Ein Streitgespräch über die Ukraine mit John Mearsheimer

In The New Yorker wurde ein Streitgespräch mit John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg veröffentlicht, das in deutschen Medien kaum hätte veröffentlicht werden können, weil Experten mit von der Regierung abweichenden Meinungen in deutschen Medien nicht zu Wort kommen.

Quelle: anti-spiegel

Die Medienlandschaften in Deutschland und den USA unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: In den USA gibt große Medien, die eine vom Mainstream abweichende Meinung vertreten, während die deutschen Mainstream-Medien zu den zentralen politischen Fragen alle die gleiche Meinung haben. Genannt sei als Beispiel der redaktionelle Unterschied zwischen CNN und Fox News.

In den USA ist der erlaubte Meinungskorridor daher breiter als in Deutschland. Das zeigt ein Streitgespräch mit John Mearsheimer, das im The New Yorker veröffentlicht wurde. Der New Yorker ist eine Zeitung, die tendenziell dem transatlantischen Mainstream angehört, während John Mearsheimer, ein in den USA sehr anerkannter Geostratege, vor allem zum Ukraine-Krieg und zu Russland eine vollkommen andere Meinung vertritt.

Leider sind solche Streitgespräche in Deutschland undenkbar, denn in Deutschland wurden alle Experten, die zu den Themen Ukraine und Russland eine von der Regierung abweichende Meinung haben, aus den Medien verbannt. Erinnert sei beispielsweise an Gabriele Krone-Schmalz oder auch General Harald Kujat, die früher gern gesehene Gäste in deutschen Polit-Talkshows waren, heute aber nicht mehr eingeladen werden, weil ihre Meinung unerwünscht ist.

Ich werde oft gefragt, warum ich nicht mit den Mainstream-Medien rede, und die Antwort ist einfach: Ich würde sofort mit ihnen reden, ich hätte nur eine Bedingung, nämlich, dass ich ausreden darf und dass das Gespräch ungeschnitten und ungekürzt veröffentlicht wird, damit ich meine Meinung auch argumentieren kann.

Aber dazu sind die deutschen Medien nicht bereit, wie auch die Beispiele von Krone-Schmalz, Kujat und anderen zeigen. Und auch ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn es gab Zeiten, in denen ich von deutschen Mainstream-Medien per Mail Anfragen bekommen habe. Als ich darauf antwortete, ich sei gerne zu einem Gespräch bereit, wenn die Fragen und meine Antworten ungekürzt veröffentlicht werden, hatten sie plötzlich kein Interesse mehr daran, mit mir zu reden.

Ich habe das Streitgespräch mit John Mearsheimer aus dem New Yorker übersetzt, weil ich finde, dass es auch die deutsche Medienlandschaft bereichern würde, wenn solche Streitgespräche in deutschen Medien möglich wären. Aber so etwas ist in deutschen Medien undenkbar, dort kommen nur Leute zu Wort, die die transatlantische Meinung vertreten.

Beginn der Übersetzung:

Warum John Mearsheimer glaubt, dass Donald Trump in der Ukraine-Frage Recht hat

Und dass der Westen Wladimir Putin missverstanden hat.

Vor etwas mehr als drei Jahren, nachdem Russland den groß angelegten Einmarsch in die Ukraine lancierte, machte John Mearsheimer, Politikwissenschaftler an der Universität Chicago und vielleicht der prominenteste „Realo“ der Außenpolitik seiner Generation, deutlich, dass die Schuld für den russischen Einmarsch seiner Ansicht nach vor allem bei den USA liege. Aber das war keine wirkliche Überraschung.

Seit 2014, als Russland die Krim annektierte und den separatistischen Aufstand in der Ostukraine unterstützte, argumentiert Mearsheimer, dass die USA und weite Teile der EU die Hauptursache für die russische Aggression in der Region seien, vor allem, weil die NATO weiterhin den Drang hat, in Richtung Osten zu expandieren. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind dem Bündnis 16 Länder beigetreten.

Mearsheimer und ich sprachen im Jahr 2022, nach dem russischen Einmarsch, zwei Mal miteinander. Beide Male kritisierte er die westliche Politik scharf und verteidigte Wladimir Putin gegen Vorwürfe, ein Imperialist zu sein und über seine Kriegsziele zu lügen. In jenem Jahr besuchte Mearsheimer Viktor Orbán, den autokratischen ungarischen Regierungschef, der Putins Narrative über den Krieg in der Ukraine unterstützt.

