Gelbwesten – Auftakt zu neuen Repräsentationsformen

Gespräch der Monatszeitschrift «Ruptures» mit Etienne Chouard, Frankreich

Etienne Chouard, der sich 2005 in der Nein-Kampagne zur EU-Verfassung in Frankreich einen Namen gemacht hat, ist der Vater des «Référendum d’initiative cito­yenne» (RIC) [landesweite Abstimmungen auf Grund von Volksinitiativen, d. Red.], und spielt eine wichtige Rolle in der Gelbwesten-Bewegung. Hier folgt eine zusammenfassende, mit dem Autor gemeinsam aktualisierte Fassung des Video-Interviews, das Etienne Chouard der elektronischen Ausgabe von «Ruptures» gewährt hat.

Ruptures: Was hat Sie am meisten beeindruckt an den von Gelbwesten besetzten Verkehrskreiseln?

Etienne Chouard: Eines der gemeinsamen Merkmale ist der Unmut angesichts des empörenden Gegensatzes zwischen den von Millionen Menschen durchlebten Schwierigkeiten und dem demonstrativen Reichtum, der von einer Minderheit der Wohlhabenden zur Schau gestellt wird. Diese Bürger sind auf die Strasse gegangen und haben dabei entdeckt, dass sie keineswegs alleine waren mit ihren Schwierigkeiten, das Leben zu meistern. Sie haben aufgehört, Fernsehen zu schauen, einige haben eine neue «Familie» entdeckt und haben sich so zu einer «neuen Gemeinschaft» zusammengeschlossen. Ein weiteres Merkmal der Bewegung ist der Wunsch, die politische Zwietracht zu verbannen.

Eine Ablehnung der Politik?

In Wirklichkeit ist es eine Ablehnung der politischen Klasse, ihrer fruchtlosen Rollenspiele und ihrer Streitigkeiten. Die Einheit ist ein grosser Pluspunkt der Bewegung. Spaltungen, insbesondere zwischen denen, die als links oder rechts eingeordnet werden, wären tödlich.

Sie waren auch empfänglich für die geltend gemachten Forderungen?

Von Anfang an haben viele Gelbwesten ihre Beschwerden auf wesentliche Aspekte konzentriert. Zum Beispiel die Forderung den CICE [Steuerlicher Vorteil zur Kostensenkung für Unternehmen, Anm. d. Übers.] abzuschaffen, diese unangemessene Subvention in Höhe von 40 Milliarden an Unternehmen oder die Forderung, Verkauf und Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen einzustellen.

Diese Forderungen sind nicht unbedingt neu …

Neu ist, dass diese Beschwerden, die zunächst «von unten» an die «gewählten Vertreter von oben» gerichtet waren, zum Aufkommen des RIC geführt haben, das sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat. Dieser aussergewöhnliche Aspekt verändert die Rolle der Akteure: Es geht nicht mehr nur darum, dieses oder jenes Gesetz zu fordern, sondern darum, eine ganz andere Art der Rechtsetzung zu verlangen. Dies ist der Beginn eines historischen Durchbruchs: Bisher wandte man sich an die, die entscheiden – an die gewählten Vertreter. Jetzt geht es darum, sich nicht mehr dem Wohlwollen dieser letzteren zu unterwerfen: Es ist das Volk, das entscheiden muss.

Aber gibt die Verfassung nicht den gewählten Vertretern die Macht, diese Gesetze zu erlassen?

Das ist genau das, was geändert werden muss! Die Verfassung, die die Formen der Repräsentation festschreibt, ist von genau diesen Vertretern geschrieben worden, und nicht von denjenigen, die die einzig Rechtmässigen wären: die Repräsentierten. Und deshalb ist die Idee des RIC so wertvoll, denn sie verlangt, dass das Volk die Macht wirklich übernimmt und über jedes Gesetz entscheidet. Bisher waren die Wähler in gewisser Weise Kinder, von denen man verlangt, dass sie ihre Befugnisse denen anvertrauen, die das Wissen haben und für sie denken. Insofern ist der Status des Wählers erniedrigend, eigentlich verlangt man von ihm, in regelmässigen Abständen seine Herren zu ernennen. Jetzt ist die Zeit der Emanzipation und des Erwachsenwerdens gekommen!





