Ein Mann – Ein Wort! (VI)

Sechster Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Gleichheit vor dem Recht

von Susanne Kablitz

„Wo gäbe es denn in einem kollektivistischen Staate, in dem jeder Mensch in seiner nackten Existenz von der Obrigkeit abhängig ist, noch genügend selbständige Menschen, die sich die leiseste Kritik an den Selbstherrschern leisten könnten, oder Charakterhelden, die selbstmörderisch genug wären, Ihren Rücken nicht zu beugen? Man darf zweifeln, ob sich alle mit dem Kollektivismus Flirtenden genügend überlegt haben, daß sie eine Gesellschaftsverfassung anstreben, in der Charakterlosigkeit, krumme Rücken und geschlossene Lippen das unzweifelhaft sichere Ergebnis sein werden.“

Ich bemerkte die unterdrückten Tränen in den Augen meines Vaters. Diese Zeilen, die aus Wilhelm Röpkes „Civitas Humana“ aus dem Jahre 1979 stammten, machten auch auf mich einen besonderen Eindruck. War das nicht genau der Weg, auf dem wir uns befanden? Huldigten wir nicht genau diesem Staat, der uns eindrucksvoll vor Augen führte, wie selbstverständlich in diesem Land geltendes Recht permanent gebrochen wurde?

„Kleines, es fällt mir sehr schwer, mit Dir über die Gleichheit vor dem Recht zu sprechen, einfach aus dem Grund, weil sie so gut wie gar nicht existiert. Aus meiner Sicht ist die Gleichheit vor dem Recht das höchste Menschenrecht, das es gibt, denn daraus leitet sich alles andere ab. Was kann es für einen ehrenwerteren Anspruch geben, als sicher zu gehen, dass jeder, absolut jeder vor dem Recht gleich ist? Ob reich oder arm, ob schön oder hässlich, ob schwarz oder weiß, ob männlich oder weiblich, ob einfältig oder intelligent – wenn all diese Dinge keine Rolle spielten, ginge es nur darum, dass ein jeder für sein Tun oder auch für sein Unterlassen Verantwortung tragen müsste – wäre dies nicht das menschenwürdigste Recht überhaupt?

In unserer heutigen Zeiten wird dieses Recht jedoch mit Füßen getreten und an dessen Stelle sind Unmengen von Gesetzen und Verordnungen getreten. Weißt Du, schon lange bevor es Gesetze gab, existierte das Recht. Es sollte unbestechlich und nicht korrumpierbar sein. Es sollte regulierend und disziplinierend wirken und jedem Menschen Sicherheit bietet.

Ich lese Dir hierzu einige Zeilen Friedrich von Hayeks aus „Der Weg zur Knechtschaft“ vor, das in seiner ersten Auflage 1944 erschien:

“Indessen hat die Idee des Rechtsstaates in einer vagen Form mindestens seit der römischen Antike bestanden, und während der letzten Jahrhunderte ist sie niemals so bedroht gewesen wie heute. Die Vorstellung, daß es für die Machtbefugnisse des Gesetzgebers keine Grenzen gibt, ist zum Teil ein Ergebnis der Lehre von der Volkssouveränität und des Demokratismus. Sie ist durch den Glauben gefördert worden, daß der Rechtsstaat erhalten bleibt, solange alle Staatsakte in der Gesetzgebung ihre ordnungsgemäße Grundlage haben. Aber das bedeutet eine vollkommende Verkennung des Wesens des Rechtsstaates. Dieses Prinzip hat wenig zu schaffen mit der Frage, ob alle Regierungsakte juristisch legal sind.