Als Joe Biden Präsident noch war und die Unterstützung für die Ukraine in den USA ungebrochen war, wirkte Mearsheimer wie ein Außenseiter. Jetzt ist Donald Trump wieder an der Macht, hat sich um die Gunst Russlands bemüht, (zeitweise) die Waffenlieferungen an die Ukraine gestoppt und Wladimir Selensky, den Präsidenten der Ukraine, bei einem Treffen im Oval Office in aller Öffentlichkeit gemaßregelt. Trumps Bewunderung für Putin scheint kaum in eine kohärente geopolitische Theorie zu passen. Dennoch spricht Trump über den Konflikt in einer Sprache, die der von Mearsheimer ähnelt. Mearsheimer ist ein scharfer Kritiker des liberalen Internationalismus und vertritt die Ansicht, dass es für einen regionalen Hegemon legitim sei, in seinem Einflussbereich Macht zu projizieren.

Vor Kurzem sprach ich erneut mit Mearsheimer, diesmal am Telefon. In unserem Gespräch, das aus Gründen der Länge und im Interesse der Klarheit bearbeitet wurde, diskutierten wir darüber, warum er der Meinung ist, dass die Ukraine im Rahmen eines Friedensabkommens keine Sicherheitsgarantien erhalten sollte, ob er sich in Bezug auf Russlands Absichten vor 2022 geirrt hat und warum er weiterhin glaubt, dass Putin missverstanden wird.

Wie gut, denken Sie, geht Trump mit der Russland-Ukraine-Frage um?

Grundsätzlich stimme ich dem zu, was er tut. Ich halte es für strategisch sinnvoll, den Krieg umgehend zu beenden. Ich denke auch, dass es moralisch die richtige Entscheidung ist. Und obwohl Trump es nicht auf die eleganteste Weise angegangen ist, glaube ich, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet und hoffentlich zum Ziel kommen wird.

Was ist der richtige Weg?

Trump muss eine Einigung mit den Russen erzielen. Das bedeutet, die zentralen Bedingungen zu akzeptieren, die Russland auf den Tisch gelegt hat. Erstens muss die Ukraine ein wirklich neutrales Land werden – sie darf nicht der NATO beitreten und keine westlichen Sicherheitsgarantien erwarten. Zweitens muss sie einen nicht unerheblichen Teil ihres Territoriums im Osten des Landes an Russland abtreten. Und drittens muss das ukrainische Militär so weit abrüsten, dass es für Russland keine offensive Bedrohung mehr darstellen kann. Trump muss diese Bedingungen akzeptieren und auf dieser Basis eine Vereinbarung mit Russland ausarbeiten. Doch dann kommt der schwierige Teil: die Europäer – und insbesondere die Ukrainer selbst – dazu zu bringen, all dem zuzustimmen.

Wie würde diese Rumpf-Ukraine aussehen?

Das hängt davon ab, wie viel Territorium die Ukraine verlieren wird, bis eine Einigung getroffen wurde. Für die Russen bestehen strategische Anreize, so viele Gebiete einzunehmen wie möglich. Deshalb halte ich es aus Sicht der Ukraine für unerlässlich, so schnell wie möglich zu einer Lösung zu kommen – bevor die Russen noch mehr Territorien erobern können und es unmöglich wird, sie wieder von dort zu vertreiben.

Nehmen wir an, es kommt zu einem Friedensabkommen und die Ukraine muss Gebiete abtreten. Welche Garantien sollten oder könnten der Ukraine gegeben werden, die seit einem Jahrzehnt unter russischem Druck steht?

Sie können keine Sicherheitsgarantie erwarten. Sie müssen sich einfach mit den Tatsachen abfinden.

Warum?

Eine Sicherheitsgarantie käme faktisch einer Mitgliedschaft in der NATO gleich, und das wird Russland nicht akzeptieren. Ist das eine tragische Situation für die Ukraine? Die Antwort lautet ja. Aber was ist die Alternative?

Wenn die Europäer oder sogar die USA unter einer anderen Regierung erkennen würden, dass es in ihrem Eigeninteresse liegt, der Ukraine eine Sicherheitsgarantie zu geben, warum sollten sie das nicht tun?

Sie können eine Garantie natürlich anbieten, aber die Russen werden es ablehnen. Ich glaube, dieser Krieg dreht sich ausschließlich um die NATO-Erweiterung. Wie gesagt: Der Ukraine eine Sicherheitsgarantie zu geben, käme einer NATO-Mitgliedschaft gleich.

