Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

von Michael Obergfell (fortunanetz)

Bald steht die Europawahl an. Immer wieder findet man im Internet Aufforderungen, nicht zu wählen und nicht hin zu gehen. Angesichts der dringend notwendigen politischen Änderungen, die unser Land, die EU, die Wirtschaftspolitik und auch das internationale Staatensystem benötigen, ist diese Forderung nicht zu wählen ein Aufruf dazu, den derzeitig etablierten Parteien und Kräften das Feld zur Gestaltung dieser Änderungen gleich freiwillig zu überlassen. Ob das eine kluge Strategie ist, kann man an einfachen Überlegungen zeigen.

Wenn Sie aufgefordert werden, etwas zu tun, dann überlegen Sie sich doch zuerst, welches Resultat die Aufforderung für sie selbst hat. Stehen sie beispielsweise auf einem Felsen und werden aufgefordert, mehrere 100 Meter hinunter zu springen, dann tun sie dies vermutlich nicht, weil das Ergebnis voraussichtlich sein wird, dass sie mit hoher Geschwindigkeit auf den Boden aufschlagen. Gesunde Menschen springen dann nicht, sofern die Umstände sie nicht dazu zwingen.

Die Aufforderung, nicht zu wählen hat das Ziel sie inaktiv zu machen. Und am Ende waren sie nicht wählen, aber eben Andere. Fast 30 Prozent der Stimmberechtigten lassen sich so die Möglichkeit nehmen, einen Alternativkandidaten zu bestimmen, der wenigstens dem feindlichen Kandidaten den Platz, die Stimme und die Diäten wegnimmt. Wer z. B. Hartz IV bezieht und nicht wählt, überlässt den Erfindern von Hartz IV das Feld in der Politik. Konkret bedeutet dies: Wären die fast 30 Prozent Nichtwähler der letzten Bundestagswahl wählen gegangen, und hätten diese keine der etablierten Parteien CDUCSUSPDFDPGrüne gewählt, wäre es womöglich auch für eine Große Koalition alleine aus SPD und CDU/CSU eng geworden, einfach weil die Nichtwähler aus dem Wahlergebnis heraus gerechnet werden. Die großen Parteien schrumpfen dann auf ihre wahre Größe zusammen und finden ihren angemessenen Platz in der öffentlichen Meinungsbildung, wenn die „Nichtwähler“ doch wählen gehen.

Nun gibt es ein weiteres Argument für die „Nichtwähler“ eben nicht zur Wahl zu gehen bzw. Andere aufzufordern nicht zu wählen. Dieses Argument lautet: „Wir gehen nicht wählen, weil wir keine Wahl haben, bzw. weil wir alles das ablehnen, was zur Wahl steht.“

Vordergründig scheint dieses Argument valide zu sein. Hat man keine Wahl, soll man auch nicht wählen. Doch diese Aussage hat zwei Prämissen:

Prämisse Nr. 1: Diese Art von Nichtwähler, die sich in keiner der bestehenden Parteien wiederfindet, ist in einer Fundamentalopposition gelandet. Der Fundamental-oppositionelle unterstellt, dass eine Wahl ausschließlich daraus besteht, sein „Kreuzchen“ zu machen und dann die Stimme „abzugeben“. Dabei „vergisst“ der Fundamental-oppositionelle, dass eine Reise immer mit einem Schritt beginnt, dem weitere folgen müssen. Will ich ein anderes Ziel als das, welches mir unmittelbar zur Verfügung steht, muss ich mehr Schritte bewerkstelligen, als nur ein Kreuzchen bei der Wahl mit einer Stimmabgabe zu machen.

Prämisse Nr. 2: Das Argument, es würde ja eh nichts nützen ist – mit Verlaub – eine faule Ausrede. Denn faktisch ist es so, dass jede Stimme, die eine neue Partei am Ende in ein Parlament bringt, einer etablierten Partei den Parlamentssitz weg nimmt und damit auch das Geld. Wer so argumentiert, gibt Merkel Recht wenn sie behauptet: Ich bin alternativlos…

Nichtwähler haben die Möglichkeit eine Partei zu wählen die ihren Zielen wenigstens in Teilen nahekommt und ihren Gegnern in der Parteienlandschaft deutlich schaden. Nichtwähler können Protestwähler sein, wenn sie mit keinem Angebot einverstanden sind. Protestwählen ist besser als nicht wählen. Nichtwähler in der Fundamentalopposition sollten sich zudem aber darum bemühen, eine Alternative zu schaffen und das auf jedem denkbaren Weg. Dabei ist es wichtig, sowohl zu wählen als auch außerhalb der Wahl aktiv zu werden.

