EU-Wahl und KenFM

von Gert Flegelskamp (flegel-g)

Morgen wird in Deutschland die Wahl der EU-Parlamentarier stattfinden. Dazu hat mir ein Leser einen Link auf ein Video von KenFM zugesendet, der, ich denke bei der letzten Bundestagswahl, dazu aufgerufen hat, NICHT wählen zu gehen und dafür auch eine Menge Gründe anführt, die plausibel klingen, es aber aus meiner Sicht nicht sind.

Er beklagt durchaus zu Recht, dass die Parteien nicht uns, sondern den industriellen Komplex vertreten, dass sie Versprechungen machen, die sie dann nicht einhalten und er führt weitere Gründe an. Kern seiner Aussage ist, dass jeder bei sich selbst beginnen müsste, sein eigenes Leben zu ändern, Schritt für Schritt.

Ich muss das Video nicht erklären, denn Sie haben es ja (hoffe ich) gesehen. Nur liegt diesem Video aus meiner Sicht ein grundlegender Denkfehler zugrunde, der sich auch mit einer Vorgehensweise aufgrund seiner Vorschläge nicht beheben lässt. Er bedenkt bei seinen Vorschlägen nicht wirklich, was Staat und was die Staatsgewalt wirklich bedeuten.

Was passiert, wenn ich seinen Vorschlägen folge, also nicht wähle und wenn es gleich mir all jene tun bzw. nicht tun, die sich von der Politik verraten fühlen? Es ist ernüchternd: NICHTS!

Warum ändert sich nichts? Man muss zuerst einmal das Wahlsystem kennen, will man Änderungen erreichen

Wir haben ein Wahlsystem, in dem die Parteien darum werben, dass man ihnen seine Stimmen gibt, denn je nach Bundesland, vor allem aber bei der Bundestagswahl hat man 2 Stimmen, eine Erststimme und eine Zweitstimme. Abhängig davon wie viele Stimmen eine Partei bekommt, ist der Maßstab, wie viele Parlamentssitze eine Partei bekommt, die Zweitstimme, vorausgesetzt, die Partei hat die 5-Prozenthürde überschritten. Schon diese grobe Darstellung stimmt auch nicht vollumfänglich, denn wir haben ja ein gemischtes Wahlsystem, bestehend aus Direktwahl (Erststimme) und Verhältniswahl (Zweitstimme).

Mit der Erststimme wählen wir, wenn wir dort ein Kreuz machen, einen Direktkandidaten aus dem Wahlkreis von der Partei, die diesen Kandidaten aufgestellt hat. Die Zahl aller Wahlkreise ist identisch mit der hälftigen Zahl der zu vergebenden Parlamentssitze. In jedem Wahlkreis bekommt der Kandidat, der die meisten Erststimmen in diesem Wahlkreis vom Wähler bekommen hat, einen sicheren Sitz im Parlament. Da 598 Sitze im Deutschen Bundestag zu vergeben sind, werden also bundesweit 299 Kandidaten über die Erststimme (Direktmandat) ins Parlament gewählt.

Die restlichen 299 Sitze werden mittels Verhältniswahl ermittelt. Nicht nur das, die Verhältniswahl ist auch gleichzeitig der Gradmesser aufgrund eines mathematischen Vorgehens für die Beantwortung der Frage, wie viele Sitze eine Partei insgesamt aufgrund des Wahlergebnisses beanspruchen kann, Es ist eine Listenwahl und funktioniert so: In jedem Wahlkreis werden Kandidaten für die Verhältniswahl nominiert und in einer Liste aufsteigend festgelegt. Das sieht so aus:

  1. Kandidat
  2. Kandidat
  3. Kandidat
  4. Kandidat
  5. Kandidat

Dabei werden, ausgehend vom Wahlergebnis einer Partei in diesem Wahlkreis die Kandidaten in der Reihenfolge ihre Aufstellung nominiert. Wenn also eine Partei für einem Wahlkreis nach der Auszählung Anspruch auf 3 Sitze hat, haben Kandidat 1 bis 3 das Ziel erreicht. Eine Ausnahme gibt es. Zumeist wird der ausgewählte Direktkandidat auch zusätzlich auf Position 1 der Liste gesetzt. Hat er das Direktmandat bekommen, würden also die Kandidaten 2 bis 4 ausgewählt. So entstehen also 299 Wählerlisten je Partei.

