Funktionärsprinzipien und Machtpolitik

Angst bei Russlands Nachbarn

Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Als die Sowjetunion zu Beginn der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zusammenbrach, leitete der Westen die Ausdehnung seiner Machtsphäre in Richtung Osten betont zurückhaltend ein.

Es dominierte damals das zweifellos kluge Bestreben, einerseits das aus den Trümmern der Sowjetunion sich emporrappelnde neue Russland nicht vor den Kopf zu stossen, andererseits die Voraussetzungen zu schaffen für dereinst ertragreiche Wirtschaftsbeziehungen mit dem sich in neues Gewand kleidenden Koloss im Osten.

Beispiel Lettland

Diese Politik der Vorsicht liess indessen gewisse Opfer seinerzeit brutaler Sowjetpolitik ohne politische Unterstützung zurück. Das Beispiel des baltischen Kleinstaats Lettland soll die Folgen solch vorsichtiger «Politik der Erneuerung» illustrieren.

Lettland, der mittlere der drei baltischen Staaten, war zur Zeit der Sowjetunion ein Opfer besonders brutaler Sowjetisierung geworden. Mittels zahlenmässig massiver Zwangsumsiedlung von Russen wollte das kommunistische Regime in Moskau die lettische Bevölkerung in ihrem eigenen Land zu einer Minderheit degradieren.

Moskau hat sein Ziel weitgehend erreicht. Als das Sowjetreich zusammenbrach und Lettland unabhängig wurde, lag der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung Lettlands nahe bei fünfzig Prozent. In der Hauptstadt Riga waren die Russen gar in der Mehrheit.

Ehemalige Soldaten der Roten Armee

Besondere, langanhaltende Angst weckte im unabhängigen Lettland vor allem die Tatsache, dass im Moment des Zusammenbruchs der Sowjetunion noch immer bedeutende Kräfte der Roten Armee in Lettland standen. Der junge lettische Staat pochte auf deren Abrüstung und Rückkehr nach Russland. Abgerüstet wurden die Soldaten – aber Russland widersetzte sich ihrer Rückführung nach Russland vehement. Die meisten dieser jungen ehemaligen Soldaten wurden schliesslich zu «Veteranen» erklärt, die nach ihrer Entlassung aus der Roten Armee aber in Lettland verbleiben sollten. Viele dieser «Veteranen» waren noch nicht einmal dreissig Jahre alt.

Die heutigen Ereignisse in der Ukraine illustrieren überdeutlich, weshalb in Lettland seit Durchsetzung dieser «Veteranisierung» ehemaliger Rotarmisten nachhaltige Angst erwacht ist. Angst gegenüber tausendenden eigentlich fremdländischen «Jung-Veteranen», die als politischer Unsicherheitsfaktor in Lettland verblieben.

Korrekturen verunmöglicht

Die Letten, unabhängig geworden, konzentrierten in den Neunzigerjahren ihre politischen Anstrengungen vor allem darauf, die ihnen in den Jahren der Sowjetunterdrückung aufgezwungene Ansiedlung hunderttausender Russen rückgängig zu machen.

Aber diese Anstrengungen blieben fruchtlos. Die russische Regierung, die sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems allein schon aus damaliger Unfähigkeit, das eigene Volk ausreichend zu ernähren, gegen die Rücknahme aller in Lettland wohnhaften Russen vehement wehrte, konnte, als das Problem der Uno zur Lösung übertragen wurde, ihre Macht ausspielen. Die nach Lettland entsandten Uno-Funktionäre verordneten den Letten das papierene Prinzip «zeitgemässer Multikulturalität» in der nach Zerfall der Sowjetunion vermeintlich anbrechenden «neuen Friedensordnung in Europa».

Selbstbestimmungsrecht abgeblockt

Die Letten schufen – sich im Besitz des Selbstbestimmungsrechts wähnend – eine neue Verfassung. Diese reservierte die politischen Rechte allein der ursprünglichen, also lettischen Bevölkerung. Die Uno geisselte diese Verfassung als «engstirnig nationalistisch». Der Kleinstaat Lettland, von den Funktionären der «Internationalen Gemeinschaft» ganz ins Abseits gedrängt, schlug als Kompromiss eine Sprachprüfung vor: Jene Russen, die der lettischen Sprache mächtig seien, hätten danach in Lettland bleiben können. Das wären allerdings nicht sehr viele gewesen: Warum hätte das «russische Herrenvolk» zur Zeit der Sowjetunion auch die Sprache der Unterdrückten, der zum Verschwinden verurteilten Letten lernen sollen…

So verbot die Uno den Letten auch diese Kompromisslösung – unter Androhung von internationalem Wirtschaftsboykott, wenn die Letten ihrem «unzeitgemässen Nationalismus» nicht abschwören würden.

Was hätten die allseits im Stich gelassenen Letten in ihrem von der Sowjetunion zuvor wirtschaftlich zugrunde gerichteten Land den Forderungen dieser Funktionäre mit ihren papierenen Prinzipien entgegenhalten sollen? Wäre das Völkerrecht, wären Menschenrechte von den im Namen der «Völkergemeinschaft» auftretenden Funktionären des Multikulturalismus auch nur halbwegs ernstgenommen worden, hätte das Anliegen der Letten zweifellos als legitim und legal anerkannt werden müssen. Lettland war ein Opfer von Zwangsumsiedlungen geworden, angeordnet von einer sozialistischen Diktatur in Moskau mit dem Ziel, die Letten in ihrem eigenen Land zu einem Dasein als Minderheit zu verurteilen.

Macht vor Recht

Aber Völkerrecht und Menschenrechte galten den damaligen Funktionären, die ihr Handeln als jenes der Völkergemeinschaft rechtfertigten, nichts. Mittels angedrohter Wirtschaftssanktionen – also unter Anwendung der Hungerwaffe – wurde Lettland gezwungen, die zwecks langfristiger Eliminierung der Letten unter Zwang nach Lettland verbrachten Russen als vollberechtigte Mitbürger anzunehmen. Die Macht diktierte – das Recht hatte zurückzustehen.

So ist die Bevölkerungssituation in Lettland heute bedrohlich ähnlich jener, die im Osten der Ukraine für gefährliche Unruhen sorgt. Wer könnte die Beklemmung, mit welcher die Letten das dortige Geschehen verfolgen, nicht nachvollziehen – nachdem ihnen die Durchsetzung offensichtlichen Rechts durch Funktionäre der «Internationalen Gemeinschaft» verboten worden ist. Jetzt regiert in Osteuropa die Macht – eine Macht, der die Letten nichts Handfestes entgegensetzen könnten, würde sie gegen Lettland zum Einsatz gebracht.

Mourir pour Riga?

Zugegeben: Die Nato hat einige Kampfflugzeuge nach Lettland verlegt. Ob diese eher symbolische Geste die in Osteuropa zutiefst verwurzelte «Lektion der Geschichte» zu entschärfen vermag? Die Lektion beruht auf Erfahrungen mit der Aggression Hitlers. Als dieser seine «Raum-Eroberung» entfesselte, entzogen sich die Westmächte dem damals möglichen und zweifellos erforderlichen unmissverständlichen Halt-Gebieten mit der achselzuckend vorgebrachten Frage: «Mourir pour Danzig?».

Und viele Letten fragen sich, ob, falls sich die Situation im Baltikum verschärfen sollte, vom Westen heute mehr zu erwarten sei als achselzuckendes «Mourir pour Riga?»…

Ulrich Schlüer 

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