche / 03. Aug 2012 – Preisexplosion: Die Reichen brauchen Mais zum Autofahren. Die Armen können sich dieses Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten.
Die Lage ist prekär: Die USA, die normalerweise 40 Prozent der weltweiten Maisernte einfahren, können dieses Jahr viel weniger Mais ernten, weil eine anhaltende Dürre im amerikanischen Mittelwesten grosse Schäden anrichtet. Deshalb sind die Mais-Preise an der Rohstoffbörse in Chicago seit Mitte Juni um 60 Prozent gestiegen. Mit den Mais-Preisen stiegen automatisch auch die Preise von Sojabohnen und Getreide, deren Nachfrage wegen der geringeren Maisernte zugenommen hat.
Hunger in Mexiko, Ägypten und andern Ländern
Damit schnellen die Mais- und Sojapreise auch in Ländern wie Mexiko, Ägypten oder Südkorea in die Höhe, welche einen grossen Teil ihres Mais-Bedarfs aus den USA importieren. Wer dort von einem bis fünf Dollar im Tag leben muss und auf Mais als Grundnahrungsmittel angewiesen ist, kann sich keine genügende Ernährung mehr leisten. Doch wen interessieren schon die Überlebenden in Slums oder Gegenden der Armut, deren Bewohner zum Wachstum des Bruttoinlandprodukts fast nichts beitragen?
Autofahrer haben das nötige Geld
Anders die Reichen, welche Mais und Soja als Futtermittel nutzen, um ihren hohen Fleischkonsum zu decken, oder als Agrartreibstoff brauchen, um weniger abhängig vom Benzin zu werden. Die Agrar- und Autolobby und mit ihr viele Medien nennen den Agrartreibstoff sogar «Bio»-Treibstoff, um das «Bio»-Label in Misskredit zu bringen. Mais und Soja werden alles andere als biologisch hergestellt.
Nahrungsmittel landen auf dem Weltmarkt bei denen, die am meisten dafür zahlen können. Diesem Trend hatte Präsident George W. Bush in den USA noch nachgeholfen, indem er im Jahr 2005 die amerikanischen Ölraffinerien per Gesetz zwang, mehr Ethanol, meistens aus Mais, in das Benzin zu mischen. Deshalb werden dieses Jahr 40 Prozent der gesamten US-Maisernte im Tank von Autofahrern landen. Das schätzt Colin A. Carter, Professor für Landwirtschaft an der University of California. Die Ethanol-Politik der USA werde zusammen mit der schlechten Ernte zu «mehr Hunger, abnehmender Ernährungssicherheit und politischer Instabilität vor allem in Entwicklungsländern» führen, schrieb Carter in der New York Times und forderte seine Regierung auf, das Gesetz von George W. Bush sofort für zwei Jahre zu sistieren.
Die Ernte des weltgrössten Mais-Produzenten USA wird nach Angaben von Carter gegenwärtig wie folgt verwendet:
– 40 Prozent zur Produktion des Agrartreibstoffs Ethanol
– 33 Prozent als Futtermittel für die Produktion von Fleisch
– 14 Prozent zum Süssen von Getränken wie Coca-Cola und für Mais-Fertigprodukte
– 13 Prozent gehen in den Export. Die USA sind der grösste Mais-Exporteur der Welt (Anteil rund 60 Prozent)
Agrar-Treibstoffe führen noch schneller in die Sackgasse als Erdöl
Nicht nur die USA, sondern auch Brasilien und einige EU-Länder wandeln immer mehr Landwirtschaftsfläche zu Benzingärten um: Aus Zuckerrohr, Mais oder Weizen produzieren sie «Bio»-Ethanol, das einen Teil des Benzins unserer wachsenden Autoflotten ersetzt. In Indonesien und Malaysia werden jedes Jahr Tausende von Quadratkilometern Regenwälder abgeholzt und durch Palmölplantagen ersetzt. Das Palmöl lässt sich als Ersatz für (Diesel-) Treibstoff nutzen und wird zum grössten Teil in die Industriestaaten exportiert.
Doch diese Ergänzung zum Erdöl stösst noch schneller an seine Grenzen als das Erdöl selber. Das zeigt folgende Rechnung, die Infosperber-Energiespezialist Hanspeter Guggenbühl gemacht hat:
Obwohl ein Durchschnittsauto nur eine Stunde pro Tag fährt, verschlingt es rund zehnmal so viele Kalorien wie ein Mensch. Die Erde vermag heute sieben Milliarden Menschen und ihre Nutztiere schlecht und recht zu ernähren, aber für ihre energieintensiven Autos reicht die Nahrung nicht auch noch aus.
Es sei pervers, Autos mit menschlicher Nahrung zu tanken. Obwohl Agrartreibstoffe bisher lediglich einen Bruchteil der Treibstoffe aus Erdöl ausmachen, bewirkten sie bereits 2008 eine Verknappung der Nahrung und trieben die Preise für Lebensmittel in die Höhe. Laut der internationalen Ernährungsorganisation FAO hat sich ab 2008 die Zahl der Hungernden weltweit wieder erhöht.
Wenn man zwanzig Prozent des steigenden Erdölbedarfs mit Agrar-Treibstoffen decken will, wie das geplant ist, dann gibt es nichts mehr zu essen», warnt Nestlé-Verwaltungsratspräsident Peter Brabeck und urteilt. «Das ist ein politischer Wahnsinn».
Engpass Fleischkonsum
Neben dem «Durst», den unsere energetisch ineffizienten Autos entwickeln, führt auch der wachsende Hunger nach Fleisch und Milchprodukten zu einer Übernutzung der nachwachsenden Biomasse. Denn um eine einzige tierische Nahrungskalorie zu erzeugen, braucht es – je nach Tierart – drei bis zehn pflanzliche Kalorien. Die Kapazität der Landwirtschaftsflächen reichen nicht aus, damit alle Bewohner der Erde 110 Kilo Fleisch pro Jahr essen können wie wir in den Industriestaaten.
Nicht nur für Palmöl-Plantagen, auch für die Fleischproduktion werden in tropischen Ländern Urwälder abgeholzt. Brasilien etwa nutzt nach Angaben von Greenpeace achtzig Prozent seines gerodeten Urwaldes für Rinderweiden. Rindfleisch und Rindsleder aus Brasilien sind nur deshalb so billig, weil die Produzenten für die Naturzerstörung keinen Real (brasilianische Währung) entschädigen müssen.
Auf den ursprünglichen Rinderweiden Brasiliens wiederum pflanzt die exportorientierte Agroindustrie heute vor allem Soja an. Mit diesem Soja füttern Mastbetriebe in den USA und in Europa ihre Nutztiere. Die Produktion und Vermarktung des Fleisches subventionieren einzelne Staaten wie etwa die Schweiz sogar noch mit Steuergeldern.
Wenn alle Menschen so lebten wie die Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten, bräuchten wir schon heute drei bis fünf Planeten. Trotzdem setzen Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft unbeirrt auf weiteres Wachstum, und sie sind enttäuscht, wenn das Bruttoinlandprodukt (BIP) um weniger als zwei Prozent pro Jahr wächst.
Doch es fragt sich: Können wir den dreieinhalb Milliarden Einwohnern in China, Indien und Afrika den gleich üppigen Lebensstil wie bei uns verbieten? Oder wo wollen wir die zusätzlichen Planeten her holen, die es für diesen üppigen Lebensstil braucht?
Quelle: infosperber