Er erzählte einfach die Wahrheit über den US-Drohnenkrieg …

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Daniel Hale, dessen traurige Erlebnisse in Afghanistan und sein Gewissen ihn zum Whistleblower machten, noch vor seiner Einkerkerung für fast vier Jahre. © Bob Hayes / handout

Chip Gibbons (infosperber)

In den USA ist Daniel Hale zu 45 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die traurige Geschichte eines Whistleblowers.

(Red. Der hier folgende Artikel ist die deutsche Übersetzung eines Artikels, der auf jacobinmag.com in den USA erschienen ist. Siehe unten. – Und bitte unbedingt auch die blaue Box am Ende des Artikels beachten! Sie betrifft eine andere Folge der Einsätze in Afghanistan und der psychischen Belastung der Soldaten und Veteranen.)

Daniel Hales Enthüllungen über die Brutalität der US-Drohnenkriegsführung haben keinem Amerikaner geschadet und keinen weniger sicher gemacht. Aber Hales strafrechtliche Verfolgung wegen Whistleblowing und seine Verurteilung vor ein paar Tagen zu fast vier Jahren Gefängnis sind ein Schlag gegen die Demokratie.

Am 27. Juli 2021 verurteilte Richter Liam O’Grady den Drohnen-Whistleblower Daniel Hale zu drei Jahren und neun Monaten Haft im Bundesgefängnis. Der Gerichtssaal war voll von Unterstützern, darunter Freunde, Whistleblower, die selbst strafrechtlich verfolgt worden waren, Friedensaktivisten und Verfechter der Pressefreiheit. Als US-Beamte Hale abführten, rief einer seiner Mitbewohner: «Wir sehen uns bald wieder, Dan». Bald erhoben sich fast alle auf der vollbesetzten Tribüne des Gerichtssaals und winkten Hale zum Abschied zu. «Danke», war immer wieder zu hören, als die Leute dem ehemaligen Soldaten zuriefen, der alles riskiert hatte, um die Brutalität des weltweiten Mordprogramms der USA aufzudecken.

Drei Tage später, während das Justizministerium und das «Büro des Direktors der Nationalen Nachrichtendienste» über den «National Whistleblower Appreciation Day» twitterten, wurde Hale in das Regionalgefängnis Northern Neck verlegt. Er wird derzeit in einem Raum mit hundert Personen festgehalten, ohne eine Matratze, Decke und ohne Wechselkleidung, und natürlich auch ohne Besucher.

Derartige Haftbedingungen sind unter allen Umständen verabscheuungswürdig. Keine Gesellschaft, die die dem Menschen innewohnende Würde ernst nimmt, würde jemanden diesen Bedingungen aussetzen, unabhängig davon, wofür er verurteilt worden ist. Dass Hales «Verbrechen» darin besteht, die Wahrheit über US-Kriegsverbrechen zu sagen, macht die Situation noch abscheulicher. Sogar der Bundesrichter, der Hale ins Gefängnis schickte, anerkannte, dass Hale bei seinen Versuchen, die Öffentlichkeit auf den menschlichen Tribut des Drohnenkriegs aufmerksam zu machen, grossen Mut bewiesen hatte.

Das Auftauchen eines Whistleblowers

Hale wurde nach dem Spionagegesetz – dem «Espionage Act» – verurteilt. Sein Verbrechen bestand darin, geheime Informationen über das US-Drohnenprogramm an den Journalisten Jeremy Scahill weitergegeben zu haben. Diese Informationen bildeten später die Grundlage für eine Reihe von Artikeln, die von «The Intercept» unter dem Titel «The Drone Papers» veröffentlicht wurden.

Dank Hales Enthüllungen erfuhr die Öffentlichkeit, dass während eines fünfmonatigen Zeitraums in Afghanistan 90 Prozent (!) der durch US-Luftangriffe getöteten Personen nicht die beabsichtigten Ziel-Personen waren. Zusätzlich zu den als geheim eingestuften Dokumenten über das globale Tötungsprogramm der USA legte Hale auch die nicht als geheim eingestuften (aber immer noch nicht öffentlich zugänglichen) Leitlinien für die «US Terror Watch List» offen. Infolgedessen konnten Einzelpersonen ihre Aufnahme in die «No-Fly-List» erfolgreich anfechten.