Angenommen, es kommt zu einem Friedensabkommen ohne Sicherheitsgarantie, und dann greift Putin die Ukraine erneut an. Was dann?

Ich denke, das wäre eine Tragödie. Die Frage ist, wie man das am besten verhindern kann. Aber wird Putin die Ukraine in Zukunft angreifen? Ich glaube nicht. Ich denke, das Letzte, was Putin tun würde, nachdem dieser Krieg beendet ist, wäre, einen neuen Krieg zu beginnen.

Im Jahr 2014, nach der Annexion der Krim, sagten Sie, dass Putin das Kernland der Ukraine nicht angreifen würde. Glauben Sie, dass Sie ihn vielleicht erneut falsch einschätzen?

Nein. 2014 habe ich gesagt, dass Putin das Kernland der Ukraine nicht angreifen wird. Aber die Situation hat sich nach 2014 fundamental verändert, insbesondere nachdem Joe Biden ins Weiße Haus einzog. Biden war in der Ukraine-Frage stets ein ausgesprochener Falke. Er war es, der damit begann, die Ukraine in einem viel größeren Umfang zu bewaffnen als sein Vorgänger dies tat. Das Endergebnis war letztlich wenig überraschend: 13 Monate nach dem Amtsantritt von Biden brach der Krieg aus.

Also wurde Putin gewissermaßen zu diesem Einmarsch gezwungen?

Ja, das ist meine Ansicht. Der Westen hat Putin dazu gezwungen, einen Präventivkrieg zu beginnen, um zu verhindern, dass die Ukraine Mitglied der NATO wird.

Aber wenn die Ukraine Mitglied der NATO gewesen wäre, hätte sie ja nicht zwangsläufig eine Bedrohung für Russland dargestellt. Außer vielleicht in Putins Vorstellung.

Aber genau dieser Punkt ist entscheidend. Was Sie und ich denken und glauben, spielt keine Rolle. Die Russen haben seit 2008 unmissverständlich klargemacht, dass sie eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als eine existenzielle Bedrohung wahrnehmen werden und dies nicht zulassen können. Und man erinnere sich: Im Jahr 2008 hat die NATO angekündigt, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden soll. Putin und seine Leute haben aber schon damals deutlich gemacht, dass dies eine rote Linie überschreiten wird. Putin machte damals unmissverständlich deutlich, dass er in diesem Fall die Ukraine vernichten werde. Und das war bereits 2008.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Aussage, dass Putin etwas auf eine bestimmte Weise wahrnimmt – unabhängig davon, ob er richtig oder falsch liegt – und der Behauptung, dass Putin zum Einmarsch in ein Nachbarland gezwungen wurde?

Nun, er glaubt, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellt und gleichbedeutend ist mit einer Kriegserklärung gegen sein Land.

Die Ukraine war nie Mitglied der NATO. Und es war auch nie wirklich sicher, dass sie es jemals werden wird, nicht einmal unter der Regierung von Joe Biden. Können wir das so festhalten?

Nein, das trifft überhaupt nicht zu. Wenn man sich ansieht, was nach dem Amtsantritt von Joe Biden alles passiert ist, wird deutlich, dass Biden sich klar für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen hat. Es gab dazu sogar ein strategisches Planungsdokument.

Ich verstehe das, aber es gab seit Jahrzehnten Gespräche über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Aber es gibt keine Belege dafür, dass eine Mitgliedschaft tatsächlich erfolgen würde. Diplomatische Rhetorik bedeutet nicht immer eine konkrete Umsetzung des Gesagten.

Dieser Meinung bin ich nicht.

Aber es hat eine lange Zeit beansprucht. Sie selbst sagten, das Thema wurde 2008 ins Spiel gebracht.

Ja, 2008 wurde angekündigt, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden soll.

Genau das meine ich. 14 Jahre später wurde die Ukraine angegriffen, war aber immer noch nicht in der NATO. Wie auch immer – im vergangenen Jahr schrieben Sie: „Es gibt schlicht keine Beweise aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022, dass Putin die Ukraine einnehmen und in Russland eingliedern wollte. Die Vertreter dieser gängigen Meinung können nichts anführen, was Putin gesagt oder geschrieben haben soll, das darauf hingedeutet hätte, dass er auf die Eroberung der Ukraine aus ist.“

Das habe ich damals so gesagt, und das würde ich auch heute noch so sagen.

