Elektrizitätskrieg

Die derzeitige russische Taktik ist das absolute Gegenteil der von Napoleon entwickelten Militärtheorie der konzentrierten Kraft, schreibt Pepe Escobar.

Von Pepe Escobar (free21)

Dieser Text wurde zuerst am 23.11.2022 auf www.strategic-culture.org unter der URL <https://strategic-culture.org/news/2022/11/23/electric-war/> veröffentlicht. Pepe Escobar, Strategic Culture, CC BY-NC-ND 4.0

(Symbolbild, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Die Schritte hallen in der Erinnerung nach
Den Weg hinab, den wir nicht genommen haben
Zu der Tür, die wir nie öffneten
In den Rosengarten. Meine Worte hallen
In deinem Geist.
Doch wozu
Den Staub auf einer Schale mit Rosenblättern aufwirbeln
Ich weiß es nicht.
T.S. Eliot, „Burnt Norton“

Widmen Sie dem polnischen Landwirt einen Gedanken, der Fotos von einem Raketenwrack machte – das sich später als Teil einer ukrainischen S-300 herausstellte. Ein polnischer Bauer, dessen Schritte in unserer kollektiven Erinnerung nachhallen, könnte also die Welt vor dem Dritten Weltkrieg gerettet haben – der durch ein geschmackloses Komplott der anglo-amerikanischen „Geheimdienste“ ausgelöst werden sollte.

Zu dieser Geschmacklosigkeit gesellte sich eine lächerliche Vertuschung: Die Ukrainer feuerten auf russische Raketen, die aus dieser Richtung gar nicht kommen konnten. Nämlich aus: Polen. Und dann verurteilte der US-Verteidigungsminister, der Waffenhändler Lloyd „Raytheon“ Austin, Russland als Schuldigen, weil seine Kiewer Vasallen auf russische Raketen schossen, die gar nicht in der Luft hätten sein dürfen (und es auch nicht waren).

Nennen wir es einfach die Erhebung glatter Lügen zur schäbigen Kunst durch das Pentagon.

Es war der anglo-amerikanische Zweck dieser Machenschaft, eine „Weltkrise“ gegen Russland zu erzeugen. Doch es wurde aufgedeckt – dieses Mal. Das heißt aber nicht, dass die üblichen Verdächtigen es nicht wieder versuchen werden. Bald.

Der Hauptgrund ist Panik. Die kollektiven Geheimdienste des Westens sehen, wie Moskau endlich seine Armee mobilisiert – bereit, im nächsten Monat loszuschlagen – und gleichzeitig die ukrainische Elektrizitätsinfrastruktur als eine Art der chinesischen Folter ausschaltet.

Die Tage im Februar, als nur 100.000 Soldaten entsandt wurden und die Milizen der DVR und der LPR sowie die Wagner-Kommandos und die Tschetschenen von Kadyrow den Großteil der schweren Arbeit erledigten, sind längst vorbei. Den Russen und Russophonen standen insgesamt Horden von ukrainischen Militärs gegenüber – vielleicht bis zu 1 Million. Das „Wunder“ an der ganzen Sache ist, dass die Russen sich bis jetzt ganz gut geschlagen haben.

Jeder Militäranalytiker kennt die Grundregel: Eine Invasionsstreitmacht sollte dreimal so groß sein wie die Verteidigungskräfte. Zu Beginn der Sonderoperation bildete die russische Armee nur einen Bruchteil dieser Regel ab. Die russischen Streitkräfte verfügen wohl über ein stehendes Heer von 1,3 Millionen Mann. Sicherlich hätten sie ein paar Zehntausend mehr als die anfänglichen 100.000 Mann entbehren können. Aber sie taten es nicht. Es war eine politische Entscheidung.

Aber jetzt ist die Sonderoperation vorbei: Jetzt befinden wir uns auf CTO-Gebiet (Counter-Terrorist Operation). Eine Reihe von Terroranschlägen – auf die Nord Stream-Pipelines, die Krim-Brücke und die Schwarzmeerflotte – hat schließlich gezeigt, dass es nicht bei einer bloßen „Militäroperation“ bleiben kann. Und das bringt uns zum Elektrizitätskrieg.