Im Vorfeld der Verurteilung schickte Hale einen handschriftlichen Brief an den Richter, in dem er sein Vorgehen erklärte. (Auf Ersuchen von Hales Anwälten übermittelte auch ich dem Richter einen Brief.) Auch während der Anhörung selbst hielt Hale, oft den Tränen nahe, eine siebzehnminütige Rede vor dem Gericht. Sowohl Hales Brief als auch seine Rede waren zutiefst bewegende Schilderungen darüber, wie sein Gewissen ihn dazu brachte, gegen das weltweite Tötungsprogramm der USA vorzugehen.

Wie Hale erklärte, war der erste Teil seines Lebens besonders hart. Im Jahr 2009, als er von Obdachlosigkeit bedroht war, trat er dem US-Militär bei. Er war ein Gegner der US-Kriege, aber er glaubte, dass der neu gewählte Präsident Barack Obama sie beenden würde. Ausserdem hatte er angesichts seiner persönlichen wirtschaftlichen Lage kaum eine andere Wahl. Und das Militär entdeckte dann, dass Hale eine Begabung für das Erlernen von Sprachen hatte, und brachte ihm die Sprache Mandarin bei.

Im Jahr 2012, im Alter von vierundzwanzig Jahren, wurde Hale auf den Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan geschickt, um dort als Analyst für den Nachrichtendienst zu arbeiten. Bagram war ein wichtiger Teil der «Tötungskette», und Hales Aufgabe bestand darin, den Standort von Mobiltelefonen aufzuspüren, die vermutlich «feindlichen Kämpfern» gehörten. Diese genaue Ortung von Handys ermöglichte es der US-Regierung, deren Besitzer mit Hilfe von speziellen Drohnen zu verfolgen, die mit Kameras ausgestattet waren und zur Überwachung des täglichen Lebens der Verdächtigen eingesetzt werden konnten. Drohnen werden jedoch nicht nur zur Überwachung eingesetzt, sondern auch zum Töten.

Nur wenige Tage nach seiner Ankunft wurde Hale zum ersten Mal Zeuge, wie das konkret aussah. Ein mutmassliches Mitglied der Taliban hatte sich am frühen Morgen mit anderen versammelt, um Tee zu trinken. Seine Begleiter waren bewaffnet, aber, wie Hale betonte, war das Tragen von Waffen weder für die Menschen dort, wo er aufgewachsen war (in den USA), noch in den Regionen Afghanistans ausserhalb der staatlichen Kontrolle ungewöhnlich. Da die beobachteten Leute jedoch im militärischen Alter und bewaffnet waren und sich in der Nähe der Ziel-Person der USA aufhielten, wurden sie pauschal für «schuldig» befunden, was für ein Todesurteil im Schnellverfahren ausreichte.

Wie Hale erklärte,

«obwohl sie sich friedlich versammelt hatten und keine Bedrohung darstellten, war das Schicksal der jetzt Tee trinkenden Männer so gut wie besiegelt. Ich konnte nur noch – im Bürostuhl sitzend – im Monitor meines Computers zuschauen, wie ein plötzlicher, furchterregender Schwall von Höllenfeuer-Raketen niederging und rotviolette Innerei-Fetzen auf dem morgendlichen Berg herumspritzten.»

Diese Erinnerung hat sich bei Hale eingeprägt. Er sagt, es vergehe kein Tag, an dem er seine Rechtfertigungen nicht selbst in Frage stelle:

«Nach den Regeln meines Einsatzes war es mir zwar erlaubt, beim Töten dieser Männer – deren Sprache ich nicht sprach, deren Bräuche ich nicht verstand und deren Verbrechen ich nicht nachprüfen konnte – auf so grausame Weise mitzuhelfen, so wie ich es tat. Und sie so sterben zu sehen. Aber wie konnte es als ehrenhaft beurteilt werden, wenn ich nun ständig auf die nächste Gelegenheit lauerte, ahnungslose Menschen zu töten, die in den meisten Fällen weder für mich noch für andere Menschen eine Gefahr darstellten?»