Ein Regierungsakt kann juristisch legal sein und doch dem Rechtsstaat widersprechen. Die Tatsache, daß jemand zu einem bestimmten Vorgehen die volle legale Befugnis hat, ist keine Antwort auf die Frage, ob das Gesetz ihn zu willkürlichem Vorgehen befugt oder ob es ihm eindeutig vorschreibt, wie er vorzugehen hat. …. Wenn wir also sagen, daß in einer kollektivistischen Gesellschaft das Prinzip des Rechtsstaates nicht länger aufrechterhalten werden kann, so behaupten wir nicht, daß die Akte einer solchen Regierung nicht legal seien oder daß eine solche Gesellschaft notwendigerweise gesetzlos sein müsse. Es heißt nur, daß jetzt der Anwendung der staatlichen Zwangsgewalt keine Grenze mehr gesetzt ist und sie nicht länger durch im voraus festgelegte Normen bestimmt wird.

Das Gesetz kann alles legalisieren, auch das, was im Grunde nur reine Willkürakte sind, und wenn eine zentrale Leitung des Wirtschaftsprozesses möglich sein soll, so bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Wenn das Gesetz sagt, daß diese oder jene Behörde nach Belieben handeln darf, so ist alles, was diese Behörde tut, legal, aber ihre Akte entsprechen sicherlich nicht mehr dem Prinzip des Rechtsstaates. Durch die Ausstattung der Regierung mit unbeschränkten Vollmachten kann die größte Willkürherrschaft legal gemacht werden: das ist der Weg, auf dem eine Demokratie den denkbar vollkommensten Despotismus aufrichten kann.“

Es war erschreckend, dass Herr Hayek sein Buch zu einer Zeit schrieb als dieses Land in eine tiefe Dunkelheit gehüllt war; noch erschreckender war allerdings, dass die Parallelen zu heute so auffällig waren.

Ich erinnerte mich an den Tag vor gut einem Jahr, als wir in Österreich Urlaub machten und von dort die Abstimmung zum „Europäischen Stabilitätsmechnismus“ (ESM) verfolgten. Mein Vater hatte – entgegen seiner Vernunft – bis zum Schluss gehofft, dass ein Wunder geschehe,  die Abgeordneten den Irrsinn erkennen und dagegen stimmten würden, was – bis auf wenige Ausnahmen – natürlich nicht geschah. Wir waren die einzelnen Punkte dieses Ungetüms durchgegangen und ich konnte nicht glauben, dass nicht alle Menschen auf die Straße gingen und lauthals dagegen protestierten.

Hier wurde massiv Recht gebrochen, es wurde gegen geltende Verträge verstoßen, hier wurden Personen auf ihren Pöstchen in unlauterer Weise zulasten anderer bevorzugt und von jeder Haftung freigestellt. Es war nur ein Beispiel, wo Unrecht in seinem ganzen ekelerregenden Antlitz der Weg geebnet wurde und das alles gesetzlich legitimiert. Wieso wehrte sich so gut wie niemand?

Mein Vater war diesbezüglich deutlich desillusionierter. „Die Menschen werden seit Jahrzehnten betrogen. Sie dulden ein Geldsystem, dass sie jeden Tag ein Stück weit mehr enteignet, sie glauben Politikern, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen, sie bezichtigen andere Leute der Lüge, die ihnen vor allem unbequeme Wahrheiten sagen, sie sind davon überzeugt, dass wir in einem Rechtsstaat leben, obwohl jeden Tag Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen bevorzugt oder benachteiligt werden und nennen das Antidiskriminierung, sie lehnen alles ab, was sich anders anhört als das, was ihnen in Schulen und Universitäten eingebläut wurde, sie glauben Menschen, die einen Professorentitel im Staatsdienst tragen und missachten diejenigen, die „nur“ über einen gesunden Menschenverstand verfügen, sie glauben daran, dass der Staat ein Wohltäter ist und nehmen deren Handlungsbeauftragte tatsächlich ernst.