Die Schwarzmeerküste bei Tschornomorsk südlich von Odessa am 27.9.2014. (Foto: Julian Nyča, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-4.0)

Den Weg für eine demilitarisierte Zone ebnen

Der Elektrizitätskrieg wird im Wesentlichen als Taktik gehandhabt – die dazu führen soll, dass Russland in einem möglichen Waffenstillstand seine Bedingungen durchsetzt (was weder die anglo-amerikanischen Geheimdienste noch die Vasallen-NATO wollen).

Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand käme – was seit einigen Wochen immer wieder vorgebracht wird –, wäre der Krieg damit nicht beendet. Denn die tieferliegenden, unausgesprochenen russischen Bedingungen – Beendigung der NATO-Erweiterung und „Unteilbarkeit der Sicherheit“ – wurden sowohl Washington als auch Brüssel im vergangenen Dezember vollständig dargelegt und anschließend abgewiesen.

Da sich seither konzeptionell nichts geändert hat und die westliche Bewaffnung der Ukraine immer weiter voranschreitet, konnte die Stavka der Putin-Ära nicht umhin, das ursprüngliche Mandat der militärischen Sonderoperation [1] zu erweitern, das nach wie vor die Entnazifizierung und Entmilitarisierung vorsieht. Doch nun wird das Mandat auch Kiew und Lemberg umfassen müssen.

Und das fängt schon bei der aktuellen De-Elektrifizierungskampagne an, die weit über den Osten des Dnjepr und entlang der Schwarzmeerküste bis nach Odessa reicht.

Damit sind wir bei der Schlüsselfrage der Reichweite und Tiefe des Elektrizitätskrieges angelangt, d.h. bei der Errichtung einer demilitarisierten Zone westlich des Dnjepr – komplett mit Niemandsland –, um russische Gebiete vor NATO-Artillerie, HIMARS und Raketenangriffen zu schützen.

Wie tief? 100 km? Nicht genug. Eher 300 km – denn Kiew hat bereits Artillerie mit dieser Reichweite angefordert. Entscheidend ist, dass dies bereits im Juli in Moskau auf höchster Stavka-Ebene ausführlich diskutiert wurde.

In einem ausführlichen Interview vom Juli ließ Außenminister Sergej Lawrow die Katze – diplomatisch – aus dem Sack: „Dieser Prozess geht beharrlich und konsequent weiter. Er wird so lange weitergehen, wie der Westen in seiner ohnmächtigen Wut und im verzweifelten Bestreben, die Situation so weit wie möglich zu verschlimmern, die Ukraine mit immer mehr Langstreckenwaffen überschwemmt. Nehmen Sie die HIMARS. Verteidigungsminister Alexej Reznikow brüstet sich damit, dass sie bereits Munition mit einer Reichweite von 300 Kilometern erhalten haben. Das bedeutet, dass sich unsere geografischen Ziele noch weiter von der jetzigen Linie entfernen werden. Wir können nicht zulassen, dass der Teil der Ukraine, den Wladimir Selenskyj – oder wer auch immer ihn ersetzen wird – kontrolliert, über Waffen verfügt, die eine direkte Bedrohung für unser Territorium oder für die Republiken darstellen, die ihre Unabhängigkeit erklärt haben und ihre Zukunft selbst bestimmen wollen.“ [2]

Die Implikationen sind klar. So sehr Washington und die NATO auch immer „verzweifelter versuchen, die Situation so weit wie möglich zu verschlimmern“ (und das ist Plan A: es gibt keinen Plan B), so sehr verschärfen die Amerikaner auf geoökonomischer Ebene das „neue große Spiel“: Verzweiflung bezieht sich hier auf den Versuch, die Energiekorridore zu kontrollieren und deren Preis zu bestimmen.

Russland bleibt davon unbeeindruckt – es investiert weiter in Pipelineistan (in Richtung Asien), baut den multimodalen Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INTSC) mit den wichtigsten Partnern Indien und Iran aus und bestimmt den Energiepreis über die OPEC+.