Warum das so ist will ich an einem historischen Beispiel zeigen.

Im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik gab es viele Kritiker des modernen Lebensstils, die sich in allgemeinen Bewegungen wie z. B. der Lebensreformbewegung zusammen fanden. Eine recht erfolgreiche Teilgruppe der Lebensreformbewegung hat die schwere Zeit der Wirtschaftskrisen und der NS-Diktatur recht gut überstanden, nämlich die Anthroposophen. Ihr Gründer, Rudolf Steiner, war ein begnadeter Redner, Schriftsteller und Denker, der basierend auf einem Mix von christlichen und esoterischen Lehren ein eigenes Weltbild entwarf.

Die Anthroposophie begann in Zeiten der Weimarer Republik mit der Verbreitung der Schriften Steiners, mit Vortragsreihen und Informationsveranstaltungen zu ihren Themen. Darüber hinaus begründete Steiner auch institutionell sehr früh die Waldorfpädagogik mit ihren Waldorfschulen. Die Institution „Waldorfschule“ gibt es auch heute noch in Deutschland (und auch in anderen Ländern).

Aus dieser pädagogischen Bewegung heraus entwickelte sich ebenfalls sehr früh eine anthroposophische Landwirtschaft, die sich vor allem durch den ökologischen Gedanken auszeichnet. Verbände wie „Demeter“, die zugleich auch ein Qualitätssiegel anbieten, tragen heute noch den anthroposophischen Gedanken weiter in die Landwirtschaft und es gibt weiterhin eine recht große Zahl an nach diesen Leitlinien und Ideen geführte Landwirtschaftsbetriebe.

Auch die Baubiologie, die in Deutschland durch eine ganze Reihe zum Teil recht bekannter Architekten vertreten ist, kann man immer wieder antreffen.

Auf dem Zeitungsmarkt gibt es eine ganze Reihe überall verfügbarer Zeitschriften und Magazine, die von Anthroposophen gegründet und geführt werden. Es gibt zudem auch anthroposophische Verlage, die diese Zeitungen, Magazine und Bücher drucken.

Für den Vertriebsweg anthroposophisch inspirierter Produkte für den Endverbraucher gibt es so bekannte Supermärkte wie „Alnatura“ oder in Hessen „tegut“. Auch sehr viele Bioläden in Deutschland sind von Anthroposophen geführt oder verkaufen bewusst Produkte anthroposophischer Betriebe.

Deutschlands beliebteste Firma im Ansehen der Kunden ist der von dem bekennenden Anthroposophen Götz Werner aus Karlsruhe ins Leben gerufen worden, nämlich der fast überall in Deutschland (und auch im Ausland) präsente „DM Drogeriemarkt“. Dort finden sich viele Produkte von ganz ausgewiesen anthroposophisch inspirierten Firmen wie zum Beispiel Kosmetik- und Pflegeprodukte von der Firma Weleda. Die Anzahl anthroposophisch inspirierter Unternehmen liegt bei ca. 10.000 weltweit. Sie alle aufzuzählen würde diesen Artikel sprengen.

Es sei noch erwähnt: Es gibt sogar eine Bank der Anthroposophen in Deutschland, nämlich die GLS-Bank, wobei GLS die Abkürzung für „Gemeinschaft Leihen und Schenken“ ist, ein für eine Bank recht ungewöhnlicher Name…

Nimmt man noch hinzu dass es auch noch eine anthroposophische Medizin gibt, die durch eine recht große Anzahl von Ärzten in Deutschland vertreten wird, und dass es sogar viele anthroposophische Gemeinden christlicher Prägung gibt, so kann man sagen, dass es die Anthroposophen geschafft haben nicht nur als Gemeinschaft zwei gravierende Wirtschaftskrisen und einen Weltkrieg in Deutschland zu überleben. Sie haben auch bedeutende wirtschaftliche und kulturelle Erfolge auf vielen Gebieten vorzuweisen und sind damit eine in der Lebenspraxis recht einflussreiche Gruppe.