Im Jahr 2014 haben Sie jene belächelt, die behaupteten, dass Putin „früher oder später das Kernland der Ukraine angreifen werde“. Hat sich nicht herausgestellt, dass diese Leute letztlich Recht hatten? Warum erbieten Sie ihnen nicht die Anerkennung dafür? Das ist es, was mich verwirrt.

Es steht außer Frage, dass diese Leute Recht behalten haben. Aber, wie ich bereits erwähnt habe, gab es 2014 keine Belege dafür, dass Putin die Ukraine angreifen wird. Die Situation hat sich jedoch seither geändert. Nach 2014 begannen die USA und ihre europäischen Verbündeten damit, die Ukraine massiv aufzurüsten und ihre Streitkräfte auszubilden. Bis 2021 war die Ukraine eine viel schlagkräftigere Armee als sie es 2014 war. Sie stellte somit eine bedeutendere Bedrohung für Russland dar.

In vielen Ihrer Schriften und Interviews betonen Sie einen Artikel, den Putin am 12. Juli 2021 verfasst hat. Darin richtete er sich an die Ukrainer und schrieb: „Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: nur zu!“  Warum liegt Ihr Fokus auf diesem Artikel und dieser Passage?

Dieser Artikel wird von den meisten Vertretern der vorherrschenden Meinung als Beweis dafür angeführt, dass Putin schon vor dem 24. Februar 2022 die Ukraine einnehmen wollte. Dieser Artikel soll der Beleg dafür sein, dass Putin ein Imperialist ist.

Einverstanden. Aber im selben Artikel schrieb Putin auch: „Die heutige Ukraine ist vollständig ein Produkt der Sowjetzeit. Wir wissen und erinnern uns gut daran, dass sie zu einem erheblichen Teil auf den Gebieten des historischen Russlands entstanden ist.“ Weiter heißt es im Text: „Die Mauer, die sich in den vergangenen Jahren zwischen Russland und der Ukraine gebildet hat, zwischen den Teilen dessen, was im Wesentlichen ein gemeinsamer historischer und spiritueller Raum ist, ist in meinen Augen unser großes gemeinsames Unglück und unsere Tragödie.“

Ja, genau auf diese Passagen im Text wird verwiesen. Aber sie sind kein Beweis dafür, dass Putin die Absicht hegte, die Ukraine zu erobern, dass er überzeugt davon war, eine Eroberung sei realistisch oder dass er es tatsächlich tun würde. Er gibt lediglich seine Sicht auf die Geschichte wieder – nicht mehr und nicht weniger.

Aber sechs Monate nach dem Erscheinen des Artikels ist er in die Ukraine einmarschiert.

Natürlich ist er das. Aber das ist kein Beleg dafür, dass er von Anfang an die Absicht hatte, in die Ukraine einzumarschieren.

Warum ist dann die eine Passage, die Sie zitieren, ein Beweis für irgendetwas?

Weil sie belegt, dass er nicht nur keine Eroberungsabsichten gegenüber der Ukraine hatte, sondern dass er glaubte, die Zukunft der Ukraine liege in den Händen des ukrainischen Volkes. Es widerspricht der Behauptung, dass dieser eine Artikel belegen soll, dass Putin die Absicht hatte, die Ukraine zu erobern, zu besetzen und zu annektieren.

Also behaupten Sie, dass all die Zitate, die ich aus dem besagten Aufsatz vorgelesen habe, nichts wesentliches aussagen, aber dieser eine Satz, den Sie herausgegriffen haben, hingegen schon? Obwohl Putin sechs Monate später tatsächlich in die Ukraine einmarschiert ist?

Tatsächlich, Isaac, könnte ich Ihnen noch weitere Passagen nennen.

Ich habe kürzlich eine faszinierende Unterhaltung zwischen Ihnen und Alexander Dugin verfolgt, dem rechtskonservativen russischen Philosophen und Schriftsteller, der ein glühender Befürworter des Krieges und des russischen Nationalismus ist. Was war seine Perspektive, und warum glauben Sie, dass er damit Ihre Ansicht stützt, dass die Ursache für diesen Krieg letztlich in der NATO-Osterweiterung liegt?

Nun, ich teile mit Dugin einige grundlegende Ansichten darüber, wie die Welt funktioniert. Aber gleichzeitig habe ich auch erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit ihm. Insbesondere meine Sichtweise des Liberalismus steht im völligen Gegensatz zu seiner.