Ein anderer Vorfall verfolgte Hale. Er hatte einen Autobombenbauer überwacht, als seine Vorgesetzten befürchteten, diese Zielperson könnte nach Pakistan fliehen. Es war die letzte Chance, ihn zu töten. Als der Bombenbauer unterwegs war, wurde beschlossen, auf sein Auto zu schiessen. Es war ein bewölkter Tag. Die Rakete verfehlte das Auto. Hale beobachtete in Echtzeit, wie der Mann anhielt und ausstieg. Aber auch jemand anderes stieg aus: eine Frau, seine Ehefrau.

Hale hatte keine Ahnung, dass die anvisierte Person nicht allein war. Sie zog etwas aus dem Auto und liess es zurück, als sie davonfuhren, aber Hale konnte auf der Drohnenkamera nicht erkennen, was es war, bevor sie weiterfuhren. Tage später erfuhr Hale, was zurückgeblieben war: ihre beiden Töchter im Alter von fünf und drei Jahren. Die Fünfjährige war nach dem Raketenangriff auf das Auto an den Schrapnell-Verletzungen gestorben, das jüngere Geschwisterkind war stark dehydriert, aber noch am Leben. Hale erzählt, sein ihm vorgesetzter Offizier habe sich über diesen Vorfall geärgert, aber «nicht über die Tatsache, dass wir irrtümlich auf einen Mann und seine Familie geschossen und dabei eine seiner Töchter getötet hatten».

Wenn Hale über diesen Vorfall nachdenkt, an den er sich jedes Mal erinnert, wenn jemand den Drohnenkrieg zu rechtfertigen versucht, fragt er sich: «Wie könnte ich weiterhin glauben, dass ich ein guter Mensch bin, der sein Leben und sein Recht auf Glück verdient?»





Eine Gewissenskrise

Barack Obama hatte 2010 beim «White House Correspondents› Dinner» darüber gescherzt, die «Jonas Brothers» mit Drohnen zu töten. Doch im Mai 2013 führte die zunehmende Kontroverse über das Programm, insbesondere nach der Tötung eines US-Bürgers, dazu, dass Obama gezwungen war, sich substanziell zu erklären. Zufälligerweise war Hale auf einer Abschiedsfeier für die Soldaten, die wie er bald nach Hause zurückkehren und die Air Force verlassen konnten. Dennoch war Hale von Obamas Ausführungen im Fernsehen «wie gebannt».

Obama versicherte den Amerikanern, dass das Drohnenprogramm in Ordnung sei, da man sich «nahezu sicher» sei, dass keine Zivilisten bei einem Angriff getötet würden, und dass nur jemand, der eine «unmittelbare Bedrohung» darstelle, mit tödlicher Gewalt angegriffen werde. Hale «kam zu der Überzeugung, dass die Politik der Morde mit Drohnen dazu diente, der Öffentlichkeit vorzugaukeln, sie gewährleiste unsere Sicherheit», und dass seine «Beteiligung am Drohnenprogramm [zutiefst] falsch war».

Und wofür war das alles gut? Die US-Regierung behauptet, es gehe darum, uns vor dem Terrorismus zu schützen, aber als Hale die Entwicklung des Krieges in Afghanistan selber beobachtete, wurde ihm «zunehmend bewusst, dass der Krieg sehr wenig damit zu tun hatte, den Terror daran zu hindern, in die USA zu kommen, aber sehr viel mehr damit, die Profite der Rüstungsindustrie zu schützen.» Wie Hale in seinem Brief an den Richter schrieb:

«Es spielte keine Rolle, ob es sich, wie ich gesehen hatte, um einen afghanischen Bauern handelte, der zerfetzt wurde, aber wie durch ein Wunder noch bei Bewusstsein war und vergeblich versuchte, seine Eingeweide vom Boden zu nehmen, oder ob es sich um einen mit der US-amerikanischen Flagge behängten Sarg handelte, der unter dem Klang von einundzwanzig Salutschüssen auf dem «Arlington National»-Friedhof ins Grab gesenkt wurde. Peng, Peng, Peng. Beides dient der Rechtfertigung des Kapital-Gewinnes auf Kosten des Blutes – ihres und unseres Blutes. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich voller Trauer und schäme mich für die Dinge, die ich getan habe, um all das zu unterstützen.»