Menahem Begin und Zbigniew Brzezinski spielen während des Camp-David-Gipfels Schach, am 9.9.1978 (Foto: Fotografen des Weissen Hauses, National Archives Catalog, public domain CC0)

Ein Paradies für oligarchische Plünderer

Die Straussianer/Neokonservativen und Neoliberalen, die den anglo-amerikanischen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat durchdringen – de facto waffenfähige Viren – werden nicht nachgeben. Sie können es sich einfach nicht leisten, noch einen weiteren NATO-Krieg zu verlieren – und dann auch noch gegen die „existenzielle Bedrohung“ Russland [Mit „Straussianern“ meint Escobar Anhänger der politischen Philosophie von Leo Strauss, der von Neocons als „Vater“ ihrer Ideologie betrachtet wird. Er geriet aufgrund seiner politischen Instrumentalisierung von Platons Konzept der „Edlen Lüge“ in die Kritik, der zufolge Eliten das Recht hätten, die von ihnen regierten Massen zu belügen, wenn es einem höheren Ziel dient, das nur sie aufgrund ihres überlegenen Intellekts und ihrer historischen Führungsrolle zu erkennen imstande seien, Anm. d. Redaktion].

Während die Nachrichten von den Schlachtfeldern in der Ukraine unter General Winter noch düsterer zu werden versprechen, lässt sich zumindest im kulturellen Bereich ein Trost finden. Das Getöse vom „Grünen Übergang“, serviert in einem giftigen gemischten Salat gewürzt mit dem eugenischen Silicon-Valley-Ethos, ist nach wie vor eine Beilage zum Hauptgericht: der „Großen Erzählung“ von Davos, dem früheren „Great Reset“, der auf dem G20-Gipfel auf Bali wieder einmal sein hässliches Gesicht zeigte.

Das heißt so viel wie: Alles läuft bestens, was das Projekt der Zerstörung Europas betrifft. Deindustrialisieren und glücklich sein; Regenbogentanz zu jeder woken Melodie auf dem Markt; und frieren und Holz verbrennen, während man „erneuerbare Energien“ auf dem Altar der europäischen Werte segnet.

Um den Kontext zu verdeutlichen, in dem wir uns befinden, ist eine kurze Rückblende immer hilfreich.

Die Ukraine war fast vier Jahrhunderte lang Teil Russlands. Die Idee der Unabhängigkeit wurde in Österreich während des Ersten Weltkriegs erfunden, um die russische Armee zu untergraben – und das ist sicherlich auch geschehen. Die gegenwärtige „Unabhängigkeit“ wurde erst geschaffen, damit lokale trotzkistische Oligarchen das Land noch schnell ausplündern konnten, während eine mit Russland verbündete Regierung gerade im Begriff war, gegen genau diese Oligarchen vorzugehen.

Der Staatsstreich in Kiew 2014 wurde im Wesentlichen von Zbigniew „Grand Chessboard“ Brzezinski eingefädelt, um Russland in einen neuen Partisanenkrieg – wie in Afghanistan – hineinzuziehen, und es folgten Befehle an die Öl-Haziendas am Golf, den Ölpreis zu drücken. Moskau musste die Russophonen auf der Krim und im Donbass schützen – und das führte zu weiteren westlichen Sanktionen. Es war alles ein abgekartetes Spiel.

Acht Jahre lang weigerte sich Moskau, seine Armeen auch nur in den Donbass östlich des Dnjepr zu entsenden (der historisch gesehen zu Mütterchen Russland gehört). Der Grund: Man wollte nicht in einen weiteren Partisanenkrieg verwickelt werden. Der Rest der Ukraine wurde unterdessen von den vom Westen unterstützten Oligarchen ausgeplündert und versank finanziell in einem schwarzen Loch.

Der kollektive Westen hat sich absichtlich gegen die Finanzierung dieses schwarzen Lochs entschieden. Der Großteil der IWF-Spritzen wurde von den Oligarchen einfach gestohlen und die Beute aus dem Land geschafft. Diese oligarchischen Plünderer wurden natürlich von den üblichen Verdächtigen „geschützt“.

Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass zwischen 1991 und 1999 das Äquivalent des gegenwärtigen gesamten Haushaltsvermögens Russlands gestohlen und ins Ausland transferiert wurde – hauptsächlich nach London. Jetzt versuchen dieselben üblichen Verdächtigen, Russland mit Sanktionen zu ruinieren, da der „neue Hitler“ Putin diese Plünderung gestoppt hat.

Der Unterschied ist, dass der Plan, die Ukraine nur als Bauernopfer in ihrem Spiel zu benutzen, nicht funktioniert. Vor Ort kam es bisher hauptsächlich zu Scharmützeln und einigen wenigen echten Gefechten. Da Moskau jedoch neue Truppen für eine Winteroffensive zusammengezogen hat, könnte die ukrainische Armee am Ende völlig aufgerieben werden.

Russland sah gar nicht so schlecht aus, wenn man die Effektivität seiner Fleischwolf-Artillerie gegen befestigte ukrainische Stellungen und die jüngsten geplanten Rückzüge oder Stellungskriege bedenkt, bei denen die Verluste geringgehalten wurden, während die schwindende ukrainische Feuerkraft vernichtend geschlagen wurde.

Der kollektive Westen glaubt, dass er die Karte des ukrainischen Stellvertreterkriegs in der Hand hält. Russland setzt auf die Realität, in der die wirtschaftlichen Karten Lebensmittel, Energie, Ressourcen, Ressourcensicherheit und eine stabile Wirtschaft sind.

In der Zwischenzeit – als ob die Energiesuizid-EU nicht eh schon mit einer Pyramide von Qualen konfrontiert wäre – können sie sicher sein, dass mindestens 15 Millionen verzweifelte Ukrainer, die aus ihren Dörfern und Städten ohne Stromanschluss fliehen, an ihre Tür klopfen werden. Der Bahnhof im – vorübergehend besetzten – Cherson ist ein anschauliches Beispiel: Ständig tauchen Menschen auf, um sich aufzuwärmen und ihre Smartphones aufzuladen. Die Stadt hat keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser.

Die derzeitige russische Taktik ist das absolute Gegenteil der von Napoleon entwickelten Militärtheorie der konzentrierten Kraft. Deshalb häuft Russland ernsthafte Vorteile an, während es „den Staub auf einer Schale mit Rosenblättern aufwirbelt“.

Und natürlich „haben wir noch gar nicht richtig angefangen“.

Quellen:

[1] http://johnhelmer.org Blog, John Helmer „THE STAVKA MEMORANDUM: RUSSIA MEANS MILITARY POWER PLUS DISELECTRIFICATION OF THE UKRAINE (“STORMY AND PROLONGED APPLAUSE”)“ („DAS STAVKA-MEMORANDUM: RUSSLAND BEDEUTET MILITÄRMACHT PLUS DISELEKTRIFIZIERUNG DER UKRAINE („STURMISCHER UND LANGFRISTIGER BEIFALL“)“, am 20.11.2022: <http://johnhelmer.org/the-stavka-memorandum-russia-means-military-power-plus-diselectrification-of-the-ukraine-stormy-and-prolonged-applause/#more-70284>
[2] Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland Homepage „Foreign Minister Sergey Lavrov’s interview with RT television, Sputnik agency and Rossiya Segodnya International Information Agency, Moscow“ („Interview von Außenminister Sergej Lawrow mit dem Fernsehsender RT, der Agentur Sputnik und der Internationalen Informationsagentur Rossiya Segodnya, Moskau“), am 20.7.2022: <https://russische-botschaft.ru/de/2022/07/21/foreign-minister-sergey-lavrovs-interview-with-rt-television-sputnik-agency-and-rossiya-segodnya-international-information-agency-moscow-july-20-2022/>

(Visited 213 times, 1 visits today)
Elektrizitätskrieg
1 Stimme, 5.00 durchschnittliche Bewertung (98% Ergebnis)

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*