Es stinkt zum Himmel, dass niemand in diesem Land, wenn er der Regierung oder regierungsnahen Großkonzernen nahe steht, für sein Versagen ernsthaft bestraft wird. Es stinkt zum Himmel, dass Politiker, die fünfstellige Gehälter beziehen, sich über die Gier von Menschen echauffieren. Es stinkt zum Himmel, wenn das Recht dazu missbraucht wird, Unrecht zu legalisieren. Es stinkt zum Himmel, wenn Menschen von ihrer Verantwortung freigesprochen werden, nur weil es  „politisch-korrekt“ ist. Es stinkt zum Himmel, wenn die Schärfe des Gesetzes nur für die gilt, die keine Chance haben, sich dagegen zu wehren. Es stinkt zum Himmel, wenn das Recht für Menschen nicht gilt, die sich auf ihr hohes Ross des gesellschaftlich schicken Anspruchs auf „Mitgefühl“ setzen.“

Ich griff zu Ludwig von Mises, der mir immer weiterhalf und las dort in „Im Namen des Staates“  folgendes: „Die Gesamtheit der Regeln, die (diejenigen), die über den Staat, d.h. über die Gewaltanwendung, verfügen, im Gebrauche der Gewalt befolgen, wird Recht genannt. Doch nicht diese Regeln, nicht das Recht ist für den Staat wesentlich, sondern der Tatbestand der Gewaltanwendung und Gewaltandrohung. Ein Staat, in dem die Träger des Staatsapparates nur eine Regel befolgen, nämlich die, das durchzuführen, was ihnen gerade als zweckmäßig erscheint, ist ein Staat ohne Recht. Man nennt ihn, je nach der subjektiven Wertung, entweder reine Despotie oder reinen Wohlfahrtsstaat.“

Ich hatte in der Schule gelernt, dass der Staat gut für uns sei, dass wir ohne ihn aufgeschmissen wären. Nun erkannte ich, dass wir ihn in unserem blinden Glauben zu weit hatten gehen lassen; unser Glaube hatte dazu geführt, dass unser Verständnis von Recht nicht dessen Verständnis entsprach und dies auch gar nicht mehr notwendig zu sein schien. In den Gesprächen mit meinem Vater erkannte ich, dass vor allem die Folgen der vom Staat verursachten – rechtlich legitimierten – Wirtschaftsprogramme zu katastrophalen Folgen führen würden.

Die Mittelschicht wurde durch steigende Steuern, negative Realzinsen, Währungsentwertung und zunehmend belastendere staatliche Verordnungen zermalmt, Schuldner wurden begünstigt, Geldgeber und Sparer bestraft. Dies wurde verstärkt, indem durch die Geldentwertung der Zentralbanken der Wert der Ersparnisse, die die Mittelschicht beiseitelegen konnte, vernichtet und sich somit deren Altersvorsorge in Luft auflöste. Die Reallöhne und Gehälter stagnierten seit Jahren, weil jeder Zuwachs sofort durch höhere Abgaben und Steuern aufgefressen wurde. Die Mittelschicht wurde zwischen den niedrigeren Nettoeinkommen und den höheren Lebenshaltungskosten aufgerieben.

Die geldpolitischen Strategien der Zentralbanken und die Politik eines überbordenden Staats vernichteten die Mittelschicht, und mit ihr löste sich auch die wichtigste Bastion der Demokratie in Rauch auf. Wo war hier die Gleichheit vor dem Recht? Wo war deren gesetzlicher Schutz vor den Machenschaften der „Eliten“? Mir erschien das in höchstem Maße ungerecht zu sein.

Politiker verabschiedeten permanent Gesetze, die zulasten Dritter gingen; eine Unart, die im Privatrecht strikt verboten war. Hier schien das niemanden zu stören. Der Staat hatte es irgendwie geschafft, den Menschen zwei verschiedene Auffassungen von Recht zu vermitteln. Eines, das für ihn und seine Interessengruppen galt und eines, das für uns „normale“ Menschen gemacht war.

Ich hatte allerdings das dumme Gefühl, dass wir dabei nicht gut wegkamen.

Dies ist der sechste Teil einer Serie, die in respektvoller Erinnerung an den herausragenden österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises (1881 – 1973) in sieben Gesprächsintervallen erscheint.

Erster Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über den Liberalismus

Zweiter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Österreichische Schule der Nationalökonomie

Dritter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Freiheit und den Frieden

Vierter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Sechster Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über billiges Geld

Fünfter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über schädliche Sozialpolitik

Siebter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Feinde der Freiheit

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