Dennoch ist und bleibt die Anthroposophie eine Randgruppe, die zwar viele ihrer Visionen praktisch verwirklicht hat und dabei, um nun das frühere Bild dieses Artikels wieder aufzugreifen, viele Schritte hin zum fernen Ziel gegangen ist. Aber dennoch bleibt diese Bewegung in einer Nische stecken. Sie gewinnt keine Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit und kann ihre Werte nicht zu den Werten einer bedeutenden Mehrheit der Deutschen machen.

Warum ist das so?

Der Anthroposophie fehlt eine Partei, die ihre Ideen und Ideale ganz offen vertritt. Das liegt vor allem daran, dass ihr Gründer Rudolf Steiner ausdrücklich keine Partei gründen wollte. Damit wählen Anthroposophen entweder gar nicht oder sie wählen eine Partei die ihren Idealen lediglich nahe kommt. Lange Zeit unterstützten viele Anthroposophen die Grünen in der irrigen Annahme, dass „die Grünen die einzige Partei Deutschlands sind, die keine Nachfolgeorganisation der NSDAP“ seien. Diese Begründung lieferte mir ein bekannter Anthroposoph in einem direkten Gespräch in den Jahren, als die Grünen gegründet wurden. Natürlich ist es so, dass die Grünen viele ökologische Ideale mit den Anthroposophen teilen. Ob die meisten Anthroposophen damit glücklich wurden, die Grünen zu wählen, wage ich angesichts der aktuellen Situation zu bezweifeln. Die Grünen unterstützen die Transferunion, wollen die direkte Demokratie nicht wirklich und betätigen sich gerne als Kriegstreiber im Ukraine-Konflikt. Gründe genug für jeden Anthroposophen, hinter die Grünen ein Fragezeichen zu setzen.

Die Piraten sind die zweite Partei, die Positionen des bekennenden Anthroposophen Götz Werner programmatisch unterstützen, nämlich das „Bedingungslose Grundeinkommen“. Nachdem sich die Piraten grandios selbst demontierten, kann man diese Initiative von Götz Werner als gescheitert betrachten. Da es keine „anthroposophische Partei“ gibt, ist und bleibt die Anthroposophie zu ihrem Nischendasein verdammt. Und man kann an diesem tragischen Schicksal sehen, wie wichtig ein „Kreuzchen“ zu machen eigentlich doch ist. Und wenn für die eigenen, schon verwirklichten Ziele keine Partei da ist, sollte man sich überlegen eine zu gründen, damit so etwas nicht passiert.

Wer fundamental-oppositionell ist, muss beides tun: er muss in der Praxis viele einzelne Schritte tun um sein (fernes) Ziel zu erreichen, er muss aber auch sein „Kreuzchen“ machen für die Partei die ihm auf diesem Weg helfen kann. Allein nur ein Kreuzchen machen hilft nichts, es ist in diesem Fall mehr Initiative nötig. Notfalls sollte man eine Partei gründen um die eigenen Ziele durchzusetzen. Mindestens aber sollte man übergangsweise eine Partei wählen, die den eigenen Zielsetzungen am nächsten kommt. Aber gar nicht wählen führt in unserer Welt ganz sicher dazu, dass man für seine Ziele keine Mehrheiten findet.

Der Fall der Anthroposophie zeigt deutlich: Auch wenn Ziele vorhanden sind, sogar Geld und eine eigene Presse da ist und erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen gegründet werden, bleibt man dennoch in einer Nische, wenn man keine politische Macht hat. Daher sollten Nichtwähler, wenn sie unter den Angeboten der aktuellen Parteienlandschaft nicht wirklich wählen können, wenigstens Protestwähler werden, um jenen zu schaden die sie in diese Lage gebracht haben. Und darüber hinaus sollte man erkennen, neue Ansätze aufzubauen und sich nicht ständig zu schwächen mit Sätzen wie: „Ich habe keine Wahl.“ oder „Es nutzt alles nichts.“ Fakt ist: Es gibt nichts Gutes außer man tut es,

meint
Michael Obergfell

 

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