Sie sind kein fanatischer Faschist.

Nein, das bin ich nicht. Tatsächlich habe ich bereits mehrfach klargestellt, dass ich sehr glücklich darüber bin, in einem liberalen Amerika geboren zu sein, und dass ich mich dem Liberalismus voll und ganz verpflichtet fühle. Dugin hingegen nicht. Tatsache ist, dass wir uns über die Hauptursache des Ukraine-Krieges einig sind: die Absicht des Westens, die Ukraine in die NATO zu integrieren. Darauf basierte ein Großteil der Diskussion, die ich in besagter Sendung mit ihm geführt habe.

Im Gespräch mit Ihnen hielt er sich relativ zurück, zumindest empfand ich das so. Aber ich habe mir einige andere Aussagen näher angesehen, die Dugin über den Krieg in der Ukraine gemacht hat. Im März 2022 sagte er in einem Interview mit einer russischen Zeitung: „Die Belagerung Kiews ist ein Kampf um die Einheit der ostslawischen Völker und die Schaffung einer souveränen Zivilisation der russischen Welt, die sich gegen den Westen richtet.“ Er sagte außerdem: „Wir führen eine finale Militäroperation durch, eine spezielle Operation, die sich zwischen Licht und Dunkelheit in der Endzeit bewegt.“ Weiter sagte er: „Die Wahrheit und Gott sind auf unserer Seite. Wir kämpfen gegen das absolute Böse, verkörpert durch die westliche Zivilisation, durch ihre liberal-totalitäre Hegemonie und im ukrainischen Nazismus.“ Und er sagte, dass Russlands „Zivilisation erst dann vollständig sein wird, wenn wir alle Ostslawen und alle eurasischen Brüder in einem gemeinsamen großen Raum vereint haben.“ Ist es möglich, dass dies auch den Überzeugungen Putins entspricht, unabhängig davon, was er öffentlich sagt?

Viele Menschen würden sagen, dass die Äußerungen von Dugin das Denken von Putin widerspiegeln. Aber es gibt keinerlei Belege dafür, dass Dugin – wie oft behauptet wird – „Putins Gehirn“ ist. Meiner Einschätzung nach ist Putin sehr wohl in der Lage, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen und eigenständig politische Entscheidungen zu treffen. Deshalb glaube ich nicht, dass die Ansichten von Dugin zwangsläufig Einfluss auf Putin haben. Vielleicht tun sie es, aber wer weiß das schon? Allerdings stehen die Vorstellungen von Dugin darüber, was Russland tun sollte und seine Sicht auf die Welt, konträr zu den Erklärungen von Putin, weshalb Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist.

Meine Frage ist, ob Sie Dugin nicht zu sehr vertrauen. Er sagte Ihnen Dinge über die NATO-Erweiterung, aber gleichzeitig fordert er seit Jahrzehnten, die Ukraine aus imperialistischen Gründen zu erobern und in Russland eingliedern. Das lässt mich vermuten, dass Sie vielleicht ähnliche Tendenzen bei Putin nicht wahrnehmen wollen, weil diese Ihrer eigenen Sichtweise widersprechen könnten.

Nun, dann liefern Sie mir Belege dafür. Das ist hier die eigentliche Frage. Was Alexander Dugin schreibt und sagt, ist irrelevant. Sie wechseln das Thema und reden über Dugin, was weitgehend irrelevant ist.

Putin hat auch über Peter den Großen gesprochen: „Was hat Peter getan?“, fragte er im Juni 2022. „Er hat zurückerobert und die Eroberung gefestigt. Das ist es, was er getan hat.“ Weiter sagte er in Bezug auf die Rückführung von Territorien nach Russland: „Und es sieht so aus, als ob es an uns liegt, ebenfalls zurückzuerobern und das Eroberte zu festigen.“ Wischen Sie solche Äußerungen einfach beiseite?

Was er über Peter den Großen sagte, fiel in die Zeit nach Kriegsbeginn. Es war eine beiläufige Bemerkung. Das ist kein Beleg dafür, dass Putin vor dem Krieg entschlossen war, aggressiv zu handeln. Sie haben mir bis jetzt keine Belege dafür geliefert, dass Putin ein Imperialist ist und darauf aus war, die Ukraine zu erobern und in ein „Großrussland“ einzugliedern.

Aber es scheint so, als ob.

Diese Äußerungen wurden nachträglich gemacht. Sie waren eine beiläufige Bemerkung. In meiner Welt ist das kein ernstzunehmender Beleg.