Hier gerät ein wenig Sand ins Getriebe des Wahlmechanismus. Nehmen wir an, in einem Wahlkreis erhält eine Partei im Verhältnis gesehen nicht genügend Zweitstimmen, um überhaupt einen Kandidaten aus diesem Wahlkreis für diese Partei zu berücksichtigen, aber ihr Direktkandidat hat die meisten Erststimmen erhalten, dann ist der Fall eingetreten, dass 1 Kandidat mehr Anspruch auf einen Parlamentssitz hat, als im Parlament zur Verfügung stehen. Der Direktkandidat hat aber Anspruch auf einen Sitz und die anderen Wahlkreise wollen nicht darauf verzichten, dass wegen diesem Direktkandidaten in Wahlkreis X einer der dortigen Listenkandidaten zurückstecken muss. Folglich wird diese Partei einen Sitz mehr bekommen, als ihr ursprünglich zusteht, ein Überhangmandat.

Wenn eine Partei die 5-Prozenthürde nicht erreicht hat, aber einer ihrer Direktkandidaten in einem Wahlkreis die meisten Erststimmen auf sich vereinigen konnte, dann zieht auch dieser Kandidat ins Parlament ein. Wie? Natürlich in Form eines Überhangmandates. Gelingt es sogar 3 Kandidaten dieser Partei, jeweils einen Sitz als Direktkandidat zu bekommen, zieht sie, obwohl sie die 5% nicht erreicht hat, in Fraktionsstärke ins Parlament ein.

Jedes Überhangmandat führt natürlich zur Verstimmung bei den Parteien, die kein solches oder zumindest weniger erhalten haben. Deshalb wurde vor dem BVerfG dagegen geklagt und das BVerfG befand die bisher übliche Regel sei verfassungswidrig. Aber das BVerfG besteht aus Juristen und unterliegt dabei natürlich einem sehr eingeschränkten Hang zur Logik. Logisch wäre gewesen (so denke ich), wenn es geurteilt hätte, die Überhangmandate mit Ausnahme derer, die ein solches Mandat erreicht, aber nicht die 5% geschafft haben, abzuschaffen. das wäre eigentlich einfach gewesen. Vor einer Wahl müssten alle Wahlkreise ihre Vorschläge zur Kandidatur dann beim Landesverband einreichen, der dann eine Landesliste aufstellen würde und über diese Landesliste dann auch nur die Zahl der Kandidaten ins Parlament einziehen, wie sie insgesamt in Anspruch nehmen können. Das würde natürlich bedeuten, dass im Landesparlament zwischen den Delegierten der einzelnen Wahlkreise ein Hauen und Stechen stattfinden würde, weil ein Direktmandat in Wahlkreis X ohne ausreichende Stimmen für einen Kandidaten (nach 2.Stimmen) natürlich dazu führen würde, dass in einem anderen Wahlkreis ein Kandidat nun nicht an den Fleischtopf gelangt. Alternativ hätte man auch das Direktmandat abschaffen können, also ausschließlich nach dem Verhältniswahlrecht wählen können.

Aber solch logischen Erwägungen ist das BVerfG nicht geneigt und hat stattdessen geurteilt, dass Überhangmandate der einen Partei zu Ausgleichsmandaten bei den anderen Parteien führen müssen. So kommt es, dass wir derzeit 33 Abgeordnete im Bundestag sitzen haben, die ihren Sitz nur dieser Regelung zu verdanken haben.