Hale engagierte sich bald im Kreise der Antikriegs-Aktivisten und sprach an der Seite von Scahill auf einer Veranstaltung und auf dem Drohnen-Gipfeltreffen der Aktivistinnengruppe CODEPINK. Bei dem Gipfeltreffen waren auch Familienangehörige von Menschen anwesend, die durch US-Drohnen getötet wurden. Hale bat bei ihnen um Entschuldigung.

Einer der Redner, Fazil bin Ali Jaber, reiste extra aus dem Jemen an, um von dem Drohnenangriff zu berichten, bei dem sein Bruder und sein Cousin getötet wurden. Während Fazil die Geschichte erzählte, sass Hale im Publikum. Am Tag des Angriffs war Hale in Afghanistan im Einsatz und verfolgte das ganze Geschehen am Computerbildschirm.

Hale hasste die Vorstellung, «meinen militärischen Hintergrund auszunutzen, um einen bequemen Schreibtischjob zu bekommen», aber er konnte ein Jobangebot des Rüstungsunternehmens Leidos nicht ablehnen. Trotz seines öffentlichen Anti-Kriegs-Engagements wurde Hale bald bei der «National Geospatial-Intelligence Agency» (NGA) eingestellt, wo er Daten zu den China-Karten der Regierung hinzufügte. Beim geselligen Beisammensein nach der Arbeit entschieden sich Hales Kollegen dafür, Videos von tödlichen Drohnenangriffen anzuschauen – zur Unterhaltung! Wie Hale erzählte, war das Anschauen solcher «Kriegspornos» auch unter den Soldaten in Afghanistan gang und gäbe.

Hale geriet in eine Gewissenskrise und kam schliesslich zu dem Schluss: «Um den Kreislauf der Gewalt zu stoppen, sollte ich mein eigenes Leben opfern und nicht das eines anderen Menschen.» Zu diesem Zeitpunkt nahm Hale Kontakt zu einem Enthüllungsreporter auf, den er kannte – vermutlich Scahill – und «sagte ihm, dass ich etwas habe, was das amerikanische Volk wissen muss».

Bei der Urteilsverkündung erläuterte Hale seine Ansichten genauer. Er erklärte dem Richter, dass er das Töten immer für falsch halte, daher sei er auch gegen die Todesstrafe, aber dass «das Töten von Wehrlosen besonders falsch» sei. Als Antwort auf die Behauptung, seine Enthüllungen schadeten der nationalen Sicherheit, verwies Hale auf den Umstand, dass der Schütze des Nachtclubs «Pulse» (in Orlando, 2016), Omar Mateen, in einem Telefongespräch mit der Polizei auch die Tötung Unschuldiger durch US-Bombenanschläge erwähnte. Auch wenn nichts Mateens  mörderische Taten rechtfertigen kann, so ist umgekehrt doch klar, dass der durch die US-Politik provozierte «Terrorismus» auch in Hales Gewissen schwer wiegt.

Hale machte dem Richter klar, warum er auf der Anklagebank sass:

«Ich bin hier, weil ich etwas gestohlen habe, das mir nie zustand: wertvolles menschliches Leben. Ich konnte nicht länger in einer Welt leben, in der die Menschen so tun, als ob nichts geschehen wäre, was aber doch geschehen ist. Bitte, hohes Gericht, verzeihen Sie mir, dass ich Papiere statt Menschenleben gestohlen habe.»

Der Prozess war eine Farce

Das Verfahren gegen Daniel Hale war von Anfang bis Ende eine Farce. Wäre er vor Gericht gegangen, wäre es Hale untersagt gewesen, die formelle Einstufung der von ihm veröffentlichten Dokumente anzufechten, zu erwähnen, wie häufig Leaks sind und wie selten diese strafrechtlich verfolgt werden. Es wäre ihm untersagt gewesen, seine «guten Motive» für die Veröffentlichung der Dokumente vorzubringen oder gar zu behaupten, dass jemand anderes das Verbrechen begangen haben könnte. Es sei denn, er hätte eine bestimmte Person mit Zugang zu den Dokumenten und einer Beziehung zu dem Journalisten, der sie veröffentlicht hat, nennen können.