Abgesehen davon, dass Putin eine Rede hält, in der er sagt: „Ich tue das aus imperialistischen Gründen“. Was würden Sie sonst als Beleg gelten lassen?

Nun, es müsste Äußerungen von ihm geben, entweder schriftlich oder mündlich, in denen er sagt, dass es wünschenswert sei, die Ukraine in ein „Großrussland“ zu integrieren, dass er es für machbar hält und dass genau das sein Ziel ist.

Es fühlt sich aber so an, als ob der Beleg für das, was Hitler mit der Tschechoslowakei vorhatte, letztlich nicht das war, was er gegenüber Chamberlain in München sagte, sondern eher für das, was er schließlich mit der Tschechoslowakei getan hat.

Nun, dieses Argument ist in der Tat nicht widerlegbar. Aber es gibt nichts, das belegen würde, dass Putin darauf aus war, die Ukraine zu erobern und in ein „Großrussland“ einzugliedern.

Aber er versucht es jetzt.

Nein, das tut er nicht. Er versucht nicht, die Ukraine in ihrer Gesamtheit zu erobern. Dafür gibt es keine Belege. Und im Übrigen hat Putin fast unmittelbar nach dem Einmarsch im Februar 2022 Friedensgespräche mit der ukrainischen Seite aufgenommen und bekräftigt: Lasst uns verhandeln.

Ich denke, es gibt eine lange Reihe von Akteuren, die kein echtes Interesse an Frieden in der Ukraine haben, aber so tun, als wollten sie Friedensverhandlungen führen. Sie schreiben oft über den Nahen Osten und kritisieren dabei ständig Israel. Ich nehme an, Sie sind sich bewusst, dass es Staaten gibt, die behaupten, an Frieden interessiert zu sein, aber in Wirklichkeit diesem Wunsch nicht nachkommen.

Alle Belege sprechen dafür, dass Putin es todernst meinte.

Sie sagten vorhin, dass die Ukraine 2021 eine größere Bedrohung für Russland darstellte, als 2014. War das Ihre Erklärung für die Sichtweise von Putin oder glauben Sie tatsächlich, dass die Ukraine 2021 eine Bedrohung für Russland war?

Mein Punkt ist, dass die Bedrohung 2021 stärker war und dass Putin diese als stärker wahrgenommen hat.

Einverstanden. Aber halten Sie die Ukraine tatsächlich für eine Bedrohung für Russland?

Ich denke, dass eine Ukraine in der NATO eine Bedrohung für Russland wäre. Die Russen argumentierten nie, dass die Ukraine an sich eine Bedrohung sei. Es ging immer nur um die Ukraine in der NATO. Da ich selbst ein Vertreter der Monroe-Doktrin bin und keine weitere Großmacht auf der westlichen Hemisphäre präsent sehen will, stimme ich Putins Logik zu.

Sie sind jemand, der über Großmachtpolitik und Einflusszonen spricht. Ich betrachte die Monroe-Doktrin, die Sie gerade als bejaht haben, als Imperialismus. Daher würde mich interessieren, warum Sie sich dermaßen gegen eine imperialistische Interpretation des russischen Verhaltens wehren.

Ich verwende das Wort „imperialistisch“ nicht, weil ich das Wort mit den großen Imperien der vergangenen Jahrhunderte in Verbindung bringe – wie dem britischen Empire, dem französischen Kolonialimperium oder dem osmanischen Reich. Das war klassische Großmachtpolitik. Und wenn jetzt die USA und ihre Verbündeten die NATO bis an die Grenzen Russlands schieben, dann wird das eine Reaktion hervorrufen.

Die Argumentation heute lautet unisono, dass Putin die Ukraine erobern wollte, um sie in ein „Großrussland“ zu integrieren, anschließend weitere Länder im Osten übernehmen wird und damit nicht nur Russland vergrößern, sondern das sowjetische Imperium in Osteuropa wiederherstellen wird. Ich halte diese Argumentation für falsch.

Ich wollte darauf hinweisen, dass Berichten zufolge Wladimir Putin im Jahr 2008 zu George W. Bush gesagt haben soll, die Ukraine sei „nicht einmal ein richtiges Land“. Aber ich nehme an, Sie haben auch dafür eine Erklärung.

Ich kenne diese Äußerung nicht. Ich müsste dem nachgehen. Bisher habe ich davon nichts gehört.

Ende der Übersetzung

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