Ein seltsamer Wahlkampf mit Hilfe von geistigen Vogelscheuchen

von Michael Obergfell (fortunanetz)

„.. mittels seiner Ansichten will der Mensch sich jeglicher Realitätskonzeption, ja seinem eigenen Leben verschließen. Denn schon zu Beginn ist das Leben ein Chaos, in dem wir verloren sind. Der Einzelne ahnt dies zwar, ist aber voller Furcht, sich dieser schrecklichen Realität gegenübergestellt zu wissen, und er versucht einen Vorhang der Phantasie, in der alles klar ist, davor zu ziehen. Es macht ihm nichts, dass seine ‚Vorstellungen‘ nicht wahr sind, er braucht sie als Schützengräben zur Verteidigung seiner Existenz, als Vogelscheuchen zur Abschreckung der Realität.“

José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen

Der Europawahlkampf des Jahres 2014 hat einen durch und durch seltsamen Charakter. In Deutschland ist diese Wahl hauptsächlich eine Stimmungswahl, denn die Kandidaten ziehen in ein Parlament, das kein Initiativrecht hat. Es kann aus eigener Vollmacht keine Gesetze auf den Weg bringen und es hat keine Haushaltshoheit über die Gelder der Staaten der EU. Es hat lediglich eine Budgethoheit über das von den Mitgliedsstaaten zugestandene Budget. Das Geld das sie erhalten, dürfen sie selbst verwalten.

Das EU-Parlament soll zwar die Bürger der EU „vertreten“, hat aber kein eigenes Recht, kann sich auf keine Verfassung berufen, es ist genau genommen gar kein richtiges Parlament, sondern eine Versammlung von Abgeordneten, die in Wahrheit wenig bis gar nichts zu sagen haben.

Trotzdem wollen alle Parteien dort hin, auch jene die Europa womöglich gar nicht wollen. Und es wollen auch jene dort hin, die zukünftig die Verantwortung dafür tragen werden, dass Europa als konkretes Projekt scheitern wird.

Schaut man sich zu dieser ohnehin schon bizarren Situation auch noch den Wahlkampf dazu an, so stellt man fest, dieser ist so bizarr wie praktisch alles, was derzeit um „Europa“ herum geschieht.

Insbesondere sieht man immer wieder die „geistigen Vogelscheuchen zur Abschreckung der Realität“, wie sie Ortega Y Gasset richtig benannt hat. Europa ist kein Staat, aber man nennt es wahrheitswidrig Europäische Union, und tut so als wäre es sogar ein Bundesstaat, auch wenn es keine Verfassung, kein ordentliches Parlament, keine einheitliche Exekutive, keine einheitliche Gesetzgebung, etc. gibt. Kurzum: Kaum ist man zum „Europawahlkampf“ aufgestanden, muss man schon lügen, und wenn man es nicht bewusst tut, dann macht man sich etwas vor.

Dass dieses Europa viele und zum Teil gravierende Probleme hat, ist wohl unbestritten. Ein ungewöhnlich deutlicher Film des ZDF spricht dieses Thema zum Teil an. In diesem Video wird festgehalten, dass noch keines der Probleme die Griechenland, Spanien, Italien, Portugal und demnächst wohl auch Frankreich, auch nur ansatzweise angegangen worden ist. Von den etablierten Parteien macht keine das „Chaos“, wie es José Ortega y Gasset nennen würde, auch nur ansatzweise zum Thema im Wahlkampf. Stattdessen nur schöne Versprechungen und leuchtende Zukunftsbilder für den Wähler. Das alles sind „geistige Vogelscheuchen“ um die schwarzen Raben der Realität zu verscheuchen.

Und wenn es einmal eine Partei doch noch wagen sollte, zum Beispiel diese ganzen Katastrophen, die sich in der Realität vor unseren Augen abspielen anzusprechen. Weder werden Modelle wie einen Nord-Euro oder gar einen Austritt bestimmter Länder aus der Eurozone auch nur anzusprechen gewagt. Aber wir haben ja noch die „Parlamentarische Gesäßgeographie“, eine besonders beliebte Vogelscheuche, um nicht mit den Realitäten in Kontakt zu kommen…

In der „Parlamentarischen Gesäßgeographie“ ist das Wichtigste, an welcher Stelle im Plenarsaal jemand seinen Hintern selbst verortet sehen will oder wo jemand anderes das Gesäß seines Gesprächspartners verortet haben will. Dabei hat man sich nicht auf oben oder unten und auch nicht auf hinten oder vorne verständigt. Schließlich macht man ja niemanden den Vorwurf ein „hinterer“ oder ein „vorderer“ zu sein. Auch wenn man jemanden als „Obensitzer“ oder als „Untensitzer“ bezeichnen wollte, würde man nur Unverständnis ernten. Auch die Himmelsrichtungen werden nicht herangezogen bei der parlamentarischen Gesäßgeographie. Wer outet sich schon als „Nordist“ oder als „Südist“ oder als „Ostist“ oder „Westist“? Zumindest ist eine solche geographische Angabe des eigenen Gesäßplatzes gänzlich unüblich und würde nicht verstanden.

Nein! Nachdem wir die geistige Lockerungsübung zur Gesäßgeographie gemacht haben, könnte es sein, dass ihnen der Begriff „Rechter“ oder „Linker“ jetzt ein Schmunzeln ins Gesicht malen könnte. Ja genau, der Gesäßgeograph hat sich für das Schema „Rechts“ oder „Links“ entschieden, wobei es schon wieder gänzlich kurios ist, dass es einen „Rechten“ und einen „Linken“ gibt, aber keinen „Mitten“. Der ist angeblich ausgefallen, bzw. dort sitzt womöglich niemand…. da aber dort definitiv immer irgend jemand seinen Hintern platt drückt, erkennen sie die geistige Vogelscheuche als solche. Die Realität des „Mitten“, der zwischen dem „Rechten“ und dem „Linken“ sitzt, findet in diesem Modell schon nicht mehr statt und so ist es kein Wunder, dass diese Vogelscheuche sich ganz hervorragend dazu eignet, seine eigene Welt fern der Realitäten zu zementieren.

Wenn man als Eurokritiker sich offen zu erkennen gibt und sagt, dass man „seine“ DM wieder haben will, ist man dann schnell ein „Rechter“ und bekommt dies in der Regel von allen gesagt. Eine Forderung nach einem Austritt der südlichen Eurostaaten aus dem Euro wird dann aber ebenfalls damit quittiert, dies sei eine Forderung derjenigen, die im Parlament „Rechts“ sitzen, wobei sofort vergessen wird, dass derzeit „rechts“ von der CDU niemand sitzt… der Austritt mancher Staaten aus dem Euro aber gar keine Forderung der „rechts“ sitzenden CDU/CSU ist. Aber geistige Vogelscheuchen haben ja die Funktion, die Realität abzuwehren, anstatt sich mit ihr zu beschäftigen! Und sie werden auf diese Art auch ihrer Aufgabe gerecht.

Wir üben uns kollektiv mit solchen Techniken in Ignoranz auf hohem Niveau und es bleibt zu hoffen, dass sich immer mehr Bürger in dieser Republik mit der Realität beschäftigen und nicht mit geistigen Vogelscheuchen…

Ich bin froh, wenn dieser ermüdende Kampf um die Realität im Rahmen der Europawahl endlich ein Ende hat,

meint
Michael Obergfell

 

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