Nachdem ihm jetzt jegliche Möglichkeit der Verteidigung genommen worden war, bekannte sich Hale in einem der fünf Anklagepunkte für schuldig. Er tat dies, ohne dass ihm ein Vergleich in Aussicht gestellt wurde. Normalerweise würde die Staatsanwaltschaft unter solchen Umständen die Abweisung der übrigen Anklagepunkte beantragen. In Hales Fall weigerte sich die Staatsanwaltschaft jedoch, dies zu tun, was bedeutete, dass sie Hale möglicherweise dazu zwingen konnte, sich wegen der übrigen Anklagepunkte vor Gericht zu verantworten, wenn das Urteil des Richters ihre Rachsucht nicht befriedigen würde (die übrigen Anklagepunkte wurden gemäss der Urteilsverkündung als Vorverurteilung abgewiesen). Die Staatsanwaltschaft war einfach wild entschlossen, an Hale ein Exempel zu statuieren, indem sie ihn vor Gericht stellte, um andere potenzielle künftige Informanten abzuschrecken.

Die Rechtfertigung der Staatsanwaltschaft beruhte nicht nur auf der Dämonisierung von Hale oder der Tatsache, dass er glaubte, sein Handeln sei «rechtlich falsch, aber moralisch richtig». Sie machte deutlich, dass eine drakonische Strafe notwendig sei, weil frühere Strafverfolgungen keine Abschreckung für spätere Whistleblower gebracht hatten.

Hale wurde zunächst bis zur Urteilsverkündung auf Bewährung freigelassen. Doch eines Tages wurde er von seinem Bewährungshelfer zu einem Besuch vorgeladen, den Hale für einen Routinebesuch hielt. Stattdessen wurde Hale in Gewahrsam genommen. Ein vom Gericht bestellter Therapeut hatte sich besorgt über Hales geistige Gesundheit geäussert und damit gegen die Bedingungen seiner überwachten Freilassung verstossen. Aus angeblicher Sorge um Hales geistiges Wohlbefinden wurde er weggesperrt – in Einzelhaft. In Anbetracht dessen, was wir über die schädlichen Auswirkungen von Einzelhaft auf die psychische Gesundheit wissen, war dies ein besonders perverses Vorgehen.

Hinzu kommt, dass es in der William G. Truesdale Haftanstalt für Erwachsene, in der Hale untergebracht war, laut dem Verurteilungsprotokoll der Verteidigung keine Beratungsdienste gab. Die Inhaftierung von Hale, die angeblich seinem psychischen Wohlbefinden dienen sollte, verhinderte also, dass er eine Beratung in Anspruch nehmen konnte.

Im Vorfeld der Verurteilung versuchte Hales Verteidigung, die Regierung zu zwingen, offenzulegen, ob sie tatsächlich Beweise dafür hat, dass Hales Drohnen-Aufnahmen US-Soldaten oder anderen Personen Schaden zugefügt haben. Die Regierung wehrte sich gegen diesen Antrag mit dem Argument, dass sie nicht nachweisen müsse, dass jemand tatsächlich die nationale Sicherheit geschädigt habe, um einen Verstoss gegen das Spionagegesetz zu beweisen. Die Verteidigung entgegnete, dass dies zwar nicht erforderlich sei, um eine Verurteilung zu erwirken, aber für die Festsetzung des Strafmasses von Bedeutung sei. Man muss niemanden körperlich verletzen, um sich eines Angriffs schuldig zu machen, aber die Frage, ob ein Angriff eine schwere körperliche Verletzung verursacht hat, würde sicherlich bei der Festsetzung des Strafmasses eine Rolle spielen.

Der Richter entschied sich für die Argumentation der Staatsanwaltschaft. Obwohl sich die Staatsanwaltschaft erfolgreich dagegen wehrte, der Verteidigung Beweise für die Schädigung vorzulegen, argumentierte sie, dass Hales Weigerung, anzuerkennen, dass seine Handlungen einen «aussergewöhnlich schweren Schaden» verursacht haben, eine längere Strafe rechtfertige.

Die Staatsanwaltschaft bemühte sich nach Kräften, Hale zu dämonisieren. Hale hatte immer darauf bestanden, dass er nicht die Hauptperson der Geschichte sei, da er befürchtete, dass eine Konzentration auf ihn von den Opfern der Drohnenangriffe ablenken würde. Seine Freunde mussten intervenieren, um ihm klarzumachen, dass sein Fall Auswirkungen auf andere Whistleblower hat. Obwohl Hale in Sonia Kennebecks Dokumentarfilm «National Bird» auftaucht, arbeitete er als Tellerwäscher und lebte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 2019 in relativer Anonymität.