Von seiten der Regierung gibt man sich jedoch aufgeschlossen gegenüber dem Prinzip des RIC …

Es ist illusorisch, sich vorzustellen, dass die Herren die Macht bereitwillig zurückgeben werden. Sie werden vielleicht die Idee eines Referendums aufgreifen, um es aber mit allen nur möglichen Riegeln zu versehen: Schwellen, Kontrollbehörden, Themenbeschränkungen … Was es braucht, ist ein RIC für alle Themen. Wir müssen selber unsere eigene ­politische Macht einrichten! Und diese Idee kann schneller Gestalt annehmen, als wir denken … Wie Victor Hugo sagte, nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

Sind die von den Bürgern gewünschten Gesetze denn mehrheitsfähig?

Natürlich werden auch weiterhin legislative Debatten und Auseinandersetzungen notwendig sein. Aber heute geht es vor allem darum, dass sich das Volk als politische Macht etabliert. Und diese Idee kann von Bürgern geteilt werden, die sehr unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Überzeugungen haben. Einige haben Parallelen zur Bewegung «Nuit debout» [Frühling 2016] gezogen; aber bei «Nuit debout» wurden von Anfang an Menschen von rechts ausgeschlossen. Diese Bewegung konnte keinen Erfolg haben, da die Spaltung gewissermassen schon in ihren Genen lag. Im Gegensatz dazu ist eines der Merkmale der Gelbwesten-Bewegung, dass sie niemanden ausschliesst. Erinnern wir uns an die Zeit der Besatzung: Sehr gegensätzliche politische Kräfte konnten sich im Widerstand vereinen, von den Kommunisten bis hin zu den Maurrassianern [Anhänger des katholisch-konservativen Charles Maurras, Anm. d. Übers.] …

Ist die Parallele zur Besatzungszeit passend?

Jeder historische Zeitraum ist verschieden. Aber nehmen wir das «europäische Projekt»: Es ist eindeutig ein Projekt zur Enteignung der Nationen und somit der Völker. Mit der Übertragung der nationalen Souveränität auf die europäische Ebene haben unsere Volksvertreter unser wertvollstes Gut veräussert, wobei sie keineswegs dessen Eigentümer waren. Das ist, genau genommen, ein Verrat. Und da unsere Verfassung keinerlei Strafe für dieses Verbrechen vorsieht, machen sie weiter. In Wirklichkeit ist die Europäische Union ein Besatzungsprojekt, das von den führenden amerikanischen Kräften am Ende des Krieges konzipiert und umgesetzt wurde, wie François Asselineau (Präsident der UPR) dies schon öfters erläutert hat. Kurz gesagt, wir müssen aus der EU aussteigen, das ist offensichtlich.

Emmanuel Macron hingegen wünscht sich eine «europäische Souveränität» …

Dieses Konzept ist ein Oxymoron (Assoziation zweier unvereinbarer Begriffe). Oder man muss von der Souveränität der Banken und der multinationalen Unternehmen sprechen – sie sind es, die die Volkssouveränität rauben. Und es ist sicherlich nicht das Europäische Parlament, das daran etwas ändern wird, das ist ein kompletter Trugschluss. In diesem Sinne wären die bevorstehenden Europa-Wahlen eine Illusion, falls gewisse Leute sich vorstellen, daraus eine Verlängerung der Gelbwesten-Bewegung zu machen. Ausserdem betone ich nochmals: Wahlen sind ein Prozess der ­politischen Enteignung. Daraus kann keinerlei Volksemanzipation resultieren!

Sind sie nicht doch eine Quelle der Legitimität?

Nein! Das, was den grossartigen Reichtum der Gelbwesten-Bewegung ausmacht, ist der Auftakt zu neuen Repräsentationsformen, so wie sie an den Verkehrskreiseln entwickelt wurden: keine Vertreter, die für uns entscheiden; bei Vertretungen genaue Festlegung der Mandate, klare Anweisungen sowie Möglichkeiten der Überwachung und Abberufung; transparente Verhandlungen. Die heutigen Technologien machen es möglich: Wenn eine Verhandlung stattfindet, kann sie über ein einfaches Telefon übertragen werden, und die Vertreter sind jederzeit und in Echtzeit unter Kontrolle.

Wie sehen Sie die Zukunft dieser Bewegung?

Die Bewegung bleibt vorerst einheitlich, entschlossen, hartnäckig und friedlich. Wenn all dies erhalten bleibt, dann erlebt die Geschichte manchmal unerwartete Beschleunigungen. Und wenn immer grössere Bereiche der Bevölkerung gewonnen werden – einschliesslich der öffentlichen Ordnungskräfte –, dann wird die Regierung als das erscheinen, was sie ist – nackt – und wird Platz machen müssen. Vorrang haben wird dann ein Verfassungsprozess des Volkes.    •

Quelle: © Ruptures Nr. 82 vom 31.1.2019

(Übersetzung Zeit-Fragen)


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