Ein markantes Licht auf den inneren Zustand Deutschlands

von Karl Müller (zeit-fragen)

Drei Ereignisse haben in den vergangenen zwei Wochen ein markantes Licht auf den inneren Zustand Deutschlands und das Gebaren der politischen Klasse des Landes geworfen. Das erste war das Wahlergebnis von  drei Landtagswahlen am 13. März, das zweite der EU-Türkei-Gipfel vom 17. und 18. März … und das dritte die Buchmesse in Leipzig vom 17. bis 20. März.
Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt haben zu Wählerverschiebungen geführt, die es so in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht gegeben hat. Eine neue Partei, die Alternative für Deutschland (AfD), ist in allen drei Bundesländern in den Landtag eingezogen und machte in Baden-Württemberg einen Sprung von 0 auf 15,1 %, in Rheinland-Pfalz von 0 auf 12,6 % und in Sachsen-Anhalt von 0 auf 24,2 %. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt erhielt die neue Partei sogar mehr Stimmen als die SPD.

Wahlen in drei Bundesländern

Nun könnte man meinen, in einer Demokratie würden die anderen Parteien nach einem solchen Wahlergebnis darüber nachdenken, was an ihrer bisherigen Politik falsch war und wie auch dem Willen der Wähler der neuen Partei mehr entsprochen werden könnte. Weit gefehlt: Die ersten Reaktionen der anderen Parteien sahen groteskerweise so aus, dass sie sich in ihrer Politik bestätigt sahen. Das ging so weit, dass geäussert wurde, die grosse Mehrheit der Wähler habe doch insbesondere die Migrationspolitik der Bundeskanzlerin, die mit Abstrichen ja auch die Migrations­politik von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Links-Partei ist, vollauf bestätigt. Lediglich die CSU sah dies anders, aber auch hier stand das Selbstlob im Vordergrund; denn man habe ja schon seit geraumer Zeit auf die falsche Migrationspolitik der Kanzlerin hingewiesen.
Die Frage, was die Wähler der AfD wollen, spielte keine Rolle; lediglich der Appell, die verirrten und verwirrten AfD-Wähler wieder auf den Pfad der politisch korrekten Parteien zurückführen zu wollen. Schon seit geraumer Zeit wird dabei gebetsmühlenartig die Parole wiederholt, diese Bürger hätten halt «Ängste», und die müssten ihnen durch «Aufklärung» genommen werden. Dass es ernsthafte sachliche Gründe für die Abwahl der bisherigen Parteienlandschaft geben könnte, wird erst gar nicht in Betracht gezogen.

Mich erinnert das an das Ende der DDR. Damals flohen zunehmend viele Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik. Selbstkritik der DDR-Führung gab es nicht. Aber am 2. Oktober 1989 war im «Neuen Deutschland», in der Zeitung der SED, über diese Menschen zu lesen: «Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füssen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.»
Gibt es da denn noch einen prinzipiellen Unterschied zu dem, wie die Sprachrohre der Regierungspolitik und des Mantra von Angela Merkel «Wir schaffen das» ihre Kritiker gehässig zu titulieren pflegen? Das Ausmass an Perfidie ist heute sogar noch grösser als zur Endzeit der DDR – nicht zuletzt wegen des noch ungebeugten Willens zur Macht, des Einsatzes aller Arten von Machterhaltungs-Mechanismen und der Rückendeckung durch die Macht jenseits des Atlantiks. Die Polarisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft ist schon weit vorangeschritten und die Bürgerschaft des Landes in vielerlei Hinsicht atomisiert.

EU-Türkei-Gipfel

Am 18. März haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten und der türkische Ministerpräsident auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt. In den deutschen Leitmedien wurde diese Erklärung – mit nur wenigen Abstrichen – weitgehend als Erfolg gewertet, vor allem als Erfolg für Angela Merkel und ihre Politik. Es lohnt sich aber, diese Erklärung (www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/) im Detail zu studieren und gründlich über deren Folgen nachzudenken. Die Erklärung beinhaltet sehr viele neuralgische Punkte, so dass schon jetzt behauptet werden kann, dass die Probleme nicht gelöst, sondern weitere Probleme hinzukommen werden.
Zum Beispiel: Mit unseren Rechtsgrundsätzen hat diese Erklärung nur noch wenig zu tun. So heisst es in Punkt 1 der Erklärung: «Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei rückgeführt.» Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und entspricht dem geltenden Recht; denn es geht ja um «irreguläre» Migranten, und man darf fragen, warum das nicht schon bislang der Fall war. Oder anders formuliert: Warum polemisiert die deutsche Regierung ständig gegen alle, die von Rechtsbrüchen in der Migrations­politik sprechen, wo doch diese nun offen eingestanden werden? Punkt 2 der Erklärung fügt aber auch noch hinzu: «Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt.» Im Klartext heisst das: Für jeden Migranten aus Syrien, der ohne Rechtsgrundlage nach Griechenland kommt, darf ein Syrer aus einem türkischen Flüchtlingslager in die EU einreisen; aber nicht nur für eine begrenzte Zeit, sondern auf Dauer: Das Wort heisst «Neuansiedlung». Man könnte auch sagen: Die Türkei wird für den Rechtsbruch belohnt. Aber selbst, wenn man über die Verletzung des Rechts hinwegsehen und hoffen würde, die Zahl der Migranten so entscheidend verringern zu können, ist man erstaunt, wenn man Punkt 2 der Erklärung weiterliest. Der «Menschenhandel» mit der Türkei im Jahr 2016 hat eine Obergrenze: Zählt man zusammen, so kommt man auf die Zahl 72 000. Die sollen auf alle EU-Staaten – Ausnahmen sind Ungarn und die Slowakei – verteilt werden. Aber wie gross ist diese Zahl im Vergleich mit den 1,1 Millionen Migranten, die 2015 allein nach Deutschland gekommen sind … und den 60 Millionen Menschen, die unterwegs sind? Und die Regelung gilt auch nur für Syrer. Nichts ist geregelt für die anderen Länder.