Doch laut Staatsanwaltschaft wurde Hales Handeln von «Eitelkeit» angetrieben. Hale habe Journalisten als «Rockstars» bewundert. Gemäss der Version der Staatsanwaltschaft beschloss Hale, beim NGA angestellt zu werden, um Dokumente zu stehlen, einen Journalisten zu beeindrucken und seine eigene, noch nicht vorhandene journalistische Karriere voranzutreiben. (Die Verteidigung wies darauf hin, dass Hale angesichts der Tatsache, dass er an einer Kartografierung Chinas arbeitete, keine Ahnung hatte, dass er Zugang zu einem Computer haben würde, der geheime Informationen über das US-Drohnenprogramm enthielt, was die Theorie des Vorsatzes widerlegt). In einem Dokument verglich die Staatsanwaltschaft Hale mit einem Heroin-Dealer, der argumentiere, sein Vertrieb von Rauschgift diene der Gemeinschaft. Bei der Anhörung zur Urteilsverkündung behauptete die Staatsanwaltschaft sogar rundheraus, Hale habe ISIS unterstützt.

Die Staatsanwaltschaft – unter der Leitung von Gordon Kromberg, der durch eine Reihe umstrittener Strafverfolgungen im Bereich der nationalen Sicherheit, durch beunruhigende Äusserungen über muslimische Amerikaner und durch die Bezeichnung des besetzten palästinensischen Westjordanlands als «Judäa und Samaria» Berühmtheit erlangt hat – forderte eine Strafe von mindestens neun Jahren. Dies wäre die längste Strafe gewesen, die jemals von einem Zivilgericht für die Weitergabe von Informationen an die Medien verhängt wurde. Bei vollständiger Verbüssung wäre es die längste jemals für dieses Verbrechen verhängte Strafe gewesen.

Die Begründung der Staatsanwaltschaft beruhte nicht nur auf der Dämonisierung von Hale oder der Tatsache, dass er glaubte, sein Handeln sei «rechtlich falsch, aber moralisch richtig». Sie machte deutlich, dass diese drakonische Strafe notwendig war, weil frühere Strafverfolgungen nicht dazu geführt hatten, dass Whistleblower abgeschreckt wurden. Die Staatsanwaltschaft wollte nicht, dass noch mehr Menschen, die ein Gewissen haben, sich zu Wort melden.

Diese Dämonisierung von Whistleblowern ist ein Standardtrick der Staatsanwaltschaft. Oftmals funktioniert er auch. Doch der Richter in Hales Fall überraschte viele mit einigen seiner Bemerkungen. Bei der Verurteilung von Hale verwies er zunächst auf die zahlreichen Briefe, die er erhalten hatte, insbesondere von Veteranen und Journalisten. Richter O’Grady bestätigte, dass viele Menschen Hale für mutig und gewissenhaft hielten, und bekräftigte dann seine eigenen Gefühle in Bezug auf diesen Glauben. In seinen Erklärungen schien O’Grady denn auch zu anerkennen, dass Hale ein Whistleblower ist und dass das Drohnenprogramm zu unnötigen Todesfällen unter der Zivilbevölkerung führt.

Dennoch, so argumentierte der Richter, hätte Hale ein Whistleblower sein können, ohne einem Journalisten Dokumente zu geben. Nach Ansicht des Richters war die Übergabe der Dokumente und nicht die Äusserung gegen den Drohnenkrieg ein Verbrechen und der Grund, warum Hale nun vor dem Gericht stand.

Das Spionagegesetz macht keinen Unterschied zwischen Spionen, die Informationen für feindliche ausländische Regierungen stehlen, und Regierungsangestellten, die Informationen von öffentlichem Interesse an die Presse, an Journalisten oder an «öffentliche» Persönlichkeiten weitergeben. Es stellt einfach die unbefugte Weitergabe oder Speicherung von «Informationen zur nationalen Verteidigung» unter Strafe.

Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss eine Person «Grund zu der Annahme» haben, ihre Handlungen könnten der nationalen Sicherheit schaden, aber die Gerichte haben diese Anforderung des Gesetzes (im Fall Hale) praktisch übergangen. Die Regierung behauptet, jeder Regierungsangestellte, der geheime oder vertrauliche Dokumente weitergebe, habe Grund zur Annahme, dass seine Handlungen die nationale Sicherheit beeinträchtigen könne, so ihre juristische Argumentation.

Die Regierung muss nicht beweisen, dass ein Whistleblower die nationale Sicherheit schädigen wollte, und sie muss nicht einmal beweisen, dass ein solcher Schaden eingetreten ist. Tatsächlich argumentiert die Regierung – und die Gerichte stimmen ihr zu –, dass die Dokumente nicht einmal ordnungsgemäss klassifiziert sein müssen. Daher verstösst jede Weitergabe von Verschlusssachen an einen Journalisten gegen das Spionagegesetz. Da das eigentliche Verbrechen in der Weitergabe der Informationen besteht, sind der Inhalt der Dokumente – die öffentlichen Interessen, denen ihre Veröffentlichung dient – und die Motive des Informanten für die Weitergabe der Informationen irrelevant. Die Geschworenen dürfen nichts darüber erfahren.

Das Spionagegesetz wurde während des Ersten Weltkriegs verabschiedet. Nach Angaben des Menschenrechtsanwalts und Experten für das Spionagegesetz Carey Shenkman wurden die ersten zweitausend Personen, die auf der Grundlage des Gesetzes verfolgt wurden, nur wegen ihrer Opposition gegen den Krieg belangt. Spätere Urteile des Obersten Gerichtshofs hätten solche Verfolgungen zwar verunmöglichen sollen, doch das Spionagegesetz blieb für die Meinungsfreiheit in den USA auch danach ein beengender Faktor.

Während der McCarthy-Ära wurde das Gesetz erneut geändert. Als die Unterstützung für seine Verschwörungstheorien betreffend Verräter im Aussenministerium nachliess, griff Senator Joseph McCarthy den Fall eines gescheiterten Versuchs auf, einen Beamten des Aussenministeriums strafrechtlich zu verfolgen, der Informationen an eine linksgerichtete aussenpolitische Zeitschrift, die in der Regierung weit verbreitet war, weitergegeben habe. Das Vergehen, dessen sich Hale für schuldig bekannte, war das Ergebnis dieser letzten Änderungen. Während des Vietnamkriegs wurde es bei dem Versuch angewandt, Daniel Ellsberg (er ist vor wenigen Tagen 90 Jahre alt geworden, Red.) und Anthony Russo wegen der Veröffentlichung der «Pentagon Papers» strafrechtlich zu verfolgen.





Jahrzehntelang lag das Gesetz weitgehend brach – bis zum «Krieg gegen den Terror». Als die US-Regierung sich auf die dunkle Seite begab und Überwachung, aussergerichtliche Hinrichtungen, Folter und andere Arten von Kriegsverbrechen, die die typischen Kennzeichen langwieriger militärischer Besetzungen sind, in Kauf nahm, meldeten sich gewissenhafte Informanten bei der Presse. Das Spionage-Gesetz wurde zum Mittel, sie zum Schweigen zu bringen.

Die Strafverfolgung von Daniel Hale war von Grund auf politisch. Alle strafrechtlichen Verfolgungen von Whistleblowern im Rahmen des Spionagegesetzes sind politisch. Das Verraten von Regierungsgeheimnissen, insbesondere zur Beeinflussung der Politik, ist «ein Routineaspekt des Regierungslebens». Regierungsmitarbeiter geben ständig Informationen weiter, und die grosse Mehrheit von ihnen wird nicht annähernd so streng bestraft wie Hale. Sein Verbrechen war nicht das Durchsickern von Geheimnissen, sondern die spezifischen Geheimnisse, die er durchsickern liess: die Entlarvung der offiziellen US-Verlautbarungen über das Drohnenprogramm als Lügen.