Kommen wir zurück zu der Meinung von KenFM. Folge ich seinem Rat, kann ich mir natürlich auf die Schulter klopfen und sagen, „ich habe keine Schuld, denn ich habe nicht falsch gewählt, weil ich gar nicht gewählt habe.“ Und das ist falsch. Er betont ja ausdrücklich, dass der „industrielle Komplex“ von den gewählten Parteien bedient wird. Wählt er also nicht, so seine Vorstellung, dann gibt es auch keine Parteien, die gegen ihn regieren. Dabei vergisst er, dass

  1. im Wahlgesetz keine Mindestwahlbeteiligung vorgesehen ist
  2. die Sitze nur von den gültig abgegeben Stimmen berechnet werden

Daran scheitert seine Idee, denn auch wenn alle nicht wählen, die sich von der Politik betrogen fühlen, gehen die Anhänger der jeweiligen Parteien und die Leute aus dem industriellen Komplex und vermutlich auch die meisten Beamten in jedem Fall wählen. das bedeutet, gewählt wird trotzdem und das heißt auch, je niedriger die Wahlbeteiligung ist, um so höher wird das Wahlergebnis der etablierten Parteien ausfallen.

Natürlich hat er recht, wenn er den „industriellen Komplex“ kritisiert, übersieht dabei aber, dass wir uns seit der ersten industriellen Revolution diesem Komplex untergeordnet haben. Auch wenn es uns nicht gefällt, wir brauchen die Staatsgewalten und wir brauchen den industriellen Komplex. Es ist leicht gesagt, wir können auf das Auto verzichten und stattdessen aufs Fahrrad oder auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Doch wer baut denn die öffentlichen Verkehrsmittel (Bahn, Bus, Zug)? Wer baut die Fahrräder, dazu noch zu Preisen, die man sich leisten kann? Und wer organisiert alles, was wir zwar als selbstverständlich ansehen, um das wir uns aber nicht wirklich kümmern wollen?

Er betont auch, dass wir ja nun das Internet haben. Das ist richtig, aber was ist die Basis davon? Wer organisiert die Suchmaschinen, die Betriebssystem und die Netze? Wer versorgt uns mit Energie?

Sein Vorschlag kommt aus dem Bauch heraus und ignoriert dabei alles, was seiner Theorie entgegensteht. Ohne den industriellen Komplex gibt es nur noch wenige Arbeitsplätze und wer versorgt dann die Menschen mit dem, was sie brauchen. Ohne Autos bricht auch das ganze Transportsystem zusammen, mit dem z. B. Waren in die Geschäfte transportiert werden, kann die Feuerwehr nicht mehr ausrücken, um einen Brand zu löschen und will er Kranke oder Schwerverletzte auf dem Fahrrad ins Krankenhaus schaffen? Bis wir wieder Pferdefuhrwerke einführen könnten, würde wohl nur noch der Handkarren als Ersatz dienen. Ob er auch darüber nachgedacht hat?

Er hat recht, wenn er sagt, dass die Regierungen nicht nur versagen, sondern teilweise bewusst gegen den Großteil der Bevölkerungen arbeiten. Natürlich wäre es sinnvoll, Alternativen zu schaffen. Er hat recht, wenn er sagt, wir haben das Internet. Das könnte man nutzen, um neue Strukturen zu schaffen, um den Willen der Bevölkerung bzw. einer Mehrheit davon abzubilden. Doch das setzt voraus, dass sich die Bevölkerung auch mit politischen Erfordernissen und Gegebenheiten auseinandersetzt und die Möglichkeit hat, die eigene Meinung einzubringen. Das haben einige Leute vor ein paar Jahren sogar schon mal zu realisieren versucht, politische Abstimmungen durch die Bevölkerung via Internet. Das Interesse war gering, ganz sicher auch die Möglichkeit, das System einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Wen es interessiert, der kann es auch heute noch nachlesen. Vielleicht kommt es ja wirklich mal dazu, so ein System zu implementieren. Wir zumindest haben mit unserem damaligen Vorschlag der Partei Die Basis. nur ein sehr begrenztes Echo gefunden. Sicher, darin mag einiges sein, was wir noch falsch gedacht haben, aber das Konzept beruhte ja vor allem darauf, solche Fehler zu verhindern, weil es dann genügend Leute geben würde, denen das auffallen würde. Das Geheimnis eines solchen Systems wäre es vor allem, dass Betriebsblindheit auffällt und korrigiert wird.

 

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