«Schutzzone» wofür?

Hochgradig problematisch ist auch der letzte Punkt der Vereinbarung: «Die EU und ihre Mitgliedsstaaten werden mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sicheren Zonen leben können.» Die türkische Regierung fordert schon lange sogenannte «Schutzzonen» auf syrischem Gebiet entlang der gemeinsamen Grenze. Was sich dahinter tatsächlich verbirgt, war in den vergangenen Monaten zu beobachten: Militäraktionen der Türkei gegen die in diesem Gebiet lebenden Kurden. Wird die EU nun die Hand dazu reichen? Ganz zu schweigen davon, dass von einer Zustimmung der syrischen Regierung zu solchen «Schutzzonen» gar keine Rede ist. Soll erneut das Völkerrecht missachtet werden?
Diese wenigen Hinweise auf den problematischen Inhalt der Vereinbarung zwischen EU und Türkei mögen genügen. Viel wichtiger ist ein anderer Punkt: die alle Tatsachen ignorierende öffentliche Lobhudelei für die deutsche Kanzlerin und ihre Migrations­politik. Pro memoria: Dass die Zahl der Migranten, die nach Deutschland kommen, in den vergangenen Wochen tatsächlich gesunken ist, liegt nicht an der Politik der Bundesregierung, sondern an den Regierungen, die von Angela Merkel scharf kritisiert werden, nämlich der Balkan-Staaten, die ihre Grenzen nach Griechenland geschlossen haben.

Und: Das Problem einer «Völkerwanderung» von 60 Millionen Menschen kann in der Tat nicht von einem einzelnen Land, aber auch nicht von der EU gelöst werden. Weder eine deutsche «Willkommenskultur» noch eine «Festung Europa» bieten eine Lösung. Es geht um ein Problem, dass die Weltgemeinschaft insgesamt betrifft. Es geht um grundlegende Fragen der künftigen Weltordnung. Frieden und Gerechtigkeit? Oder weiter so mit Globalisierung, Imperialismus und Krieg – und Millionen von Migranten? Das Thema kann an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden.

Nicht nur «Café Europa» auf der Leipziger Buchmesse

Schauplatz Buchmesse in Leipzig: Unter der Überschrift «Europa 21. Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen» boten die deutsche Robert Bosch Stiftung, die Leitung der Leipziger Buchmesse und das deutsche Auswärtige Amt im extra dafür eingerichteten «Café Europa» zahlreiche Veranstaltungen zu Fragen von «Zuwanderung und Integration» an. Wer ein offenes Diskussionsforum erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Sprachrohre der politischen Klasse waren unter sich. Die Feindbilder, gegen die scharf polemisiert wurde, waren eindeutig: Alle diejenigen, die das Mantra der deutschen Kanzlerin kritisieren, alle diejenigen, die an der Idee souveräner und demokratischer Nationalstaaten festhalten … und – wen erstaunt es – Russland. Zum Arrangement passte es, dass der diesjährige «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung» an den intellektuellen Prototyp des deutschen Transatlantikers, Heinrich August Winkler, für dessen Werk «Geschichte des Westens» verliehen wurde. Da fragt man sich nach den inneren Zusammenhängen zwischen transatlantischer Bindung, Migrationspolitik und Feindbild Russland. Aber eine solche Frage wurde im «Café Europa» nicht gestellt. Da wäre man selbst zum Feind geworden.

Indes, mit ihren 2000 Ausstellern jenseits des fragwürdigen Jugendkults «Manga», rund 3500 Lesungen, Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen sowie ihren fast 200 000 Besuchern war die Buchmesse auch in diesem Jahr ein Ort der Begegnung, des Kennenlernens und des offenen und freien Gesprächs. Zensurversuche gegen ein deutsches politisches Magazin (Compact), die vor der Messe von einflussreichen Kreisen unternommen wurden, wurden von der Messe­leitung mit dem berechtigten Hinweis auf die Meinungs- und Pressefreiheit zurückgewiesen. Der Preis dafür waren einige eingeschlagene Fenster einer Messehalle und lautstarkes Gegröle vor dem Stand des besagten Magazins. Aber die überwiegende Mehrheit der Messebesucher wie auch der Bürger insgesamt möchte mit diesen Methoden nichts zu tun haben. Mehr als je zuvor schätzen die Menschen das gleichwertige, offene und freie Gespräch auf ehrlicher und fundierter Grundlage. Das ist eine Chance für das Land.

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