Trotz der gegenteiligen Behauptung eines Richters ist es genau Hales Widerstand gegen das US-Drohnenprogramm, dessen wegen er ihn zu drei Jahren und neun Monaten in einem Bundesgefängnis verurteilt hat. Hale hatte aus erster Hand erfahren, was es bedeutet, ferngesteuert zu töten. Und er hat gesehen, wie unsere Regierung darüber gelogen hat – gelogen, indem sie behauptete, das Töten sei hygienisch, es sei präzise, es gewährleiste unsere Sicherheit. Kann irgendetwas eine solch sinnlose Gewalt rechtfertigen? Die US-Regierung rechtfertigt sie mit nationalen Sicherheitsbedenken, aber, wie Hale erfuhr, war eine zentralere Motivation, die Taschen der Waffenhersteller zu füllen. Es war Mord aus Profitgründen.

Hale war bereit, seine eigene Freiheit zu riskieren, um uns diese Geschichte zu erzählen. Und das ist es, was die Regierung vor uns zu verbergen versucht, indem sie das Spionagegesetz zu einem Knüppel gegen Wahrheitsverkünder macht.

Hales Enthüllungen haben der nationalen Sicherheit nicht geschadet. Seine strafrechtliche Verfolgung hat jedoch – wie die Kriege und der Geheimhaltungskult, die damit geschützt werden sollten – unserer Demokratie geschadet.

(Die Übersetzung des Artikels für Infosperber besorgte Christian Müller, der gegen eine kleine private Spende zugunsten Jacobin auch die formelle Bewilligung zur Publikation auf Infosperber.ch erhielt.)

Viermal mehr Selbsttötungen von Soldaten und Veteranen als Tote im Kriegseinsatz

«In diesem Sommer schien es, als könnten wir Amerikaner es kaum erwarten, zu unseren traditionellen Feierlichkeiten zum 4. Juli (dem US Independence Day) zurückzukehren. Haben wir nicht alle nach einem Grund zum Feiern gesucht? Die Kirchenglocken in meiner Gemeinde läuteten etwa eine Woche lang Kampfhymnen. An den Strommasten in meiner Nachbarschaft hingen stolz ‹Hometown Hero›-Banner mit den lächelnden Gesichtern von uniformierten Veteranen aus unseren Kriegen. Tagelang wurden Feuerwerkskörper gezündet, Wunderkerzen, «Cherry Bombs» und grosse Lichtshows erhellten den Nachthimmel.

Doch all das Fahnenschwenken, die selbstgebastelten Paraden, die Picknicks und Militärkapellen, die blumigen Reden und selbstgefälligen Botschaften können nicht über eine Realität hinwegtäuschen, eine Wahrheit, die direkt vor unserer Nase liegt: Mit unseren militärischen Brüdern und Schwestern ist nicht einfach alles in Ordnung. Der deutlichste Indikator dafür ist die steigende Zahl derer, die sich das Leben nehmen. In einem neuen Bericht des Projekts ‹Costs of War› der Brown University wird vorgerechnet, dass in der Zeit nach dem 11. September 2001 bis heute viermal so viele Veteranen und aktive Soldaten Selbstmord begangen haben, wie US-Soldaten bei Kriegseinsätzen ums Leben kamen.»

(Zitat aus einem Bericht von Kelly Denton-Borhaug über die Greueltaten der US-Soldaten in Vietnam und in Afghanistan, nachzulesen auf Tom Dispatch vom 3. August 2021, hier anklicken.)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Chip Gibbons is policy director of Defending Rights & Dissent. He hosted the Still Spying podcast, which explored the history of FBI political surveillance. He is currently working on a book on the history of the FBI exploring the relationship between domestic political surveillance and the emergence of the US national security state.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

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1 Kommentar

  1. Obwohl die VSA noch nie angegriffen wurden, legen die Politmarionetten immer wieder die alte Platte von der Bedrohung durch Andere auf, und die immerwährende Aufgabe der Selbstverteidigung, eigenartig nur, daß der Glaube daran nie ausstirbt, gleichwohl er noch nie durch irgendwelche realen Ereignisse verifiziert werden konnte.

    Allerdings sollten wir bedenken, daß lt. Gerard Menuhin auch die VSA kein freies Land sind, sondern in den Klauen der Leute mit den zwei Pässen sind.

    Die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik gibt ihm Recht, sie war noch nie im Interesse der VSA selbst, sondern im Interesse von …, naja, profunden Kenner dieses Forums wissen auch so, wer damit gemeint ist.

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